Illustration: © Melanie Garanin

Mir hüpft das Herz in der Brust. Immer häufiger und stärker, je weiter sich herumspricht, dass es für »die vaginale Geburt am Termin« eine neue Handlungsempfehlung gibt. Längst schien das überfällig, um endlich wegzukommen von so manchen menschenverstandsfernen und ignoranten Auswüchsen der eminenzbasierten Geburtsmedizin der 1970er bis 2000er Jahre. Unzählige klinisch und außerklinisch tätige Hebammen und zahlreiche gesundheitsorientierte Ärzt:innen wünschten sich schon lange eine offizielle Berechtigung dafür, was sie seit Jahren in den Kreißsälen und Gebärräumen tun: den interventionsarmen Start in die physiologische Geburt unterstützen, eine frauenzentrierte Aufklärung und echte Wahlfreiheit gewähren. Sie sehnten sich nach der Akzeptanz, Geburtsverläufe als individuell und einzigartig zu sehen, statt alle Gebärenden in einen linear berechenbaren Standard zu pressen.

Monatelange Arbeit, saubere wissenschaftliche Recherche, hunderte Perspektivwechsel waren erforderlich. Nun stehen wir an einem wichtigen Punkt – und zwar alle Fachdisziplinen sowie Entscheidungs- und Kostenträger in Klinikverwaltungen, bei Sozialversicherern und in der Rechtsprechung. Hat man sich bislang häufig auf Leitlinien berufen und die Rechtsprechung im Haftungsfall daran ausgerichtet, müssen wir nun aufpassen, dass mit der neuen S3-Leitlinie nicht der Effekt der drei Äffchen einsetzt: Wenn ich mir nur fest genug Augen, Ohren und Mund zuhalte, kann ich dann vielleicht ihre Gültigkeit für meine Abteilung, mein Geburtszimmer, meinen Kreißsaal umgehen? Kann ich den Wechsel zur verbindlichen Eins-zu-eins-Betreuung sabotieren, indem ich nur genug über Hebammenmangel, Ärzt:innenmangel und unbesetzte Stellen klage? Verunmögliche ich die empfohlene Auskultation und verharre bei der vertrauten CTG-Ableitung, weil ein dafür notwendiger Personalschlüssel sowieso nicht angestrebt wird?

Jetzt stehen wir an dem Punkt, an dem wir mit der hart errungenen Handlungsempfehlung mit etwas Geduld einen echten Paradigmenwechsel für Frauen, Hebammen und Ärzt:innen einleiten können. Andernfalls bleibt die neue Leitlinie eine »Vielleicht-Linie«.

Zitiervorlage
Steinmann, J. R. (2021). Mehr als eine »Vielleicht-Linie«! Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (7), 120.

Jetzt weiterlesen mit DHZ+

dhz-badge 1,- Euro für 4 Wochen

  • freier Zugriff auf alle DHZ+-Artikel auf staudeverlag.de/dhz
  • inkl. aller ePaper-Ausgaben der DHZ und der Elterninfos
  • Zugriff auf das DHZ-Archiv auf dhz.de
  • jederzeit kündbar