
Katja Baumgarten, Hebamme, Filmemacherin, Redakteurin: »Erstaunlich, dass das Kind von Fachleuten meist als passiv wahrgenommen wird. Im Geburtsvorgang wird es als ›Fruchtwalze‹ oder ›Geburtsobjekt‹ bezeichnet.«
Der Weg, der für Hebammen und ärztliche Geburtshelfer:innen aus Beckenräumen, Ebenen, Muskelschichten, Maßen, Zeitvorgaben und der Wirkung von Kräften und Widerständen besteht, ist für das Kind sein Aufbruch aus dem Inneren seiner Mutter. Der elementarste Schritt in die selbstständige Existenz – einer von vielen, die noch folgen werden. Erstaunlich, dass das Kind von Fachleuten meist als passiv wahrgenommen wird. Im Geburtsvorgang wird es beispielsweise als »Fruchtwalze« oder »Geburtsobjekt« bezeichnet. Als Persönlichkeit mit Intelligenz wird es eher selten gesehen. Was trägt es selbst dazu bei, dass die Reise gelingt auf diesem Weg, bei dem es kein Zurück gibt?
Möglich, dass die Geburt eine frühe unbewusste Erfahrung von Selbstwirksamkeit sein kann, wenn es der eigene Weg im eigenen Rhythmus ist. Oder das Gegenteil davon, wenn es gefährlich wird und von außen eingegriffen werden muss, um Schaden abzuwenden. Oder wenn es einfach keinen angemessenen Raum, keine Zeit gibt, wenn die Intimität zwischen Kind und Mutter gestört wird und kein gemeinsamer Rhythmus zustande kommt.
Über Jahrhunderte hinweg haben Geburtshelfer:innen sich Vorstellungen vom Geburtsweg gebildet und in Darstellungen vermittelt. An lebenden Menschen konnte er aber früher kaum präzise erfasst werden. Noch in Lehrbüchern aus den 1920er Jahren findet man historische Darstellungen von Momenten der Austrittsphase, die aus Gefrierschnitten von Müttern gewonnen wurden, die die Geburt nicht überlebt hatten. 1918 stellte der Geburtshelfer Kurt Warnekros (1882–1949) den Weg des Kindes durch das Becken der Mutter mit Röntgenbildern von lebenden Menschen dar (siehe Seite 16). Man mag sich nicht vorstellen, welche Störung die wiederholten Aufnahmen in der Austrittsperiode für die Gebärende bedeutet und welche Auswirkungen die Strahlenbelastung für Mutter und Kind im Dienst der Wissenschaft gehabt haben mag. Eindeutige Erkenntnisse schienen diese Aufnahmen nicht immer gebracht zu haben: Wie die Röntgenbilder für den Geburtsmechanismus genau zu interpretieren seien, wurde damals diskutiert.
Vermutlich ist es kein Zufall, dass in dieser Zeit, als die Passage des Kindes mit Röntgenstrahlen durchleuchtet werden konnte, auch die Psychoanalyse die einschneidende Bedeutung der Geburt erkannte. 1924 veröffentlichte der Freud-Schüler und Psychoanalytiker Otto Rank sein Buch »Das Trauma der Geburt«. In seinem kontrovers aufgenommenen Werk setzt er sich als erster mit der Geburt als einem lebenslang prägenden Ereignis und einer möglichen Quelle von Ängsten auseinander.
Wie viel von diesen Sichtweisen ist 100 Jahre später noch lebendig im heutigen Verständnis davon, wie das Kind seinen Geburtsweg nimmt? Hat es der inzwischen deutlich ungefährlichere Kaiserschnitt überflüssig gemacht, alle Aspekte des Geburtswegs genau zu begreifen?
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