Laura Meschede, freie Journalistin und Feministin: „Wenn wir möchten, dass das Soziale wieder einen Stellenwert bekommt, dann müssen wir uns dafür einsetzen. Gemeinsam.“ Foto: privat

Wir haben ein Problem, und das heißt: „Aber immerhin”. Den Haushalt erledigen immer noch hauptsächlich Frauen? „Aber immerhin haben wir eine Bundeskanzlerin.” In „Frauenberufen” liegt die Bezahlung weit unter dem Durchschnitt? „Aber immerhin gibt es Stipendien für junge Ingenieurinnen.” Kindergärtnerinnen verdienen so schlecht, dass sie sich keinen eigenen Nachwuchs mehr leisten können? „Aber immerhin kann man heutzutage mit sieben Kindern Verteidigungsministerin werden.”

„Aber immerhin”, sagt dabei nichts anderes als: „Selber schuld.” Andere haben es ja auch geschafft. Durch die „Aber immerhin”-Brille sehen strukturelle Probleme plötzlich aus wie individuelles Versagen. Oder einfach wie Pech. Und wenn ein Problem nicht strukturell ist, sondern persönlich, dann muss man auch im Großen nichts verändern. Dann reicht es auch, sich persönlich ein bisschen mehr anzustrengen. Und sonst alles zu lassen, wie es ist.

Ich glaube, wenn wir die Probleme unserer Zeit in den Griff kriegen wollen, müssen wir aufhören, sie einzeln zu bedauern. Und anfangen, sie gemeinsam zu bekämpfen. Wir als Gesellschaft – und vor allem wir als Frauen.

Denn die Probleme der Hebammen, der Pflegerinnen, der Alleinerziehenden und der Kindergärtnerinnen sind keine individuellen Probleme. Sondern strukturelle. Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der „das Soziale” keinen Wert hat. Das betrifft vor allem Frauen. Und das muss sich ändern.

Ich möchte lieber in einer Welt leben, in der die Zahl der Kindergärten den Wert einer Gesellschaft definiert, als in einer, in der das die Zahl der verkauften Autos ist.

Wenn man weltweit die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen vergleicht, dann verdienen Frauen in diesem Jahr so viel weniger, dass sie bis zum 18. März ohne Bezahlung arbeiten. Der Grund dafür, das sagen Statistiken, liegt hauptsächlich darin, dass Frauen häufiger als Männer in schlechtbezahlten „sozialen Berufen” arbeiten. Oder sich aus „sozialen Gründen” vom Arbeiten abhalten lassen: Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gaben im Jahr 2011 mehr als die Hälfte aller teilzeitbeschäftigten Frauen an, familiäre oder soziale Verpflichtungen seien der Grund für ihre Teilzeitarbeit. Bei den Männern waren es nur sieben Prozent.

Das „Aber immerhin”-Prinzip sagt den Frauen: Wenn du mehr verdienen willst, hör auf, dich um das Soziale zu kümmern. Werd Ingenieurin. Oder Bundeskanzlerin.

Das kann eine individuelle Lösung sein. Aber es löst das Problem nicht. Denn solange soziale Berufe schlecht bezahlt werden, wird es früher oder später einen Pflegenotstand geben. Und überarbeitete Hebammen, gestresste Pfleger und marode Kindergärten betreffen die gesamte Gesellschaft. Genauso wie die Geringschätzung von Hausarbeit. Selbst, wenn die Männer sich irgendwann aufschwingen sollten, tatsächlich die Hälfte aller Hausarbeiten zu verrichten, bliebe es ein Problem, wenn diese Arbeit so gering geschätzt wird. Ich finde, „Mehrbelastung” ist kein schönes Wort für Familie.

Aber es gibt kein Naturgesetz, das besagt: Soziale Arbeit ist wenig wert. Eine Gesellschaft entscheidet selbst über ihre Ziele. Welches das Wichtigste ist, darüber haben sich viele große Philosophen gestritten. Aber „Wirtschaftswachstum” hat meines Wissens keiner von ihnen gesagt.

Wenn wir möchten, dass das Soziale wieder einen Stellenwert bekommt, dann müssen wir uns dafür einsetzen. Gemeinsam.

2016 haben in Polen vor allem die Proteste zehntausender Frauen dazu geführt, dass die Regierung ihr umstrittenes Abtreibungsverbot zurückgenommen hat. Anfang 2017 haben in den USA eine Million Frauen gegen den amerikanischen Präsidenten Trump protestiert.

Die Zeichen stehen gut für eine neue Frauenbewegung. Auch in Deutschland. Beginnen wir sie. Jetzt!

Zitiervorlage
Meschede L: Das “Aber immerhin”-Problem überwinden. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (4): 1

Jetzt weiterlesen mit DHZ+

dhz-badge 1,- Euro für 4 Wochen

  • freier Zugriff auf alle DHZ+-Artikel auf staudeverlag.de/dhz
  • inkl. aller ePaper-Ausgaben der DHZ und der Elterninfos
  • Zugriff auf das DHZ-Archiv auf dhz.de
  • jederzeit kündbar