
Hella Wiese, Hebamme, Pflegewissenschaftlerin und freie Redakteurin der DHZ: »Ich bin überzeugt, dass ein breites Verständnis von Evidenz unser Berufsbild klären und festigen könnte.«
Vor etwa 25 Jahren habe ich zum ersten Mal vom evidenzbasierten Arbeiten als Hebamme gehört. Evidenz, das heiße so viel wie »auf Erfahrung beruhend«. So ist es damals bei mir hängen geblieben. Die Jahre gingen ins Land und meine Irritation zum Thema wurden immer größer. Und meine Laune wurde immer schlechter, wenn es um evidenzbasierte Hebammenarbeit ging. Bei meinen Kolleginnen konnte ich Ähnliches beobachten. »Wir sollen evidenzbasiert arbeiten? Also tun wir gar nichts – evidenzbasiert. Weil es zu dem, was wir tun, keine Evidenz gibt«, so beispielsweise der Kommentar einer Kollegin.
Inzwischen habe ich verstanden, dass sowohl meine Kollegin als auch ich selbst den Begriff »Evidenz« nicht durchdrungen und das Konzept des evidenzbasierten Handels nicht ganz verstanden hatten. Seit der Überführung der gesetzlichen Regelung zur Hebammenhilfe aus der Reichsversicherungsordnung in das fünfte Sozialgesetzbuch im Jahr 2007 ist es keine Entscheidung der einzelnen Hebamme mehr, ob sie evidenzbasiert arbeitet oder nicht.
Und so ist dieses Titelthema aus der Motivation entstanden, nach knapp 20 Jahren neu zu sortieren und Licht in das Dunkel der Begrifflichkeiten und Konzepte zu bringen. Ich hoffe, unsere Leser:innen damit ermutigen zu können, sich mit dem Evidenzbegriff auseinanderzusetzen und sich seiner zu ermächtigen. Inzwischen bin ich überzeugt, dass ein breites Verständnis von Evidenz unser Berufsbild klären und festigen könnte. Denn egal aus welcher Perspektive wir uns dem Begriff annähern: Um als Hebamme evidenzbasiert arbeiten zu können, braucht es nicht nur ein Verständnis der aktuellen Studienlage. Um evidenzbasiert zu arbeiten, braucht die Hebamme auch die Fähigkeit und den Raum, mit den Frauen in Beziehung zu treten, einem zentralen Aspekt der internen Evidenz. Und sie braucht die Anerkennung »ihres leiblichen Seins als Ich-Evidenz«, wie es in dieser Ausgabe beschrieben wird. Dazu sind in der Geburtshilfe Zeit und eine ausgewogene berufliche Beanspruchung sowie angemessene Ruhephasen für Hebammen notwendig.
Die Auseinandersetzung mit dem Konzept des evidenzbasierten Handels zeigt schnell, dass es hier um ein frauen- und familienzentriertes Konzept geht, das im Grundgedanken schon immer von Hebammen angestrebt und praktiziert wird. Und es wird deutlich, dass die aktuellen klinischen Versorgungsstrukturen für Geburtshilfe ein evidenzbasiertes Handeln für Hebammen unmöglich machen. Es ist also an der Zeit, nicht nur die Hebammen per Gesetz zu evidenzbasiertem Arbeiten zu verpflichten, sondern die Betreiber von Kliniken, die geburtshilfliche Versorgungsstrukturen vorhalten, in die Verantwortung zu nehmen, evidenzbasiertes Handeln von Hebammen zu ermöglichen. Denn dies scheint momentan für Hebammen nur außerhalb klinischer Versorgungsstrukturen und in der Eins-zu-eins-Betreuung unter der Geburt möglich zu sein.