
Prof. Dr. Karl-Heinz Göttert war bis 2010 Germanistikprofessor an der Universität Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die mittelalterliche Literatur- und Kulturgeschichte sowie die Geschichte der Magie und des Aberglaubens. Im vergangenen Jahr erschien von ihm das Buch „Magie im Alltag“. Foto: privat
Not lehrt beten, sagt ein bekannter Spruch – aber auch Zuflucht suchen zu weniger heiligen Mitteln. Überall, wo Gefahren lauern, stoßen wir in unserer Kultur auf Aberglauben als Schutz und Abwehr. Es wäre ein Wunder, wenn dies nicht jedenfalls in alten Zeiten bei einer der gefährlichsten Situationen eine Rolle spielte, die der Mensch kennt: bei seiner Geburt. Nur kann der oder die Neugeborene sich nicht selbst helfen, es bedarf der Helfer, die sich ihrerseits nach Hilfe aller Art umsehen. Im Zentrum steht dabei seit alters die Hebamme, in der deutschen Sprache ursprünglich als „Hebe-Ahnin“ ganz wörtlich die Person, die das Neugeborene (vom Boden) aufhebt und dem Vater überreicht.
Wie dabei Wissen und Aberglaube zusammenspielten, erfahren wir bereits in der Antike an äußerst prominenter Stelle. Sokrates nämlich, dessen Mutter selbst Hebamme war, beschreibt die Möglichkeiten, jemanden zur Erkenntnis der Wahrheit zu bringen, mit genau dieser mütterlichen Kunst. Dazu aber habe seine Mutter neben Medikamenten Zauberformeln angewendet. So ist es sehr lange geblieben, auch wenn in der heidnischen Antike und im christlichen Mittelalter vor abergläubischen Mitteln immer wieder gewarnt wurde. Angesichts des Leidensdrucks war der Erfolg der Warnungen eher gering.
Man kann dabei verschiedene Gesichtspunkte abergläubischer Praxis unterscheiden. Der erste liegt bei den Vorkehrungen, die die Hebamme anwendet. Eine große Rolle spielen dabei Mittel, die Geburt zu erleichtern. Ausgewählte Kräuter gehören dazu. Weiter auch Handwerkszeug wie der Blutstein, mit dem durch Bestreichen Blut gestillt werden soll, oder der Trudenstein – nach der Bezeichnung Truden für Hexen –, der der Gebärenden zum Schutz gegen Dämonen umgehängt wird. In der berühmten Edda, der noch ganz und gar heidnischen Heldendichtung im Norden Europas aus dem 13. Jahrhundert, werden Runen benutzt, also Buchstaben, die auf Hände und Gliedmaßen zu malen sind.
Weil Verzauberung zu befürchten ist, bedarf es des Gegenzaubers in Form von Sprüchen oder auch ins Bett gelegter Beile oder Messer. Weiter spielt das erste Bad des Kindes eine wichtige Rolle für seine Zukunft. Es müssen also zauberkräftige Mittel hinein, Weihwasser zum Beispiel. Nach dem Bad gilt Einschmieren mit Dill als Hilfsmittel, um späterem Frieren vorzubeugen.
Gefahren drohen dabei nicht nur von der Geburt selbst. Ist sie glücklich erfolgt, kann immer noch der böse Blick eines Missgünstigen Fatales anrichten. Entsprechend werden keine Fremden an das Kind herangelassen. Vorbeugend gegen allerlei Krankheiten wirken Segen, die christlich klingen, aber mit eigenartigen Zutaten den abergläubischen Hintergrund zeigen.
Ein zweiter Gesichtspunkt ergibt sich aus der Tatsache, dass die Hebamme selbst in eine abergläubische Beleuchtung gerät. Weil sie mit angeblich Unreinem umgeht, gilt sie selbst als unrein. Folge: Man muss sie so heimlich wie möglich rufen, am besten so, dass die bösen Geister nichts davon mitbekommen, also nachts. Die Hebamme selbst soll ebenfalls so heimlich wie möglich kommen, nachts mit kleinstmöglicher Laterne ausgestattet.
Weil immer wieder Fehlgeburten vorkamen, geriet die Hebamme ins Visier der Hexenjäger, die sie für die Fehlgeburten verantwortlich machten. Eines der schlimmsten Machwerke deutscher Sprache, der „Hexenhammer“ des Dominikaners Heinrich Institoris, bringt ein komplettes Kapitel über die Hexen-Hebammen, mit Blutschlürfen und anderen Schauergeschichten, die das Bild der Hebamme enorm schädigten – mit langer Nachwirkung.
Fazit? Heute wird der Erfolg in schwieriger Mission vor allem bei der Wissenschaft gesucht. Aber deren Undurchsichtigkeit befördert immer noch auch den Griff zu alten Mitteln. Man sollte sich nur überlegen, worauf man da vertraut – die Geschichte des Aberglaubens insgesamt ist nicht sehr ermutigend.
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