Reize für den ganzen Körper: Die nackten Füße können gehalten und gestreichelt werden – für eine Fußreflexzonenmassage zwischendurch. Foto: © Birgit Kienzle-Müller

Der Mensch ist ein Tragling – der Kinderwagen ist erst eine Entwicklung der letzten 150 Jahre. Auch im Tragetuch kann das Kind mit zunehmendem Alter aktiver werden. Und Kinder, deren Muskeltonus noch nicht so ausgeprägt ist, erhalten den Anreiz, sich aufzurichten und stabil im Rücken zu werden.

Erst seit etwa 150 Jahren sind Kinderwagen im Einsatz – seit ungefähr 50 Jahren sind sie für weite Kreise der Bevölkerung erschwinglich. Kinder wurden vorher generell getragen, meist mit einem Tuch, damit die Mutter die Hände frei hatte, Arbeiten erledigen und ältere Kinder versorgen konnte. Außerdem war das jüngste Kind – nah bei der Mutter – leicht zu beruhigen, weil die Mutter die kleinsten Signale wahrnehmen und schnell auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen konnte.

Ganz und gar einhüllend

Das Tuch oder die Tragehilfe eignen sich immer noch hervorragend dazu, das Tragen des Kindes zu unterstützen. Dabei übernimmt das Tuch mehr oder weniger viel Gewicht des Kindes, entlastet so die Trageperson und gibt dem Kind genügend Haltungshintergrund. Hände und Füße des Kindes zeigen, ob dieses Ziel erreicht wurde. Sind diese entspannt, die Hände geöffnet, die Zehen nicht eingekrallt, so hat das Kind genügend Halt. Je nach Alter und Vorliebe des Kindes gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, das Kind im Tragetuch oder der Tragehilfe zu tragen: vor dem Bauch der Eltern, ihnen zugewandt, aufrecht auf der Hüfte sitzend oder auf dem Rücken („Huckepacktechnik”). Neugeborene und Frühchen kann man ganz einhüllen. Sollten Eltern sich für das Tragen im Tuch entschieden haben, dann sollten sie sich immer wieder neu auf die veränderten Proportionen ihres Kindes einstellen und die unterschiedlichen Tragepositionen ausprobieren. Grundsätzlich sollten sie sich danach richten, ob und wie lange sie selbst und ihr Kind sich wohl fühlen.

Die Trage- und Wickeltechniken selbst werden in diesem Artikel nicht genauer beschrieben. Eltern lassen sich geeignete Tragetechniken am besten von einer Trageberaterin zeigen und individuell anpassen. Wenn Mütter und Väter das Tuch oder die Tragehilfe altersgemäß und korrekt einsetzen, bietet dies dem noch jungen Baby vielfältige Stimulation. Das „Umschlungensein” durch das Tuch vermittelt dem Kind starke taktile Reize. Diese Reize geben dem Kind Informationen über seinen Körper und seine Lage. Durch die ständigen Bewegungen der Eltern werden sämtliche Tiefensinne angesprochen: Gleichgewicht, Körpergefühl und Tiefensensibilität. Der gleichmäßige Rhythmus wirkt auf die Gemütslage des Kindes, aktiviert im Wachzustand oder entspannt bei Müdigkeit. Im engen Kontakt mit den Eltern verstärkt sich die Selbstwahrnehmung des Kindes. Herzschlag und Körperwärme der Eltern sind ihm vertraut und beruhigen es. In jeder Position spürt es – so wie im Mutterleib – den Druck und gleichzeitig die Nachlässigkeit der Umgebung. Seine Muskulatur wird kräftigend stimuliert und es kann die Geborgenheit, den Halt und die Ruhe bei Mutter oder Vater genießen. Das etwas ältere Kind nimmt durch das Tragen im Tuch an den Handlungen der Eltern teil und gewinnt so schon direkten Einblick in wesentliche Tätigkeiten des Alltags.

Ein Tragegestell auf dem Rücken der Eltern kann dann sinnvoll sein, wenn das Kind alt genug für kleinere Wanderungen ist. Das ist allerdings in der Regel erst ab dem ersten Lebensjahr der Fall. Ein Nachteil ist, dass der Träger nicht sehen kann, wenn das Kind friert oder schlafend in sich zusammensackt. Es gibt Eltern, die ihre Kinder auf dem Rücken mit zum Skifahren nehmen und großen Gefahren aussetzen. Man muss nicht um jeden Preis mit dem Kind mobil sein!

„Aktiver Tragling”

Der Säugling ist ein „aktiver Tragling”. Sowohl am Moro- als auch am Greifreflex ist zu erkennen, dass Babys – genauso wie ihre nahen Verwandten aus dem Tierreich – darauf eingerichtet sind, getragen zu werden. Neben diesen Reflexen lädt die anfängliche Beugehaltung des Babys dazu ein, es von Anfang an zu tragen. Später ist das aktive Mithelfen beim Tragen an den spontan hochgenommenen und gespreizten Beinchen sichtbar, wobei die Knie höher als die Hüftgelenke liegen und die Füße hochgezogen werden. Diese Haltung kommt der natürlichen Anhockspreizstellung gleich. Diese Stellung der Hüftgelenke ist die natürliche Beugehaltung der Beine. Bei allen Tragetechniken im Tuch ist die Anhockspreizstellung der Hüftgelenke möglich, indem die Oberschenkel von Kniekehle zu Kniekehle mit dem Tuch unterstützt werden. Die Knie befinden sich in Höhe des kindlichen Bauchnabels, wobei die Beine abgespreizt sind. Durch die Stellung der Beine kommt der Rücken in eine leichte physiologische Rundung. Durch die Anhockspreizstellung wird der Hüftkopf in eine ideale Stellung mittig zur Hüftpfanne platziert. Dies ist für die Ausreifung der Hüfte im ersten Lebensjahr enorm wichtig. Außerdem erhält die Hüfte durch das Getragenwerden Bewegungsreize, die zusätzlich die Entwicklung der Hüftgelenke fördern. Im ersten halben Lebensjahr tragen Eltern ihr Kind am besten mit Hilfe der sogenannten Wickelkreuztragetechnik, bei der das Kind optimalen Halt hat und die Anhockspreizstellung der Hüftgelenke gewährleistet ist. Halt am Becken oder an den Füßen verstärkt die Aufrichtung. Nach dem ersten halben Jahr bieten sich Hüfttragetechniken an, die mehr Rumpfrotation des Kindes zulassen; auf diese Weise kann es aktiver am Geschehen teilnehmen. In jedem Alter sollte das Kind in der Anhockspreizstellung getragen werden, das gilt für das Tragetuch, den Ring Sling und die Tragehilfe. Beim Kauf einer Tragehilfe sollte darauf geachtet werden, dass die Anhockspreizstellung überhaupt möglich ist. Hier ist eine gute Beratung sinnvoll. Tragetechniken, bei denen der Rücken des Kindes an der Brust der Mutter liegt, das Kind also wie die Mutter nach vorne schaut, sind nicht zu empfehlen. Durch die Brust der Mutter gerät der Rumpf des Kindes in eine unnatürliche Überstreckung. Die Anhockspreizstellung der Hüftgelenke ist nicht möglich – im Gegenteil: Die Beine werden mit der Schwerkraft nach unten gezogen, die Hüftgelenke übermäßig gestreckt. Außerdem sind weder das Abstützen der Hände noch das physiologische Einstemmen der Füße am Körper der Mutter möglich.

Therapeutische Relevanz

Die konsequente Anhockspreizstellung im Tragetuch ist auch therapeutisch relevant, also auch für solche Kinder geeignet, deren Muskeltonus und Gelenkmobilität am Rande der Norm liegen. Denn das Tragen im Tuch oder in der Tragehilfe wirkt tonusregulierend, das heißt es normalisiert die Körperspannung des Kindes. Weil das Kind den Rhythmus und die Körperspannung des Tragenden intuitiv übernimmt, reguliert sich seine eigene Spannung, eine zu hohe Körperspannung lässt nach, eine zu niedrige Spannung normalisiert sich. Außerdem wirkt das Tragen im Tuch positiv auf die Entwicklung der Hüftgelenke. Kinder mit hyperbeweglichen Hüftgelenken („Froschhaltung” der Beine) erhalten durch das Tragetuch Spannungsimpulse für die Adduktoren und spannen die Muskeln an. Sie zentrieren dadurch die Hüftgelenke besser in der Pfanne. Kinder mit hypobeweglichen Hüftgelenken, also eingeschränkter Beweglichkeit, bekommen durch das Tragetuch in der Anhockspreizstellung einen Dehnungsreiz auf die verkürzte Hüftmuskulatur. Durch die Anhockspreizstellung im Tuch erhält das Kind zudem Impulse zur Aufrichtung. Die aufgerichtete Körperhaltung des Kindes beim Tragen verstärkt die Haltearbeit der Rumpfmuskulatur. Wird die Tragetechnik noch mit einer Rotationsbewegung des Kindes im Rumpf kombiniert, so verbessert sich die Aufrichtung zusätzlich; dies ist gerade bei Kindern mit niedrigem Muskeltonus wichtig. Auch für die physiologische Fußentwicklung ist das Tragen im Tuch oder in der Tragehilfe förderlich.

Tragen stimuliert

Ziele des Tragens sind ein

  • aktiver Haltungshintergrund
  • aktive Aufrichtung im Rumpf
  • Zentrierung der Hüften (natürliche Entwicklung der Hüftgelenke)
  • Mittelstellung der Schultern (natürliche Entwicklung der Schultern, bessere Stützfunktion der Arme durch Anbindung der Schulterblätter an die Wirbelsäule)
  • funktionelle Fußstellung, Abstützmöglichkeit der Füße statt Zug der Schwer­­kraft (Vorbereitung einer gesunden Beinachse und eines physiologischen Gangbildes)

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