Dr. Heinz Bude ist Professor für Makro­soziologie an der Universität Kassel. Er hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von Büchern über die Veränderungen der deutschen Gesellschaft veröffentlicht. Im Herbst 2014 erschien im Verlag Hamburger Edition sein Buch „Gesellschaft der Angst“. Foto: © Hamburger Edition/ Foto: Bodo Dretzke

Für viele junge Frauen bilden die Jahre zwischen 25 und 35 eine Rushhour im Lebenslauf. Da sollen der Einstieg in den Beruf, die Festigung einer Partnerschaft und am besten noch die Geburt des ersten Kindes gelingen. Besonders für Frauen mit einem höheren Bildungsabschluss ist der Stress gewaltig. Das zeigt sich auch an der Geburt selbst, die den Frauen anscheinend die Wahl zwischen natürlicher Geburt und Kaiserschnitt lässt – auch hier ist eine Entscheidung fällig. Die Zunahme der Sectioraten belegt, dass eben nichts mehr einfach geht. Doch das ändert wiederum nichts daran, dass sich heute die meisten jungen Frauen Kinder wünschen. Sie wollen nicht als Powerfrauen enden, die für den beruflichen Erfolg auf das Glück einer Familie verzichtet haben.

Gerade weil die Frauen die Gewinnerinnen der Bildungsexpansion der vergangenen drei Jahrzehnte sind, will die wachsende Gruppe mit Abitur oder gar einem Hochschulabschluss keine tragischen Wahlen mehr treffen. Man will einen Mann oder manche eine Frau, die ähnlich gebildet sind, weil man der Auffassung ist, dass sich auf dieser Basis das Leben besser gemeinsam gestalten lässt; einen Beruf, der einen fordert und befriedigt; und vor allem Kinder, die einem das Gefühl geben, für jemanden unbedingt da sein zu können. Statuserwerb auf dem Heiratsmarkt, Selbstwirksamkeitserfahrung im Job und Bindungsgarantie durch Kinder! Dies alles soll in diesen intensiven zehn Jahren nach der Adoleszenz geschehen, die sich durch die Ausbildung endlos verlängert hat.

Die Wirklichkeit sieht dann freilich oft so aus, dass man genau plant, wann das Kind in der Kita abgegeben wird, wann das Teamgespräch über die Fortführung des Projekts stattfinden soll und wann man sich den freien Tag für die Freundin nimmt. Aber immer ist die Angst im Spiel, etwas zu verpassen: das freudige Lächeln der Tochter am Morgen, die kleine Aufmerksamkeit für den freundlichen Kollegen am Mittag oder den leidenschaftlichen Kuss für den Lebenspartner am Abend. Das ist nicht die Angst, seine Rolle nicht richtig zu spielen, sondern die Angst, alles nur halb hinzukriegen. Selbst im Urlaub will dieses rieselnde Unbehagen nicht verschwinden, weil man die Berge nicht ganz genießen kann und in der Sonne am Meer doch nicht alles vergessen kann.

Die Angst, die diese jungen Frauen ergreift, ist die Angst, sich trotz aller Pläne und Prioritäten selbst zu verfehlen. Das ist nicht die Angst, an von außen gesetzten Normen und Werten, sondern an sich selbst zu scheitern. Die Psychotherapieforschung sieht in der ganz normalen Alltagspathologie einen Übergang von den neurotischen Störungen zu den depressiven Verstimmungen. Die jungen Frauen sind kompetenter und selbstbewusster geworden, aber sie leiden an einem unbestimmten Gefühl des Ungenügens. Es sind nicht die Widerstände, es sind die Möglichkeiten, die mürbe machen. Stimmt die Beziehung? Funktioniert der Job? Was will ich überhaupt?

Mit der Vorstellung von Selbstverwirklichung verbinden sich vielfältige und widersprüchliche Dinge. Vor lauter Planung des Alltags geht die Spontaneität fürs Außergewöhnliche verloren, bei der Konzentration auf die Arbeit die Leichtigkeit im Tun, bei der Liebe für die Kinder der unbekümmerte Umgang mit ihnen, beim Sex mit dem Partner das Unbeschwerte.

Hinter der Angst, etwas zu verpassen oder alles nicht hinzukriegen, steckt Angst um sich selbst. Bei dem dänischen Philosophen Søren Kierke­gaard heißt es dazu schon Mitte des 19. Jahrhunderts ganz schön rätselhaft und doch ziemlich treffend, die Angst des modernen Menschen sei die „Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit“.

Wenn das so ist, dann gibt es kein Entrinnen von der Angst, sich selbst zu verfehlen. Man muss sein Leben selbst führen. Da helfen kein Gott und keine Therapeutin. Das Einzige, was hilft, ist, keine Angst vor der Angst zu haben.

Zitiervorlage

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