Ich stehe am Wickeltisch vor dem kleinen Leon und bin ratlos. Die Mutter steht weinend neben mir, der Vater läuft verzweifelt herum. Leon ist zwölf Tage alt. Er wurde wegen Beckenendlage per Sectio eine Woche vor dem errechneten Termin geboren. Seine Mutter hatte in der 39. Schwangerschaftswoche einen Blasensprung ohne Wehen. Zwei Stunden danach fand die Sectio in Vollnarkose statt. Die Mutter konnte ihr Kind im Kreißsaal nicht selbst halten, weshalb Leon sofort ins Kinderzimmer verlegt wurde. An den ersten beiden Lebenstagen war er sehr unauffällig – nicht einmal bei der Blutabnahme schrie er. Am dritten Tag wurde er wegen Verdachts auf eine Infektion zur Kinderstation verlegt. Er bekam Infusionen über die Kopfvene – ohne zu protestieren. Nur trank er nicht mehr aus der Brust, sondern biss stattdessen die Mamillen blutig. Die Mutter erhielt den Rat, abzupumpen und das Kind per Flasche zu füttern. Nach zwei Tagen hatte die Mutter nur noch eine unzureichende Milchbildung. Sie stillte ab. Leon wurde immer lethargischer. Wegen erhöhter Bilirubinwerte wurde er zwölf Stunden im Inkubator mit Phototherapie behandelt. Elf Tage post partum wurde er entlassen. In der ersten Nacht zu Hause schlief er sehr ruhig in seinem Kinderzimmer – bei geschlossener Tür. Morgens verweigerte er die Flasche. Als die Mutter ihn wickeln wollte, begann er zu schreien und hörte zwei Stunden nicht mehr auf. Zur nächsten Mahlzeit war ich anwesend. Leon verweigerte zunächst die Flasche, ließ sich aber von seiner geduldigen Mutter überreden. In der folgenden Woche kam eine Verstopfung hinzu. Homöopathische Mittel schlugen nicht an.

Als Leon drei Wochen alt war, beschlossen seine Eltern, mit ihm eine Heilpraktikerin aufzusuchen, die sich auf Traumalösung spezialisiert hat. Bereits nach der ersten Sitzung schlief Leon ruhiger. Das Trauma schien gelöst. Nach drei Wochen hatten die Eltern ein „normales” Kind mit normalen Reaktionen. Auffällig ist nur noch seine extreme Schreckhaftigkeit.

Wir alle kennen ähnliche Kinder wie Leon. Wir stehen neben den Eltern und betrachten ein Kind, das schreit und schreit. Dies sind nicht generell Kinder nach objektiv traumatischen Geburtsverläufen. Wir suchen nach Erklärungen und finden in der vorherrschenden somatischen Betrachtungsweise keine. Leon hat mich noch einmal darin bestärkt, Erkenntnisse der Psychologie gleichzusetzen mit unserem erlernten Wissen. Und jedes Kind vor seinem eigenen Hintergrund, seiner eigenen Wahrnehmung und seiner subjektiven Geburtserfahrung anzunehmen. Wenn wir als Hebammen Hüterinnen der kindlichen und mütterlichen Gesundheit sein wollen, müssen wir an allen Einsatzorten darauf achten, dass weder physische noch psychische Verletzungen stattfinden.
Alles Gute für uns alle.