
Peggy Seehafer, Anthropologin und Hebamme mit über 20-jähriger Erfahrung in klinischer Geburtshilfe: „Ein Verlegen der Frauen in die nächste Klinik ist keine Option, wenn dort ebenfalls die Hebammen fehlen.“ Foto: privat
Was soll ich machen, wenn ein ehemaliger Kollege nach dem anderen bei mir anruft und fragt, ob ich nicht dringend helfen und in den Kreißsaal zum Arbeiten kommen könnte? Oder ob ich nicht mindestens Hebammen kenne, die aushelfen oder sich sogar unbefristet anstellen lassen würden?
Wenn Chefärzte nicht mehr schlafen können, weil nicht genügend Hebammen für den Kreißsaal da sind und sie nicht mehr wissen, wie sie die Sicherheit gewährleisten sollen, oder wenn Kliniken nur noch geplante Kaiserschnitte sichern können, dann ist etwas richtig faul im System.
Die Kreißsäle befinden sich in einer Abwärtsspirale: Je weniger Hebammen (noch) da sind, desto größer der Stress, umso mehr Beweggründe auch auszusteigen und umso mehr Arbeit für die verbleibenden. Nach einer Befragung durch den Hebammenverband aus dem Jahr 2014 leisten 90 Prozent der angestellten Hebammen regelmäßig Überstunden.
Während auf wissenschaftlichen Konferenzen über eine gewünschte Eins-zu-eins-Betreuung zur Geburt geredet wird, sind im Klinikalltag alle froh, wenn die Schicht ohne Versäumnisse überstanden wurde. In der AWMF-Leitlinie zu den „Mindestanforderungen an prozessuale, strukturelle und organisatorische Voraussetzungen für geburtshilfliche Abteilungen der Grund- und Regelversorgung” liest es sich ganz klar: Es muss mindestens eine Hebamme verfügbar sein. Auf Anfrage bei den Anwälten, die an der Leitlinie mitgewirkt haben, was unter „verfügbar” zu verstehen sei, winden sich alle heraus: „Die von Ihnen angesprochene Passage (Ziff. 1.1.3) betrifft sowohl die Struktur- wie auch die Prozessqualität. Keineswegs heißt dies aber auch, dass eine Hebamme eine unbegrenzte Zahl von Geburten verantwortlich begleiten könnte. Die von Ihnen angesprochene Frage betrifft eher den Personalschlüssel, der von der Leitlinie, wenn überhaupt, nur mittelbar tangiert wird. Denn selbstverständlich muss ein Haus so viele Hebammen an sich binden, dass keine Situation entsteht, in der eine Hebamme wegen parallel laufender Entbindungen in eine Verantwortungskollision kommen könnte.”
Eine verbindliche Aussage sieht anders aus: In Norwegen ist es zum Beispiel gesetzlich vorgeschrieben, dass pro 500 Geburten im Jahr eine Hebamme pro Schicht im Kreißsaal verfügbar sein muss. Das bedeutet bei 3.500 Geburten sieben Hebammen pro Dienst. Bei besonders starkem Geburtenaufkommen wird immer eine Hebamme von der Station angefordert, damit die Eins-zu-eins-Betreuung gewährleistet ist.
Es freut mich, dass auch in Deutschland prinzipiell genügend Hebammen zur Verfügung stehen sollten. Doch faktisch ist es nicht so, und dies besorgt mich sehr, weil die Hebammen vor lauter Arbeit kaum um Fehler herum kommen – selbst wenn es nur die Dokumentation ist – und sie auch noch ein Übernahmeverschulden trifft, wenn nicht genügend Kolleginnen da sind. Ein Verlegen der Frauen in die nächste Klinik ist auch keine Option, wenn dort ebenfalls die Hebammen fehlen. Selbst der Rettungsdienst vermeidet schon die Begleitung der Gebärenden bis in den Kreißsaal, damit er sie nicht gleich wieder mitnehmen muss, und entlässt die Frauen vor der Krankenhaustür … Für die Gebärenden ist die Situation wirklich tragisch, weil sie zum Spielball gesellschaftspolitischer Verzögerungstaktiken avancieren.
Die Hebammen müssen um ihre Rechte kämpfen, ob durch eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder im Berufsverband. Susanne Steppat, Beirätin für die angestellten Hebammen im Deutschen Hebammenverband (DHV), steht für die Sorgen und Nöte der Klinikhebammen zur Verfügung, wie sie versichert (E-Mail: steppat@hebammenverband.de).
Da inzwischen in einigen Häusern übertariflich bezahlt wird, könnte die eine oder andere Kollegin vielleicht doch noch mal darüber nachdenken, aus der drohenden unversicherbaren Freiberuflichkeit in die Angestelltentätigkeit zu wechseln. Immerhin werden hier auch Krankheitsausfall und Urlaub bezahlt. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer! Nur wenn mehrere Hebammen wieder einsteigen, entspannt sich die Situation im Kreißsaal wieder.
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