
Tara Franke, Hebamme und Redakteurin, engagiert sich für eine NS-Gedenkstätte: „Angesichts von Flucht und Vertreibung müssen wir uns fragen, welche Werte oberste Priorität haben sollen.“ Foto: © privat
1948, unter dem Eindruck der millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden, von anderen Minderheiten wie Homosexuellen, Behinderten und politischen Oppositionellen, von Kriegsgefangenen und ZivilistInnen und nach millionenfacher Flucht und Vertreibung, veröffentlichten die Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte”. Sie sprechen von einer „Gemeinschaft der Menschen” und verkünden in Artikel 3: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.” Und: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.” (Artikel 14.1)
Zurzeit leben etwa sieben Milliarden Menschen auf der Erde, davon sind knapp 60 Millionen auf der Flucht oder Vertriebene. Dies ist nur vergleichbar mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Als Flüchtlinge, Binnenvertriebene, Asylsuchende oder Staatenlose fliehen die Menschen vor Krieg, Gewalt und Verfolgung oder extremer Armut, vor Umweltkatastrophen und den Folgen des Klimawandels. Sie haben oft alles aufgeben müssen, Familienmitglieder verloren, und sind auch auf der Flucht bedroht von dauerhafter Armut, Entwurzelung und Krankheit. Für viele gibt es kaum Aussicht auf ein besseres Leben. Stathis Kyroussis, Landeskoordinator von „Ärzte ohne Grenzen” in Griechenland, schreibt in einer aktuellen Presseerklärung zur EU-Flüchtlingspolitik: „Man bekommt das Gefühl, dass die EU Flüchtlinge und Migranten als Feinde betrachtet. Sie bauen Zäune, entsenden Soldaten und verweigern Hilfe.”
Doch Flucht ist für Millionen Menschen der einzige Ausweg, die einzige Hoffnung auf Schutz und Sicherheit. Schon für Erwachsene ist diese Erfahrung schmerzhaft und oft traumatisch, umso mehr für Kinder. Mehr als die Hälfte der weltweiten Flüchtlinge sind unter 18 Jahre alt. Einer von ihnen war Enaiatollah, der in dem autobiografischen Roman „Im Meer schwimmen Krokodile” seine Flucht als Zehnjähriger aus Afghanistan beschreibt, mit allen Hoffnungen, Torturen, Rückschlägen – und einem Happy End, das leider nicht typisch ist für solche Lebensgeschichten. Er landete – lebend – mit einem Schlauchboot in Italien, wurde dort von einer Pflegefamilie aufgenommen und als politisch Verfolgter anerkannt. Einer der Jungen dagegen, die das Schlauchboot mit ihm geteilt hatten, war auf der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken.
Vor vielen Jahren hieß es hierzulande noch auf Wahlplakaten und Zeitungstiteln: „Das Boot ist voll!”, und gemeint war: Deutschland kann keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen. Heute sind es die Boote der Flüchtlinge, die überfüllt sind, weil auch der mögliche Tod die Menschen nicht von einem lebensgefährlichen Fluchtversuch über das Mittelmeer abhalten kann. In Europa stand Deutschland 2014 mit 2,1 Asylbewerbern pro 1.000 Einwohner an siebter Stelle, Schweden nahm proportional etwa dreimal so viele Flüchtlinge auf. Wir alle müssen uns die Frage stellen, welche Werte oberste Priorität in unserer Gesellschaft haben sollen: Menschlichkeit, Solidarität und Verantwortung? Oder wirtschaftliche Überlegungen und Abschottung? Tun wir wirklich genug?
Hebammen wissen, wie verletzlich Menschen sind, die Schutz und Hilfe brauchen. Sie sind der Gleichbehandlung aller Klientinnen verpflichtet und traditionell solidarisch mit Frauen – und sie brauchen derzeit selbst die Solidarität der Frauen und der gesamten Gesellschaft, weil ihr Beruf in seiner Existenz bedroht ist. Solidarität, die uneingeschränkte Wertschätzung des Menschen und der Schutz von Schwachen und Hilfebedürftigen sind kein Luxus, den eine Gesellschaft sich leisten kann oder will, sondern unabdingbar für eine friedliche Zukunft der „Gemeinschaft der Menschen”.
Der damals aus Afghanistan geflohene Enaiatollah hatte besonderes Glück, denn er durfte einen Schulabschluss machen und ein neues Leben beginnen. Acht Jahre, nachdem seine Mutter ihn nach Pakistan geschmuggelt und dort zurück gelassen hatte, um ihn zu retten, schafft er es von Italien aus mit ihr zu telefonieren und mit ihr gemeinsam still weinend zu begreifen, dass sie beide noch am Leben sind.
Jetzt weiterlesen mit DHZ+
1,- Euro für 4 Wochen
- freier Zugriff auf alle DHZ+-Artikel auf staudeverlag.de/dhz
- inkl. aller ePaper-Ausgaben der DHZ und der Elterninfos
- Zugriff auf das DHZ-Archiv auf dhz.de
- jederzeit kündbar