Prof. Dr. Michael Tsokos ist Ärztlicher Leiter der Gewaltschutzambulanz/ Rechtsmedizinische Untersuchungsstelle der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Der Vater von fünf Kindern ist als rechtsmedizinischer Experte im In- und Ausland tätig und Mitautor des 2014 erschienenen Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“. Foto: © Panabild /Franke

Im Juni 2014 hat das Bundeskriminalamt alarmierende Zahlen veröffentlicht: 2013 wurden in Deutschland 153 Kinder tödlich misshandelt. Davon waren 113 Kinder unter sechs Jahre alt. Das bedeutet, dass jede Woche drei Kinder an den Folgen tödlicher Misshandlungen sterben. Verantwortlich sind fast immer die Personen, die den Kindern am nähesten stehen und die sie eigentlich beschützen sollten. Kindesmisshandlung ist ein Delikt, das sich so gut wie ausschließlich im direkten familiären Umfeld ereignet. Die Täter sind typischerweise die Eltern, der neue Lebensgefährte eines Elternteils oder die Pflegeeltern. Die genaue Zahl der Fälle tödlicher und überlebter Kindesmisshandlungen ist mangels einer verlässlichen Dunkelfeldforschung unbekannt.

Die Fälle, in denen Kinder Misshandlungen überlebt haben, sind nach einem erstmaligen Rückgang im Jahr 2012 laut polizeilicher Kriminalstatistik 2013 wieder angestiegen. Zurück bleiben Kinder, die zum Teil schwer oder sogar lebensgefährlich verletzt wurden, teilweise körperlich und geistig behindert, in jedem Fall jedoch psychisch traumatisiert sind. Was läuft so grundlegend falsch im Kinderschutz in Deutschland?

In dem gemeinsam mit Dr. Saskia Guddat verfassten Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder” haben wir uns für eine gesetzlich verankerte ärztliche Reaktionspflicht ausgesprochen. Also die ärztliche Pflicht, Kinder mit misshandlungsverdächtigen Verletzungen in die nächste Kinderklinik mit assoziierter Kinderschutzgruppe zu überweisen und/oder das zuständige Jugendamt einzuschalten – nicht aber zwingend die Polizei (also keine Anzeigepflicht!). Das Bundeskinderschutzgesetz vom 1. Januar 2012 ist bisher ein zahnloser Papiertiger, der für die betroffenen Kinder die Situation nicht verbessert hat.

Wir haben uns auch dafür ausgesprochen, den überwiegend praktizierten reaktiven Kinderschutz in Deutschland in einen präventiven Kinderschutz zu verändern. Positive Beispiele sind Babylotsen, frühe Hilfen und Familienhebammen.

Wir haben für unser Buch viel Gegenwind bekommen. Aber es ist meine feste Meinung, dass es falsch ist, seine Augen vor unliebsamen Wahrheiten zu verschließen. Zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema Kindesmisshandlung gehören auch die kritische Selbstreflexion der eigenen Arbeit im System und das ständige Überprüfen von Effektivität und Effizienz des Handelns.

Wenn mir in öffentlichen Diskussionen von FamilienpolitikerInnen, MitarbeiterInnen von Jugendamt und Jugendhilfe gebetsmühlenartig erzählt wird, wie sehr sich die Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren verbessert und welche positiven Auswirkungen dies auf den Schutz unserer Kinder habe, und die Betreffenden sich gegenseitig mit Lobhudelei überschütten, während wir Rechtsmediziner als Schwarzseher hingestellt werden, wird mir einfach nur übel. Ich kann keine Effektivität der bisherigen Maßnahmen und keine positiven Entwicklungen auf den Kinderschutz ableiten. Durch Beschönigen und Realitätsverkennung werden wir kein Kinderleben retten!

Wir müssen uns der Herausforderung stellen, Gewalt in unserer Gesellschaft nicht nur zu ächten, sondern auch tatsächlich einzudämmen – und das Phänomen Kindesmisshandlung ist leider nur eine Erscheinungsform dessen, was den Schwachen und Schwächsten unserer Gesellschaft tagtäglich widerfährt.

Die Dimension ist dramatisch. Trotzdem setzen zahlreiche PolitikerInnen, Interessenverbände, Berufsverbände und sogar staatliche Institutionen viel daran, die desolate Situation des deutschen Kinderschutzsystems zu verharmlosen und insbesondere das institutionelle Versagen der Verantwortlichen zu vertuschen. Das sollten wir als mündige Bürger und Bürgerinnen nicht hinnehmen.

Zitiervorlage
Tsokos M: Der Kinderschutz in Deutschland versagt. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2015. 67 (1): 1

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