
Sakrale Schulterdystokie durch Fixation der hinteren Schulter am Promontorium: Aufgrund des Höhenstands ist der Kopf noch nicht geboren. Die klassischen Zeichen der ventralen Schulter - dystokie mit Fixation an der Symphyse – wie das Turtle-Sign – können so nicht auftreten. Die sakrale Schulterdystokie sub partu kann weder bemerkt, noch als solche dokumentiert werden. Illustration: © Birgit Heimbach
Wird ein Kind mit einer Plexusparese geboren, bringt das die Geburtshelfenden in eine angespannte Situation: Wie hat das geburtshilfliche Team gehandelt? Wurden alle Handgriffe korrekt ausgeführt? Die wenigsten wissen dabei, dass die Lähmung oftmals nicht die Folge einer Schulterdystokie ist.
Ärztliches Handeln orientiert sich stets an systematisch erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnissen, strukturierter Empirie, allgemein geübter Praxis sowie persönlicher Erfahrung, angewendet auf einen konkreten Einzelfall. Je größer der kollektive Erfahrungsschatz, je besser die aus ihm ableitbare Evidenz, desto kleiner wird der Spielraum des persönlichen Ermessens.
War noch in den 1980er Jahren die Dokumentation einer schweren oder erschwerten Schulterentwicklung Gang und Gäbe, wurde diese in den 1990ern zum Einfallstor für die Haftung von Ärzt:innen, die, den hohen Schultergeradstand verkennend, am Kopf gezogen und gedreht haben mussten und so bei korrektem Vorgehen vermeidbar den Plexusschaden verursacht hatten. Als Gegenreaktionen erschienen daraufhin unter anderem von der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) stratifizierte Handlungsanweisungen (AGMedR, 2010), die als Standards in den Schubladen der Kreißsäle verwahrt wurden. Sie erlangten als Dokument ständiger Übung Beweiskraft, besonders dann, wenn sie mit der Unterschrift des Hauptbeteiligten in einem entsprechenden Verfahren versehen waren.
Eine Reaktion der mittlerweile unter anderem auf die konnatale Plexusparese spezialisierten Kläger:innenvertreter:innen blieb nicht aus. Die Anforderungen an die Dokumentation wurden sukzessive in die Höhe argumentiert: Mit welchen Fingern welchen Armes wurde wann und wo eingegangen, um wen, in welche Richtung, wie weit zu bewegen? Und vor allem: mit welchem Ergebnis (Schwenzer & Bahm, 2016)?
Dass diese Anforderungen an die ärztliche Dokumentation überzogen und keineswegs mehr der Weiterbehandlung somit auch medizinischen Zwecken dienend waren, ist leicht erkennbar. Und so wurde die Dokumentation der Manualhilfen bei der Schulterdystokie zu einer regelhaften Ausnahme des in allen anderen Fällen vertretenen Grundsatzes, die Dokumentation diene nicht der Abwehr von Haftungsansprüchen, sondern ausschließlich medizinischen Zwecken.
Doch wie sieht es in Fällen aus, in denen ein Plexusschaden konnatal vorhanden war, ohne dass eine Schulterdystokie und eine entsprechende Intervention des Geburtshelfers vorlagen? Mit dieser Frage haben sich immer wieder Beobachtungen und Einzelmeinungen auseinandergesetzt, ohne bisher gebührend Gehör gefunden zu haben. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diesem Defizit abzuhelfen, nachdem auch die US-amerikanische Fachgesellschaft, das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) Anlass gesehen hat, sich diesem Thema ausführlich in einer 129-seitigen Monografie zu widmen (AGOG, 2014).
Wie entsteht eine Plexusparese?
Nach der Feststellung statistischer Zusammenhänge zwischen Schulterdystokie und Plexusparesen hatten sich Forschung und Literatur soweit einengend mit dem Thema befasst, dass aus den Augen geraten ist, dass bei weitem nicht alle Fälle mit Plexusparese auf diese Weise erklärbar waren und sind.
Boyd und Kolleg:innen publizierten 1983, dass in ihrer Studie in 7 von 15 Fällen (47 %) mit Plexusparese keine Schulterdystokie aufgetreten war. Bei Levine (1984) war dies in 8 von 36 (22 %), bei Jennet und Team (1992) in 17 von 39 (44 %) und bei Gherman und Forschungsteam (1998) in 17 von 30 Fällen (57 %) feststellbar. In einem erheblichen Anteil der Betroffenen war der Plexusparese also keine Schulterdystokie vorausgegangen. In einer Zusammenstellung mehrerer Studien kamen Gherman und Team auf 663 von 1149 Fällen – also 55,1 %.
Diese Zahlen weckten Zweifel an dem mittlerweile eingespielten Automatismus, eine Plexusparese müsse auf Basis einer Schulterdystokie entstanden sein, möglichst dank unangebrachter fehlerhafter Maßnahmen (Schwenzer & Bahm, 2016). Und falls dies nicht passend dokumentiert worden war, musste eben falsch festgehalten worden sein. Interessant war dabei auch die Feststellung, dass die Erfahrung des Geburtshelfers oder der Geburtshelferin nicht den erwarteten Einfluss auf die Statistik hatte (Acker et al., 1988; Jennett et al., 1992; Walle & Hartikainen-Sorri, 1993-; Gherman et al., 1998).
Weiterhin wenig passend zu den ursprünglichen Annahmen war ein nicht unerheblicher Anteil sehr kurzer Austrittsphasen (< 15 min) beispielsweise bei Acker 1988 in 32 %. Bei Gherman war die sehr kurze Austrittsphase in 10 von 17 Fällen (59 %) ohne Dystokie im Gegensatz zu 5 von 23 (22 %) mit Dystokie signifikant häufiger zu beobachten. Diese Befunde gehen einher mit der Feststellung, dass häufiger Mehr- und Vielgebärende von Plexusparesen ohne Schulterdystokie betroffen sind. Bei Boyd waren es 13 von 15 (87 %), bei Levine 17 von 36 (47 %), bei Acker 14 von 22 (64 %) und bei Gherman 31 von 40 (78 %). Dabei waren es ohne Dystokie 15 von 17 (88 %) und mit Dystokie 16 von 23 (70 %).
Nicht zuletzt lässt sich feststellen, dass nicht immer nur der Plexus der ventralen Schulter, sondern auch der hintere Plexus geschädigt war (Hankins & Clark, 1993). Das stellte schließlich das Eingangsmantra infrage (Ouzounian et al., 1997) und führte zu differenzierenden Analysen und neuen Konzepten zur Entstehung und Vermeidung konnataler Plexusschäden.
So fiel auf, dass der hintere Plexus in Fällen ohne Schulterdystokie gehäuft betroffen war. Bei Gherman war in 10 von 15 Fällen (67 %) ohne Schulterdystokie der hintere Arm betroffen, während dies nach einer Dystokie in 4 von 21 Fällen (19 %) beobachtet wurde. Es gab somit hinreichend Gründe anzunehmen, dass die hintere Plexusparese durch eine Fixation der hinteren Schulter am Promontorium verursacht wird (siehe Abbildung). Diese Fixation entspricht einer hinteren in der Folge so genannten sakralen Schulterdystokie. Sie wird deutlich vor Geburt des Kopfes und nahezu ausschließlich, sieht man von nicht indizierter vorzeitiger Kristellerhilfe ab, durch endogene Kräfte ausgelöst, und präsentiert sich deshalb gewöhnlich nicht als vordere symphysäre Schulterdystokie. Bei dieser imponiert angesichts eines Abstands von etwa 5 cm von der Symphyse zur Vulva der Kopf schon als geboren – im Gegensatz zum längeren Weg von 13 cm vom Promontorium bei der sakralen Schulterdystokie (Sandmire & DeMott 2002).
Schulterdystokie zu sehr im Fokus
Eine Schulterdystokie erhöht das Risiko für eine Plexusparese 100-fach und ist damit ein zentraler Risikofaktor. Sie ist aber nicht die alleinige Ursache. Etwa 50 % der Plexusparesen treten ohne vorherige Schulterdystokie oder geburtshilfliche Manipulationen auf. Sehr selten, nämlich in 1 bis 4 % aller Fälle finden sich Plexusparesen in Zusammenhang mit Kaiserschnittoperationen und hier vermehrt bei notfallmäßig durchgeführten Sectiones.
Wichtigster fetaler Risikofaktor ist eine Makrosomie, insbesondere in Zusammenhang mit einem Diabetes mellitus. Insulin verändert die Körperkomposition mit breiten Schultern und zusätzlich bezüglich ihrer rotatorischen Anpassungsfähigkeit sub partu.
Zu den assoziierten Konstellationen gehören: Geburtseinleitung, Missverhältnis zwischen Fetus und Becken, persistierende dorsoposteriore Einstellung, protrahierte Austrittsperiode einerseits, aber auch sehr schnelle Austrittsperiode andererseits, vaginal-operative Geburt, und nicht zuletzt eine Geburt mit Plexusparese in der Anamnese. Diese Befunde können in unterschiedlichen Kombinationen auftreten und den Eindruck eines erhöhten Risikos erwecken. De facto haben aber nahezu alle keinen prognostisch nutzbaren Einfluss auf die Entstehung einer Plexusparese. In der Mehrzahl der Fälle mit Erb-Duchenne Problemen ist der Befund zwischen 70 % bis 95 % der Fälle transient und nach einem Jahr nicht mehr nachweisbar. Bei Fällen mit Klumpkescher Lähmung liegt die Rate spontaner Remissionen deutlich niedriger bei 40 %.
Der Umstand, dass, wie gezeigt, fast die Hälfte der Fälle mit Plexusparese nicht mit einer (symphysären) Schulterdystokie assoziiert sind und die Beobachtung, dass allein endogene Kräfte im Zusammenspiel mit Widerständen zu erheblichen Plexusverletzungen führen können, ist zumindest im deutschen Sprachraum noch nicht hinreichend in den Blick genommen worden. Mechanismen wie Rotationsbehinderungen oder bei Fixation der hinteren Schulter am Promontorium wie auch Myome, Septen oder Uterusfehlbildungen wurden hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Pathogenese der konnatalen Plexusparese bisher nicht ernsthaft diskutiert.
Dabei ist vor allem das Ausmaß der allein wehenbedingt auftretenden Kraftvektoren in ihrem Schädigungspotenzial unterschätzt worden. Differenzierte Vorstellungen von der Geburtsmechanik der Schulterbreite vor Erreichen der Symphyse sind unberücksichtigt geblieben.
Zwei Drittel der Plexusparesen ohne Schulterdystokie betreffen den hinteren Arm. Das sind 39 % aller Plexusparesen (Gherman 1998). Pathophysiologisch erklärbar ist dies so: Noch weit vor Geburt des Kopfes sitzt die hintere Schulter dem Promontorium auf, während Wehen den Kopf in den Geburtskanal drängen und dabei den sakralen Plexus überdehnen können, ehe die Schulter durch endogene Kräfte vom Promontorium gelöst wird. Nach Befreiung aus dieser misslichen Situation kann die Geburt zügig zu Ende gebracht werden, ohne dass irgendein geburtshilflicher Eingriff erfolgt oder an eine Schulterdystokie mit Beteiligung der Symphyse zu denken wäre. Geschweige denn, dass diese sakrale Schulterdystokie im Rahmen der geburtshilflichen Untersuchung hätte erkannt werden können. Falls die spontane Lösung nicht erfolgt, würde ein Kaiserschnitt durchgeführt; und auch hier wäre der überraschend vorgefundene sakrale Plexusschaden dadurch erklärbar, dass der Schaden intrauterin sub partu »spontan« bereits vor dem operativen Eingriff entstanden war.
Über die spontan wirkenden Wehenkräfte und deren Auswirkungen in Fällen mit signifikantem Widerstand, beispielsweise durch eine eingeklemmte Schulter, gibt es diverse modellhafte Analysen, die aufweisen, dass endogene Kräfte sehr wohl erhebliche Verletzungen beim Fetus verursachen können (Grimm, 2016). Sie können dabei aber auch zu spontaner Befreiung aus der jeweiligen misslichen Situation mit sakraler oder ventraler Einklemmung führen, so dass im Fall der ventralen Problematik eine Schulterdystokie gar nicht erst handlungsrelevant bemerkt würde. Dies ist eine pathophysiologische Erklärung für die ventrale Plexusparese ohne Schulterdystokie.
Ungeachtet aller akademischen Hypothesen ist davon auszugehen, dass in den meisten Fällen mit konnataler Plexusparese die tatsächlich verursachenden Faktoren weder ex anteriore noch ex posteriore identifiziert werden können. Damit ergeben sich insbesondere für die Praxis der Beurteilung in Arzthaftungsverfahren zur konnatalen Plexusparese einige Fragen und Antworten.
Gibt es konnatale Plexusparesen ohne Schulterdystokie?
Ein Blick in die Literatur lässt diese Frage mit einem einfachen und klaren Ja beantworten. 67,7% der konnatalen Plexusparesen werden ohne einen Hinweis auf eine Schulterdystokie diagnostiziert, 39 % betreffen nicht den typischerweise auf der Symphyse arretierten vorderen, sondern den geburtsmechanisch hinteren Arm (Gherman et al., 1998). Beschränkt man sich in der Analyse auf die bleibenden Plexusschäden, so sind nach einer Studie von Towner et al. (2007) immerhin 10 % nicht im Zusammenhang mit einer Schulterdystokie aufgetreten. Auch das ACOG (2017/2020) konstatiert, dass die Diagnose einer konnatalen Plexusparese nicht den Schluss auf eine vorangegangene Schulterdystokie zulässt (ACOG, 2014; Gilbert et al., 1999).
Damit steht fest, dass andere geburtsmechanische Pathologien für einen Plexusschaden ursächlich sein können und vor allem, dass endogene Kräfte ausreichen, einen solchen zu verursachen, wie auch mathematische Modelle nahelegen, die von einer 4- bis 9-fach höheren Krafteinwirkung durch Wehentätigkeit im Vergleich zu exogenen Zugkräften ausgehen (Gonik et al., 2000).
Insbesondere die Arretierung der hinteren Schulter am Promontorium (Doumouchtsis & Arulkumaran, 2010) stellt eine dem hohen Schultergeradstand analoge Konstellation dar, welche im allgemeinen wegen des Höhenstandes der Schulter auf dem Promontorium – 13 cm oberhalb der Vulva – klinisch nicht beobachtbar vor der klassischen ventralen Schulterdystokie auftritt. Diese entspricht in ihren Grundzügen demselben Mechanismus, ohne geeignete Manöver des Geburtshelfers zu veranlassen. Es handelt sich daher um zwei mechanisch gleich wirkende, klinisch jedoch gänzlich unterschiedlich zu bewertende Entitäten der dystokie-bedingten Armplexusläsion, die des hinteren Armes als Folge einer sakralen Schulterdystokie und die des zumeist vorderen als Folge der klassischen symphysären Schulterdystokie. Allenfalls bei Lösungsversuchen der hinteren Schulter beziehungsweise des hinteren Armes kann sie zu dorsalen Plexusverletzungen führen.
Gibt es konnatale Plexusparesen ohne Zutun durch Geburtshelfer:innen?
Auch diese Frage kann nach dem derzeitigen Stand der Literatur eindeutig bejaht werden. Nicht nur die Möglichkeit einer Schädigung des Schulter-Arm-Plexus vor Erreichen der vorderen Beckeneingangsebene durch die Schulter des Feten weist darauf hin, dass endogene Kräfte sehr wohl in der Lage sind, einen Plexusschaden herbeizuführen. Hinzu kommt auch die Beobachtung, dass die kunstgerechte Lösung des hohen Schultergeradstandes durch Drehung ohne Zug und Lateralflexion eine Plexusläsion nicht sicher zu vermeiden imstande ist. Letzteres ist noch Grundlage der in Arzthaftungsverfahren allgemein anerkannten Regel, dass eine konnatale Plexusparese nicht beweisend ist für eine fehlerhafte Lösung einer Schulterdystokie.
Eine gewisse Brisanz enthält die mitunter vertretene Auffassung, höhergradige Plexusausrisse könnten ausschließlich durch unsachgemäßes Vorgehen des Geburtshelfers verursacht sein und somit indikativ für eine Haftung werden. Eine solche Vereinfachung der komplexen Vorgänge auf eine rein mechanistische Betrachtung wird allerdings den zugrunde liegenden Vorgängen nicht gerecht. Wie bereits von Alfonso (2011) ausgeführt und auch von Wieg, Vetter und Teichmann publiziert (2013), geht es nicht nur um reine Druck- und Zugkräfte, sondern es sind auch deren Vektoren, der zeitliche Aufbau der Kräfte sowie Zustand und Konstitution des Feten zu berücksichtigen. Letzterer setzt den auf ihn einwirkenden Zügen und Drücken mehr oder weniger wirksame Rückstellungskräfte entgegen.
All dies ist bis heute nicht hinreichend analysiert und beschrieben, verbietet aber gleichwohl die Substitution komplexer Zusammenhänge durch simplistische und darüber hinaus dogmatische Hypothesen.
Ventrale Problematik
Eine Überdehnung des ventralen/vorderen Plexus
brachialis durch Fixation der nicht einrotierten vorderen Schulter an der Symphyse ist die Ausgangssituation der ventralen Problematik.
- Wehen können zu einer erheblichen Distanzierung von Kopf und Schulter führen, wenn der Kopf nach caudal gepresst wird, während die Schulter fixiert ist, so dass es keiner zusätzlichen Maßnahme geburtshilflicher Art für die Entstehung eines Schadens bedarf.
- Geburtshilfliche Maßnahmen, insbesondere Zug- und Rotationsbewegungen mit Wirkung auf den Halsbereich, können zusätzlich zu einer Überdehnung des Plexus beitragen.
- Zusätzliche Befunde, die allerdings keine brauchbare Vorhersage erlauben: Makrosomie, Diabetes mellitus, vaginal-operative Entbindung
Sakrale Problematik
Eine Überdehnung des sakralen/hinteren Plexus brachialis durch Fixation der nicht einrotierten hinteren Schulter über dem Promontorium ist die Ausgangssituation der sakralen Problematik.
- Wie bei der ventralen Problematik können Wehen zu einer erheblichen Distanzierung von Kopf und Schulter führen, wenn der Fetus nach caudal gepresst wird, während die hintere Schulter fixiert ist. Es gibt bisher keine Studie, die prospektiv sakrale Schulterdystokien analysiert hat. Man darf davon ausgehen, dass die Lösung der Schulter vom Promontorium durch kräftige Wehen und eventuell Umlagerung erfolgen kann, nachdem ein Überdehnungsschaden bereits gesetzt wurde. Anschließend kann die Geburt sehr zügig verlaufen.
- Gezielte geburtshilfliche Maßnahmen werden mangels Kenntnis der kritischen Situation nicht eingesetzt.
- Irritierend können die Zusammenhänge dann werden, wenn konsekutiv eine zusätzliche symphysäre Schulterdystokie auftritt, die in Einzelfällen nicht als schwer lösbar beschrieben wurde.
- Zusätzliche Befunde: Mehr- und Vielgebärende, Protrahierte AP oder sehr schnelle AP nach Lösung der Schulter vom Promontorium.
Kann der Eintritt von Schulterdystokie und Plexusparese prognostiziert werden?
Nein, die heute allgemein für relevant gehaltenen Risikofaktoren, sind für eine verlässliche Vorhersage der allein relevanten Plexusparese gänzlich ungeeignet. Diese Auffassung wird jedenfalls vom ACOG vertreten, während mit Blick auf die symphysäre Schulterdystokie im deutschen Sprachraum Kindsgewicht, mütterlicher Diabetes und Schulterdystokie in der Anamnese als prognostische Faktoren mit allerdings geringer Evidenz angesehen werden.
Welche Anforderungen müssen an die Dokumentation einer Geburt mit unerwartetem Ausgang gestellt werden?
Die Dokumentation einer Behandlung gehört zu den sich aus dem Behandlungsvertrag ergebenden Berufspflichten des Arztes oder der Ärztin und dient in erster Linie der Sicherung der Therapie beziehungsweise der weiteren Behandlung, mithin medizinischen Zwecken. Insoweit bedarf es einer medizinisch-ärztlichen Beurteilung, welche Umstände dokumentiert werden müssen und welche nicht.
Darüber hinaus kann die Dokumentation auch als Grundlage von Abrechnung, Qualitätskontrolle und als Tätigkeitsnachweis genutzt werden und damit nur indirekt oder gar nicht dem Interesse des Patienten oder der Patientin dienen. Diese Gesichtspunkte sind jedoch für die Haftungsverfahren im Allgemeinen irrelevant.
Ganz gewiss ist nicht Zweck der ärztlichen Dokumentation die Abwehr von Haftungsansprüchen, wenngleich die gute Dokumentation einer standardgemäßen Behandlung am besten vor unberechtigten Forderungen schützt. Was also muss nach Eintritt einer Schulterdystokie mit oder ohne erkennbaren Plexusschaden dokumentiert werden und was bei einem konnatalen Plexusschaden ohne erkennbare Schulterdystokie? Im ersten Falle, dem des hohen Schultergeradstandes, ist wie in jedem Operationsbericht die Ausgangslage zu beschreiben (Turtle-Phänomen, Schulterbreite im geraden/schrägen Durchmesser, Stellung des Rückens, Wehentätigkeit), sodann die zeitliche Abfolge der getroffenen Maßnahmen, deren Ausführende und Erfolg. Hierbei ist es medizinisch ausreichend, im Falle der regelhaften Durchführung die Maßnahme als solche oder nach deren Autor unter Nennung der Zahl der Anwendungen zu dokumentieren (McRoberts, Rubin, Woods, Gaskin, Zavanelli, Vierfüßlerstand, Entwicklung des hinteren Armes, Claviculafrakturierung, Symphyseotomie, Episiotomie, Beendigung der Wehenstimulation, Bolustokolyse u.a.). Dies folgt der Logik, dass bestimmte Maßnahmen auch spezifische Risiken für Mutter oder Kind implizieren, deren Verwirklichung in Kenntnis der stattgehabten Therapie gezielt diagnostisch überprüft werden kann, so kindliche Humerus- oder Claviculafrakturen, mütterliche Weichteilverletzungen oder Uterusatonien. Für eine häufig in Arzthaftungsverfahren geforderte allzu detaillierte Information gibt es keine medizinische Begründung. Sehr wohl aber ist es ratsam, bei vermuteter oder festgestellter Komplikation auf Seiten von Mutter oder Kind die Plausibilität der eigenen Dokumentation wie auch die wesentliche Übereinstimmung mit der Dokumentation anderer Beteiligter zu überprüfen. Was nicht getan wurde, ist auch nicht zu notieren, ein dem Augenschein nach physiologischer Verlauf einer vaginalen Geburt ist ebenfalls nicht anders zu dokumentieren, ungeachtet einer post partum festgestellten Plexusparese des Neugeborenen.
Hilfreich ist allenfalls dann die Bemerkung, dass sich kein Hinweis auf eine Schulterdystokie oder eine »erschwerte Schulterentwicklung« ergeben habe. Gleichwohl birgt der Gebrauch letzteren Begriffes wie auch derjenigen der »schweren Schulterentwicklung« stets das Risiko, als verkannter hoher Schultergeradstand fehlinterpretiert zu werden. Eine unerwartete kindliche Plexusverletzung ohne vorausgegangene Schulterdystokie stellt demnach keinen Umstand dar, der mit einer rechtfertigenden Dokumentation beantwortet werden sollte.
Die Schnittstelle zwischen Medizin und Recht ist im Arzthaftungsverfahren der/die Sachverständige. Überall dort, wo medizinische Erkenntnisse
(weitgehend) unbestritten sind, läuft dieser Konsum- und Subsumtionsprozess über den/die Sachverständigen unaufgeregt ab. Nur dort, wo medizinische Erkenntnisse und deren Bewertung schon in der medizinischen Wissenschaft
umstritten sind, gibt es forensische Probleme. Der/die zur Entscheidung berufene Richter:in muss in diesen Fällen darauf vertrauen, dass der/die medizinische Sachverständige Streitfragen und Unsicherheiten bei der Bewertung des Sachverhalts als solche aufdeckt und erklärt; andernfalls hingen Zufallsentscheidungen nur noch von der Akribie und dem Problembewusstsein des Richters oder der Richterin ab. Das Problemfeld Plexusparese ist hierfür geradezu sinnbildlich.
Für Jurist:innen sind zunächst folgende Erkenntnisse wichtig: Es gibt Plexusparesen ohne Schulterdystokie und solche, die unter der Geburt ganz ohne Zutun der Geburtshelfenden auftreten können. Beide Erkenntnisse sind (jedenfalls international) nicht wirklich neu, wenngleich das rein statistische Zahlenwerk zu den Zusammenhängen der beiden Phänomene beeindruckt. Mit dem Blick der forensischen Praxis lassen sich die Schwierigkeiten aber auf die Frage pointieren, ob es schwere/hochgradige Plexusparesen auch ohne Schulterdystokie oder jedenfalls ohne Zutun der Geburtshelfer:innen geben kann.
Anders herum: Gibt es in diesen Fällen andere Erklärungen als unbotmäßige exogene Gewalteinwirkung? Und prozessrechtlich ausgedrückt: Lassen hochgradige Plexusparesen den Rückschluss auf ein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen zu? Diese Fragen werden bisweilen vor Gericht immer wieder zu einseitig beantwortet; es hängt deshalb oft vom Zufall und dem Engagement des Anwaltes oder der Anwältin ab, ob »das Fass« vor Gericht überhaupt geöffnet wird. Einen solchen Fall gab es bereits – die Ruptur der Trunci superior und medius sowie des Zuschusses zu C8. Er ist kein Einzelfall, wie etwa das Urteil des Oberlandesgerichts München vom 05.4.2018 – 24 U (3486/16) beweist. In beiden Fällen hielten Gerichtsgutachter derartige Verletzungsbilder für nicht vereinbar mit endogenen Faktoren; zirkulös argumentierten sie vielmehr, es sei von der medizinischen Gegenauffassung nicht erwiesen, wie sonst, als durch exogene Kräfte, eine Kraft erreicht werden soll, die Nervenbündel zerreißen ließe. Zweifelnde Literaturstellen bleiben dann häufig ebenso unberücksichtigt wie der Umstand, dass ein Rückschluss erst dann zulässig ist, wenn andere Ursachen ausgeschlossen werden können – nicht umgekehrt. Vor Gericht entsteht dann schnell die These der »Unterdokumentation« von Auffälligkeiten im Geburtsverlauf (Süß, 2019).
Die Frage nach der Kraft endogener, physiologischer Vorgänge, insbesondere auch unter Berücksichtigung von Dystokien der hinteren Schulter, bedarf deshalb dringend weiterer Erforschung. Bis dahin ist die Erkenntnis leitend, dass endogen wirkende Kräfte nicht zuverlässig beurteilt werden können und Plexusparesen – jenseits der seltenen fetalen Fehlbildung – schon entstanden sein können, bevor der oder die Geburtshelfer:in mit Handgriffen überhaupt auf den Plan tritt oder Dystokien erkennen kann. Bis endgültige Erkenntnisse vorliegen, verbietet sich der apodiktische Rückschluss vom Verletzungsbild auf ein Fehlverhalten in der Regel. Es gibt dann auch keinen Grund (mehr), an der äußerlich unverdächtigen und widerspruchsfreien Dokumentation des Arztes oder der Ärztin zu zweifeln.
Hinweis: Der Beitrag wurde unter dem Titel »Plexusparese – Schulterdystokie – Behandlungsfehler« in »Die Gynäkologie«, Ausgabe 1/2023 erstveröffentlicht. Er wurde für unsere Zwecke redaktionell überarbeitet. Wir danken den Autoren und dem SpringerMedizin Verlag für die freundliche Nachdruckgenehmigung.
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