„Kann es nach der Geburt zu viel Liebe geben?“ Nach einem Vortrag über frühkindliche Hirnentwicklung fragte mich dies eine Zuhörerin. Sie wollte wissen, ob sich ein zu intensives Bindungsverhalten der Mutter nachteilig auf die kindliche Entwicklung auswirken könnte. Meine spontane Antwort entsprach einem sicheren Gefühl: „Nein, das glaube ich nicht!“ Die anschließende rationale Begründung erschien mir deutlich schwächer. War die Frage doch nicht so abwegig?

Vor einem Vierteljahrhundert hat der chilenische Biologe Humberto Maturana erstmals die These vertreten, Menschen unterschieden sich von anderen Lebewesen durch ihre Fähigkeit, liebevolle Beziehungen einzugehen. In Tests zum allgemeinen Denkvermögen und Erfassen von Situationen schneiden Schimpansen ebenso gut ab wie Kleinkinder. Ihnen fehlen allerdings Sozialkompetenzen, die bei Menschen bereits sehr früh auftreten. Schon einjährige Kinder erfassen intuitiv, was jemand denkt, wünscht oder plant – und handeln entsprechend.

Menschen sind zu intensiven Bindungen fähig, die auch dann stabil bleiben können, wenn sie sich länger nicht sehen. Dieses Verhaltensmuster wird unter anderem vom Bindungshormon Oxytocin geprägt, aber auch vom Dopamin. Das durch Dopamin vermittelte Belohnungsgefühl entsteht bei hoch entwickelten Tierarten schon bevor die Leistung erbracht wurde, die zur Befriedigung führt. Was Lebewesen beglückt, ist also nicht die Erfüllung eines Bedürfnisses, sondern die Vorstellung, dass es in naher Zukunft befriedigt werde. Bei Menschen kann die Dopaminausschüttung allein durch die Vorstellung eines – nicht gegenwärtigen – geliebten Menschen aktiviert werden. Das innere Bild gibt eine Kraft, die „Berge versetzen“ kann.

Wenn neues menschliches Leben beginnt, entwickelt sich rasch eine symbiotische Beziehung, in der die Mutter das Kind als Teil ihrer selbst wahrnimmt. Im Mutterleib geschieht eine direkte leibliche Kommunikation. Schließlich beginnt das Kind intrauterin mit zarten eigenen Aktionen, wie Bewegung oder der Exspiration von Fruchtwasser. Und am Ende beginnt die Mutter, sich nach körperlicher Trennung zu sehnen. Die Symbiose wird mit der Geburt gelöst. Kind und Mutter lernen nun eine indirekte zwischenleibliche Kommunikation. Das Neugeborene benötigt dann einen Mantel bedingungsloser, absolut sicherer Beziehung, in der die Mutter es hält, stützt, stillt, versorgt, fordert und anregt, damit es zu einem eigenständigen Wesen erwachsen kann. Die engen Beziehungen zur Mutter und bald auch zu anderen nahen Menschen sorgen für eine rasche Stabilisierung der neuronalen Netzwerke. Diese frühe Phase der kindlichen Entwicklung prägt die Funktion von Nerven-, Immun- und Bewegungszellen für den Rest des Lebens. Sie ist sehr verletzlich, Störungen und Vernachlässigung können zu bleibenden Schäden führen. In dieser Lebensphase kann „zu sehr verwöhnen“ nur „weniger Liebe“ bedeuten. Zum Beispiel, indem auf Hilfsmittel wie Schnuller, Flasche oder Spieluhren zurückgriffen wird, die für schnelle Bedarfsbefriedigungen sorgen. Das wird dann die Entwicklung eigenständiger Fähigkeiten des Kindes behindern.

Auch wenn Kinder langsam beginnen, Gefühle zu verstehen, steht Liebe im Gegensatz zu „verwöhnendem“ Verhalten. Dahinter verbergen sich meist eigennützige Gründe, um eine Ablösung des Kindes zu verzögern. Eine liebevolle Beziehung dagegen verändert sich mit der zunehmend eigenständigen Entwicklung des Kindes und schränkt sie nicht ein.

Liebe ist eine Grundhaltung, die dem Gedeihen eines anderen Lebens ähnliche Bedeutung beimisst wie dem eigenen. Dazu sind andere Tiere, die auch enge Beziehungen eingehen und Empathie empfinden können, nicht in der Lage. Wissenschaftler wie der Anthropologe Bernhard Chapais nehmen daher an, dass es diese starke Bindungs- und Beziehungsfähigkeit ist, die zu den entscheidenden sozialen Fortschritten der Menschheit geführt hat. Wenn wir also wollen, dass Menschen liebevoller mit anderen und mit ihrer Umwelt umgehen, müssen wir dafür sorgen, dass Neugeborene so viel Liebe wie möglich erfahren können. Je mehr desto besser.

Dr. Helmut Jäger arbeitet als Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe am Kreiskrankenhaus Walsrode und unterrichtet an der Universität und am Tropeninstitut in Hamburg: „Liebe ist eine Grundhaltung, die dem Gedeihen eines anderen Lebens ähnliche Bedeutung beimisst wie dem eigenen.“

Zitiervorlage
Jäger H: Liebe versetzt Berge. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (2): 1

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