Katja Tempel betreut als Hebamme geflüchtete Familien in Notunterkünften: „Frauen, die sich ernstgenommen fühlen, kommen wieder in eine eigene Handlungsfähigkeit.“ Foto: privat

Zwei kleine Mädchen im Alter von drei und fünf Jahren laufen schreiend durch die Wohnung, als ein Rettungshubschrauber ihre neue Zuflucht in einem Dorf im Wendland überfliegt. Ein lese- und schreibunkundiger Bauer aus einem kurdischen Gebiet in Syrien schaut ängstlich zum Himmel, als er dort Kondensstreifen entdeckt. Eine schwangere Frau erschrickt bis ins Mark, als uniformierte Helfer auf sie zukommen.

Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat und ihre Familie zu verlassen, um eine lange strapaziöse Reise in eine unbekannte Zukunft zu unternehmen? Eine Frau ist von ihrem Stiefvater vergewaltigt worden und gebärt Zwillinge von diesem gehassten Mann. Eine musste fliehen, weil ihr Mann wegen Alkoholkonsums mit 50 Peitschenhieben und Verfolgung bestraft wurde. Eine kommt, weil sie keine Lebensperspektive für sich und ihre Kinder in ihrem Herkunftsland sieht. Eine andere ist geflohen, damit ihre Söhne und Töchter nicht zur Armee müssen. Sie alle sind auf der Suche nach einer besseren, sicheren Welt.

Aber auch unsere Welt ist nicht frei von Unterdrückung, Ausbeutung und struktureller Gewalt. Wir sind mitverantwortlich für die Fluchtursachen: Wir plündern Rohstoffe in den Herkunftsländern, wir beuten ausländische Arbeitskraft aus, wir helfen bei der Ausbildung von Militär und Polizei in instabilen Regionen. Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteur der Welt und verdient damit an bewaffneten Konflikten.

Hier angekommen, leben Tausende von Geflüchteten in Notunterkünften über die ganze Bundesrepublik verteilt. Diese Notunterkünfte sind in aller Eile von den Ländern eingerichtet worden. Sie bieten Schutz vor Wind und Wetter, versprechen eine Grundversorgung. Vielerorts sind sie in Trägerschaft von Hilfsorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz, dem Arbeiter-Samariter-Bund oder den Johannitern. Diese sind sehr kompetent im Management von Katastrophen, doch nicht ausgebildet, um Menschen mit all ihren Sorgen aufzufangen und für einen längeren Zeitraum über eine Notfallversorgung hinaus zu begleiten.

Geflüchtete brauchen mehr als ein Dach, Kleidung und Essen. Zu den existenziellen Bedürfnissen gehören auch psychische Grundbedürfnisse, das Bedürfnis nach Kompetenz, Selbstbestimmung und sozialer Eingebundenheit. Diese Bedürfnisse werden in den Notunterkünften zurzeit größtenteils noch missachtet. Die Folge ist, dass sich die Menschen einem Apparat ausgeliefert und als Opfer der Verhältnisse erleben, ähnlich der Situation in den Herkunftsländern – allerdings ohne Lebensbedrohung.

In dieser einschränkenden Atmosphäre einer Notunterkunft kann Hebammenhilfe für Schwangere und ihre Familien ansetzen: Die Familien treten aus der Anonymität der Geflüchteten heraus, werden als handelnde Individuen mit eigenen Ängsten und Hoffnungen wahrgenommen. So entsteht die Chance, Traumata zu reduzieren.

Papiere gelten – besonders in Deutschland – als wichtiges Zeichen: Ich existiere! Das ungeborene Kind kann mit unserer Hilfe noch mehr „Form” annehmen, indem wir allen Schwangeren beim Erstkontakt einen Mutterpass ausstellen. Dieses Dokument kann ein gesundheitlicher Schutz sein und bestätigt die Existenz des noch nicht geborenen Kindes: Es hat Papiere! Durch das Abtasten des Bauches, das Spüren zum Kind hin und Hören der Herztöne fühlen sich die werdenden Eltern ernstgenommen. Hier schließt sich ein Kreis. Frauen, die sich ernstgenommen fühlen mit allem, was sie nach der Flucht mitbringen, kommen wieder in eine eigene Handlungsfähigkeit. Sie können durchsetzen, ein Zimmer alleine für ihre Familie zu bekommen. Sie können erreichen, dass es jeden Tag Obst gibt für alle BewohnerInnen der Notunterkunft. Vielleicht gelingt es ihnen auch durchzusetzen, dass die Zimmer abschließbar sind. Auf jeden Fall sind sie der Situation weniger ausgeliefert. Frauen können mit unserer Unterstützung ihre Bindung zum Kind stärken und zu Gestalterinnen der neuen Lebenssituation werden. Sie können aus ihrer Ohnmacht heraustreten.

Zitiervorlage
Tempel K: Hebammenhilfe macht Geflüchteten Mut. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2015. 67 (11): 1

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