
Abbildung: Entnommen aus Marlies Buchholz. Anna selbdritt – Bilder einer wirkungsmächtigen Heiligen. Abbildung 79
„Ich dachte bisher, dass ich bei der Geburt meines ersten Kindes alles falsch gemacht habe. Es ist so erleichternd zu hören, was andere Eltern erlebt haben. Das Erzählen darüber tut so gut!“ – Tischdeckenzitat Erzählcafé Bonn
Nach Jahren des Kämpfens hat sich an vielen Stellen das Gefühl der Ohnmacht breit gemacht. „Meine Arbeit wird nicht mehr geschätzt. Die Politik hat uns im Stich gelassen.“ Dieses Gefühl ist mehr als verständlich. Hebammen bringen Tag für Tag Höchstleistungen im Einsatz für ihre Schwangeren. Aber immer mehr Geburtsabteilungen oder -kliniken schließen und die Haftpflichtversicherung ist weiterhin nicht zu stemmen. Zahlreiche Hebammen sind erschüttert und geben irgendwann ihren Beruf auf. Die Folgen davon sind jetzt schon spürbar. Ein Kind zu bekommen und in die Warteschleife überfüllter Kreißsäle zu geraten, ist nicht geburtsförderlich. Im Gegenteil: Eine hochtechnisierte Geburtshilfe wird niemals die persönliche Betreuung und Ermutigung der Eltern ersetzen können.
Der Start ins Leben prägt die Familie, aber im weiteren Sinne auch unsere Gesellschaft. Verunsicherte Eltern flüchten sich in eine Sicherheit versprechende Hightech-Medizin, erleben aber sehr oft noch mehr Verunsicherung. Am Ende dieser Entwicklung stehen ohnmächtige Eltern, ohnmächtige Hebammen und schließlich auch belastete Kinder.
Aus der Resilienzforschung ist längst bekannt, wie wichtig das Gefühl der Handlungsfähigkeit ist. Genau hier möchten die Erzählcafés ansetzen, ein hörbares Zeichen setzen und neue, lösungsorientierte Wege gehen – für Familien, Hebammen und eine bessere Geburtskultur, die die Gesellschaft mehr prägt als vielen bewusst ist.
Erzählen ist gesund
Die derzeitige Geburtskultur in Deutschland steht unter dem einen Vorzeichen: Krankheiten suchen und Katastrophen abwehren. Dies schwächt die Eigenkompetenz der Frauen zugunsten einer scheinbaren medizinischen Sicherheit. Das Empowerment der Eltern kommt meist zu kurz und emotionale Bedürfnisse finden bei geburtshilflichen Entscheidungen und dem Festlegen von medizinischen Standards in Kliniken kaum Beachtung. Gleiches gilt für die Verarbeitung von nicht erfolgreichen Geburtserfahrungen. Die wissenschaftliche Auswertung von Internetforen zeigt eindeutig, wie groß das Bedürfnis der Frauen ist, sich durch Geburtsberichte zu entlasten. Sie teilen im Internet aber vor allem lange Schilderungen, wie sie die Geburt ihres Kindes trotz (!) moderner Technik und Risikominimierung überstanden haben. Sie berichten nicht, dass sie durch geburtshilfliche Interventionen Hilfe erfahren haben, sondern im Zentrum steht immer wieder das Alleingelassensein, das Gefühl bedroht zu sein und wie sie das Krisenhafte der Situation gemanagt haben. Die meisten dieser Berichte zeigen, wie ahnungs- und erfahrungslos viele Frauen heute in ihre Schwangerschaft und Geburt gehen. Die Flut an Kursen und Ratgebern scheint nicht wirklich zu helfen und auf die emotionale Situation einer Geburt vorzubereiten. Aus Studien zu Technikfolgen wissen wir: Obwohl die Geburtshilfe aus medizinischer Sicht so sicher zu sein scheint wie niemals zuvor, ist das Gebären heute zunehmend von Angst und Sorge geprägt. Dieses Paradoxon ist ein klares Zeichen, dass den Eltern heute etwas Wichtiges fehlt. Internetforen können eine Ventilfunktion haben, ersetzen aber nicht die Nähe eines persönlichen Kontaktes. Hier möchte die Erzählcafé-Aktion einen neuen Weg gehen und das in den Blick nehmen, was Eltern stärkt.
Die Aktion lebt vom Schneeballeffekt: Jedes Erzählcafé soll einen Wiedererkennungswert haben und wird über die gemeinsame Website und Presseberichte öffentlich gemacht. So kann sich die Idee weiter verbreiten. Das Feedback in Form von Bildern und Zitaten, das Nennen der Aktion in Presseinterviews und das Weitersagen gehört deshalb unbedingt mit dazu. Die umfassende Resonanz in den Medien ist auf der Website der Aktion nachzulesen.
Weitere Informationen: http://www.erzaehlcafe.net/ und http://www.facebook.com/Erzaehlcafeaktion.
Ansprechpartnerinnen:
Lisa von Reiche, www.hebammenfuerdeutschland.de
Kontakt: l.vonreiche@hebammenfuerdeutschland.de
Dr. Stefanie Schmid-Altringer, www.nahdran-kommunikation.de
Kontakt: schmid-altringer@directbox.com

Foto: © B. Frings-Neß/Erzählcafé-Aktion
Auf Augenhöhe
Das moderierte Erzählcafé ist ein bewährtes Format der Sozialarbeit, das bisher aber noch nicht für das Thema Geburt genutzt wurde. Nach dem Motto der Erzählcafé-Aktion „zuhören, voneinander lernen, sich austauschen“ bringt jedes Café die Gäste an den Tischen miteinander ins Gespräch. Nicht wie im medizinischen Gespräch, sondern auf Augenhöhe erhalten sie hier Erfahrungswissen und können dabei erzählend ihre eigene Geschichte verarbeiten.
An den Tischen sitzen geladene ZeitzeugInnen, die ihre Kinder von den 1950er Jahren bis heute – und vielleicht teilweise auch in der DDR – bekommen haben. Alternativ ist auch eine inhaltliche Aufteilung in Thementische möglich. Durch die Berichte der ZeitzeugInnen können Eltern – und in den Junior- Erzählcafés auch Jugendliche – die heutige Geburtshilfe aus einer anderen Perspektive kritisch prüfen und miteinander diskutieren. Dies kann zum Beispiel mit Blick auf Geburten in Kriegszeiten die Angst der Frauen heute relativieren, oder ermöglicht umgekehrt einen Blick auf das, was heute besser ist und sich geändert hat.
Jedes Erzählcafé ist kostenfrei und dauert etwa zwei Stunden, wobei die Gäste im vorgegebenen Rhythmus drei Mal den Tisch wechseln. Um das Erzählen leichter zu machen, ist eine liebevolle Atmosphäre wichtig: Frisch gekochter Kaffee, Blumen und Kuchen stehen auf den gedeckten Tischen bereit. Während des Cafés können alle Gäste die Papiertischdecken mit ihren Eindrücken, Erzählungen, Hoffnungen und Sorgen anonym beschreiben. Das Geschriebene wird anschließend ausgewertet und in Form von Fotos und Zitaten auf der Webseite öffentlich erfahrbar gemacht.
Horrorgeschichten, das Angeben mit perfekten Geburten und Schwarzweiß-Denken haben im Erzählcafé keinen Platz. Stattdessen erleben die verschiedenen Generationen vielleicht zum ersten Mal, dass ihre Sichtweise und Bedürfnisse die Grundlage für medizinische Entscheidungen sein sollten und dies auch im Dialog leisten können. Entscheidend für das Gelingen sind natürlich das aktive Zuhören und ein respektvoller Umgang miteinander, die durch eine Moderation und Gesprächsregeln unterstützt werden. Die Gäste beschreiben oft die wohltuende „solidarische Atmosphäre“, die durch ein Erzählcafé entsteht – für werdende Eltern und für Hebammen.
Am 28. Januar 2016 fand das erste Erzählcafé für SchülerInnen in Potsdam statt, veranstaltet vom Geburtshaus Charlottenburg. Die Veranstaltung war in jeder Hinsicht ein voller Erfolg, was auch in der gemeinsamen Auswertung mit der Universität Mainz sichtbar wurde.
Damit das Potenzial der Erzählcafé-Aktion weiter wachsen kann und der zukünftigen Elterngeneration zugutekommt, sollen ab 2017 bundesweit Junior- Erzählcafés für Teenager und Welcome-Erzählcafés nur für Frauen stattfinden. Die Aktion unterstützt deshalb Schulen, Eltern, Hebammen, Kliniken und Interessierte, die ein Junior- oder Welcome-Erzählcafé veranstalten möchten. Die Auftaktveranstaltung wird am 20. Januar 2017 im LandesMuseum Bonn stattfinden.
Kräfte bündeln durch Vernetzung
Geburten sind weder rosarot, noch ein Spaziergang. Dieses elementare Erlebnis wirkt sich ein Leben lang aus, positiv wie negativ. Aber geredet wird darüber höchstens im privaten Rahmen. Die Geschichten über das individuelle Erleben der Eltern und vor allem der Frauen spielen jedoch bislang kaum eine öffentliche Rolle. Weder die Fachkräfte in Kliniken, noch die Politik hören, wie bestimmte „geburtshilfliche Standards“, selbstverständliche Abläufe wie die routinemäßige Verweilkanüle beim Betreten der Klinik, oder auch hektische Ausnahmesituationen, wie die plötzlich nötige Sectio, empfunden werden. Dieses ehrliche, ungeschönte Feedback der Eltern fehlt als Korrektiv. Für den gelungenen Start ins Leben sollten optimale Bedingungen im Sinne der Familien geschaffen werden, nicht nur in medizinischer Hinsicht. Dazu muss sich die Geburtshilfe verändern. Die Erzählcafé-Aktion möchte ein lebendiges Zeichen setzen, wie diese Veränderung gelingen kann: Nur zusammen und mit vereinten Kräften! Dieses Prinzip der Erzählcafé-Aktion zieht sich durch die unterschiedlichen Ebenen des Projektes: In jedem Gespräch am Cafétisch, durch die Vernetzung regionaler Gruppen bei der Vorbereitung, der übergreifenden Kooperation auf Bundesebene und dem Öffentlich-machen der Elternsicht. Die Cafés finden jetzt schon in Mehrgenerationszentren, Kirchen, Geburtshäusern bis hin zu Kliniken statt und werden von Eltern, Hebammen, Pfarrerinnen und Ärztinnen veranstaltet.
Diese Vielfalt und Vernetzung ist jetzt und in Zukunft dringend erforderlich, um nicht aufzugeben und die Geburtskultur wieder gesünder zu gestalten. Es spricht alles dafür, den Dialog – auch zwischen den Generationen – durch Erzählcafés zu fördern. Denn nur Eltern, die wissen, wie es besser gehen könnte, werden auch danach fragen. Nicht jede negative Erfahrung muss man selbst machen, um daraus zu lernen. Und wer durch die Erfahrungen der anderen Eltern gestärkt ist, wird sich auch in einem hektischen Medizinbetrieb besser wehren können und seine Bedürfnisse einfordern.
In allen Gesprächen am Cafétisch wurde deutlich, welche Art von Geburtshilfe Eltern wirklich brauchen. Das Fazit: Öffentliches Erzählen tut gut und ist zugleich politisch. Dieses Potenzial sollten Hebammen als einen neuen Weg des lösungsorientierten Protests nutzen.
Die Dokumentation der Ergebnisse von 2015 kann bei den Initiatorinnen als pdf-Datei kostenfrei bestellt werden. Sie eignet sich dazu, an PolitikerInnen weitergereicht zu werden.