
Christiane Schwarz, freiberufliche Hebamme und Gesundheitswissen- schaftlerin: „Unsere Geburtshilfe mit ihren hohen Interventionsraten ist ein riesiger klinischer Versuch – und die Probanden wissen nichts davon.“ Foto: © Weleda AG
Wir können häufig nicht alle Folgen überblicken, wenn wir etwas tun. Die Konsequenzen aus unserem Handeln können unsere Erwartungen übertreffen: Das Saatgut aus der preiswerten Samentüte hat ein wahres Blütenmeer vor unsere Haustür gezaubert, alle Nachbarn freuen sich daran mit. Oder die Folgen einer Entscheidung sind so unerwünscht wie unerwartet: In Neuseeland hat das Aussetzen von zwei harmlosen kleinen Pelztieren, den Opossums, vor einigen Jahren dazu geführt, dass diese sich wie verrückt vermehrten und einheimische Vogelarten vernichteten, deren Eier sie fressen.
In der Geburtshilfe tun wir viel: Wir führen bei jeder dritten Schwangeren einen Kaiserschnitt durch, bei vaginalen Geburten geben wir jeder dritten Frau Wehenmittel. Beides hat Folgen, die wir nicht absehen können. Denn nach den unmittelbar sichtbaren Konsequenzen des Kaiserschnitts, wie Wundschmerz, Infektionen, Narbenbildung bei der Frau und Anpassungsstörungen beim Kind, gibt es vielleicht auch noch Spätfolgen. Verschiedene Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass der Kaiserschnitt im Zusammenhang mit gesundheitlichen Einschränkungen im späteren Leben des Kindes stehen könnte: Besonders Asthma und Diabetes werden hier diskutiert. Grund dafür könnte unter anderem sein, dass die gesunde Besiedelung des Kindes mit den Keimen der Mutter, insbesondere auf der Darmschleimhaut, durch einen frühen Kontakt des „steril geborenen“ Kindes mit Krankenhauskeimen zu Störungen im Immunsystem führt.
Auch die Gabe von künstlichem Oxytocin ist vielleicht weniger harmlos, als man vermuten könnte. Eine aktuelle Forschungsarbeit des Psychologen Greg Miller, die in der renommierten Zeitschrift Science im Januar veröffentlicht wurde, sieht einen Zusammenhang von Oxytocingabe am Tag der Geburt und schweren Bindungsstörungen bei heranwachsenden Säugetieren. Die Hypothese lautet, dass der Oxytocinspiegel einer gebärenden Frau eigentlich im Moment der Geburt stark abfällt, und das Neugeborene jetzt lernt, dass es zur Aufnahme einer engen Liebesbeziehung selbst Oxytocin ausschütten muss. Sind seine Rezeptoren aber mit künstlichem Oxytocin überschwemmt, bleibt dieser Lerneffekt aus und fehlt für den Rest des Lebens. Die Folgen können Bindungsstörungen, ADHS, sogar Autismus, und – offensichtlich besonders bei männlichen Heranwachsenden – auch sexuelle Störungen sein.
Wissen wir eigentlich, was wir da tun? Und wissen es die Frauen? Was für Folgen hat es, wenn wir den Wehentropf laufen lassen und ihn bei Sichtbarwerden des Köpfchens noch mal schnell etwas steigern? Die akuten Folgen sehen wir sofort: Die Herztöne fallen ab, wir „müssen“ kristellern, machen vielleicht eine Episiotomie und entwickeln ein Kind mit sauren Blutwerten – alles schlimm genug. Doch was sind die Folgen darüber hinaus? Für das Kind im weiteren Leben und vielleicht für die nachfolgende Generation, für unsere Gesellschaft? Wie werden wir zusammen leben, wenn ein großer Teil der Bevölkerung Mühe hat, soziale Bindungen einzugehen oder zu halten?
Wir wissen eigentlich, dass wir nicht genug wissen: Die Langzeitfolgen von Interventionen und Medikamenten, die wir gebärenden Frauen und Kindern verabreichen, sind nicht ausreichend erforscht. Unsere Geburtshilfe mit ihren hohen Interventionsraten ist ein riesiger klinischer Versuch – und die Probanden wissen nichts davon. Sie wurden nicht gefragt.
Vielleicht werden wir irgendwann gefragt, ob wir nicht gewusst haben, was wir da tun – was sollen wir dann sagen?
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