Ein tragisches Fallbeispiel zeigt, wie die mangelhafte Aufklärung einer Schwangeren und fehlender Austausch zwischen den beteiligten Fachkräften dazu führen können, dass Risiken übersehen oder falsch eingeschätzt werden.
Zufällig lernte ich Frau K. kennen, die 2023 ihr ungeborenes Kind kurz vor dem errechneten Geburtstermin verloren hatte. Sie war ein Jahr danach noch geschockt und traurig, auch weil sie sich im Wochenbett von der Klinikpsychologin und ihrer Wochenbetthebamme äußerst unempathisch behandelt und alleine gelassen gefühlt hatte. Ich konnte das nicht wieder gut machen, aber ich bot ihr als Privatperson mit dem Fachwissen einer erfahrenen Hebamme an zu versuchen, einige ihrer Fragen zu diesem Unglück zu klären.
Als ich sie zum ersten Mal besuchte, traf ich auf ein zutiefst trauriges Paar. Im Wohnzimmer war ein kleiner Altar aufgebaut, mit Andenken an ihr verstorbenes Kind. Gemeinsam entschieden wir uns im Laufe der Besuche, dieses Fallbeispiel zu veröffentlichen, um auf das Problem komplexer Risikokonstellationen aufmerksam zu machen. Anhand der Erzählungen und der vorliegenden Befunde rekonstruiere ich im Folgenden den Fall, da er uns für Schwächen in der Betreuung sensibilisieren kann.
Eine glückliche Schwangerschaft beginnt
Frau K. und ihr Mann hatten lange vergeblich auf ein Kind gewartet. 2018, als sie 30 Jahre alt war, begannen sie mit der künstlichen Befruchtung per Intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI). Sie ist 175 cm groß und wog davor 90 kg, mit einem BMI von 29,4. Durch die Hormonbehandlungen erhöhte sich ihr Gewicht auf 102 kg und der BMI auf 33 (Adipositas Grad I). Vor der Schwangerschaft waren ihre Blutzuckerwerte unauffällig.
In der Vorgeschichte fanden sich einige Risikofaktoren, die nicht alle dem Mutterpass zu entnehmen waren: eine medikamentös behandelte Hypothyreose, ein Myom und 2010 eine Gallenblasenentfernung. Die im Mutterpassvorgesehenen Beratungen wurden mit nur einem Satz erledigt und abgehakt. Ihren ersten Blutdruck in der 10. Schwangerschaftswoche mit 126/104 mmHg markierte die Arzthelferin des betreuenden Gynäkologen gelb und meinte, dass sollte im Blick behalten werden. Beim nächsten Termin in der 14. Woche war er auf 145/94 gestiegen, es fand sich doppelt Eiweiß im Urin – ohne Konsequenzen. Später traten immer wieder erhöhte Blutdrücke auf, die niedrigsten Werte lagen bei systolisch 100 und diastolisch 83, die höchsten bei 152 beziehungsweise 104 mmHg. Auch wurde mehrfach Protein im Urin nachgewiesen.
Etwa ab der 32. Schwangerschaftswoche traten starke Oberbauchbeschwerden auf der linken Seite auf, die in Flanke und Rücken ausstrahlten und die sich mit physiotherapeutischen Übungen nicht besserten – ein mögliches Alarmsignal bei Präeklampsie. Diese wird definiert als »jeder (auch vorbestehend) erhöhte Blutdruck ≥ 140/90 mm Hg in der Schwangerschaft mit mindestens einer neu auftretenden Organmanifestation, welche keiner anderen Ursache zugeordnet werden kann.« (siehe Kasten: Leitlinien). Trotzdem wurde nie ein Gestoselabor abgenommen.
Relativ früh wurde eine einzelne Arteria uterina festgestellt, aber nicht im Mutterpass dokumentiert. Frau K. erkrankte außerdem um die 16. Schwangerschaftswoche für etwa vier Wochen schwer an Corona, was mit starken Kopfschmerzen einherging. Sie wurde nicht darüber aufgeklärt, dass COVID-19-infizierte Schwangere ein höheres Risiko haben für Präeklampsie, niedriges Geburtsgewicht und Totgeburten (Jeong et al., 2023).
Erst in der 27. Woche wurde ein insulinpflichtiger Diabetes gravidarum (GDM) diagnostiziert. Dieser und der Zustand nach ICSI veranlassten den betreuenden Gynäkologen zu einer engmaschigeren Vorsorge mit CTG und Ultraschall in seiner Praxis, die laut Frau K. stets unauffällig war.
Frau K. nahm in der Schwangerschaft nochmals gut 10 kg zu. Bis zur 34. Woche lag der Blutzucker morgens zwischen 100 und 130 mg/dl, andere Tageswerte auch etwas erhöht. Erst ab der 34. Woche war er dann gut eingestellt. Lange erhöhte Blutzuckerwerte bergen ein erhöhtes Risiko für intrauterinen fetalen Tod (IUFT) (Bohiltea, 2020). Das wurde nicht angesprochen.
Frau K. fühlte sich ärztlich sehr kompetent und herzlich betreut. Sie wurde zu keinem Zeitpunkt über die besonderen Risiken für ihre Schwangerschaft aufgeklärt. Im Mutterpass sind 14 Vorsorgen dokumentiert, aber keine CTG-Befunde und nur die drei regulären Sonografien. Die für besondere Befunde vorgesehenen Spalten im Mutterpass blieben leer – bis auf den auffälligen GDM (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Im Mutterpass hätten alle Beteiligten die – sich akkumulierenden – Risiken eintragen müssen, um Frau K.s Situation realistisch einschätzen zu können.
Feindiagnostik und Gewichtsschätzung
Die von der Reproduktionspraxis empfohlenen Feindiagnostiken per Ultraschall in der 13. und 21. Schwangerschaftswoche waren nicht erfolgt, da der Arztbrief angeblich nicht beim Vorsorgearzt angekommen war. Sie wurden erst in der 36. Woche von einer Oberärztin der Geburtsklinik und in der 37. Woche in der Reproduktionspraxis durchgeführt. In der Klinik lagen das geschätzte Gewicht auf der 91. Perzentile und der Abdomenumfang auf der 95. Perzentile, ohne Hinweis auf diabetische Fetopathie. Das geschätzte Gewicht lag bei 3.304 g, der Doppler in der Norm.
Es wurde erneut die singuläre Nabelschnurarterie festgestellt, was als unproblematisch gewertet wurde, obwohl ein signifikanter Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für IUFT und ein niedriges Geburtsgewicht besteht (Vafaei, 2021). Als mögliche Ursachen für intrauterine fetale Wachstumsstörungen gelten:
- Erkrankungen der Mutter
- Pathologien im Zusammenhang mit dem Fetus
- Anomalien der Plazenta und der Nabelschnur
- Infektionen.
Die Forschung deutet zudem darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen Covid-19 und IUFT geben könnte (Gökçen, 2023).
Die Ärztin empfahl der Schwangeren, sich in Kürze einleiten zu lassen, da das Kind sonst zu groß für eine spontane Geburt werden könnte. Frau K. wunderte sich, da das Kind nicht übermäßig schwer geschätzt worden und der Diabetes gut eingestellt war und sie auf eine normale Geburt hoffte. Sie erlebte die Reaktion der Ärztin darauf als verärgert und kurz angebunden. In ihrem Arztbericht empfahl diese – neben sorgfältiger Beobachtung – eine Geburtseinleitung spätestens am Termin bei Insulin-gestörtem Gestationsdiabetes (IGDM). Andere Gründe für eine Einleitung vor dem ET, eine Aufklärung zur Gesamtheit der Befunde, über Risiken und Leitlinienempfehlungen zu Adipositas, Hypertonie und fetaler Wachstumsrestriktion (FGR) erhielt Frau K. leider erneut nicht. Auch gab es keinen Hinweis zum Verhalten bei nachlassenden Kindsbewegungen oder Infektionszeichen.
Bei der zweiten Feindiagnostik bei ihrem Reproduktionsarzt sechs Tage später erlebte Frau K. den Druck auf den Bauch als äußerst schmerzhaft, was sie dem Arzt auch mitteilte. Dieser ging nicht darauf ein. Er schätzte das Geburtsgewicht mit 3.113 g deutlich niedriger ein und dokumentierte einen zeitgerecht entwickelten Fetus. Auch er sah keine Auffälligkeiten, außer der singulären Arteria uterina. Er gab keine Empfehlung für eine vorzeitige Geburtseinleitung oder intensivere Überwachung. Zwei Tage später, in der 37+0. SSW, war die Vorsorge bei ihrem Gynäkologen unauffällig.
Eine Lücke in der Überwachung
Frau K. sollte sich am 25. Mai 2023 erneut dort vorstellen. Am Tag zuvor ging es ihr plötzlich sehr schlecht. Sie fühlte sich unwohl, ihr war kalt und ihr fiel auf, dass sich das Kind deutlich weniger bewegte. Sie legte sich mit einer Wärmflasche hin, aber das half nicht. Sie entwickelte 38° C Fieber. Sie überlegte, ob etwas mit dem Kind nicht in Ordnung sein könnte. Da sie aber weder Blutungen hatte noch Wehen spürte, da alle Sonografien und die wöchentlichen CTGs seit der 27. Woche okay gewesen waren und tags darauf ohnehin eine Vorsorge anstand, versuchte sie sich zu beruhigen.
Ihre Schwangerschaftsapp gab die Info, dass Kinder sich gegen Ende weniger bewegen, und das hatte sie auch in der Geburtsvorbereitung gehört. Niemand hatte zuvor mit ihr über die möglicherweise alarmierende Bedeutung plötzlich nachlassender Kindsbewegungen gesprochen. Sie dachte, dass sie die riskanten ersten drei Monate ja gut überstanden hatte, und wollte nicht übervorsichtig sein. Da die Kommunikation mit ihrer Nachsorge-Hebamme bisher eher knapp gewesen war, mochte sie diese nicht fragen.
Bei der Vorsorge am nächsten Morgen waren dann keine Herztöne mehr da.
Wenn Risiken sich häufen
Bei Schwangerschaften mit komplexen Risikokonstellationen ist deren akkumuliertes Risiko schwer abzuschätzen. Zudem sind in der Regel mehrere Betreuende und Fachdisziplinen beteiligt, wie niedergelassene Gynäkolog:innen, Ultraschallspezialist:innen, klinische Fachärzt:innen, Diabetolog:innen, Hebammen, manchmal auch noch Hausärzt:in oder Internist:in.
Der Mutterpass soll einen schnellen Überblick für alle Beteiligten liefern, aber gerade bei komplexeren Fällen bietet er keine übersichtliche Struktur. Auffällige Befunde werden nicht immer eingetragen. Ausführlichere Arztbriefe sind meist nicht allen Beteiligten zugänglich – oft auch nicht der Schwangeren selbst. Wenn der Mutterpass keinen guten und vollständigen Überblick bietet, ist unsicher, ob alle Beteiligten die Risiken und Befunde richtig einschätzen, entsprechende Empfehlungen geben und Behandlungen einleiten (können).
Die Betreuenden von Frau K. hatten alle das Gewicht des Kindes im Blick – aber nur im Hinblick auf eine Makrosomie, die sich auch aus Frau K.s Betreuungsbogen für Patientinnen mit GDM anzudeuten schien.
Im Nachhinein und unter Einbeziehung des letzten Befunds der Reproduktionspraxis ergibt sich eher das Bild einer späten FGR, die aufgrund der vorliegenden Risiken auch viel wahrscheinlicher war (siehe Abbildung 2). Sie wurde aber nicht in Erwägung gezogen, sondern die Abweichung nach unten vermutlich auf interpersonelle Messdifferenzen geschoben.
In der deutschen S2k-Leitlinie »Fetale Wachstumsrestriktion (FGR)« von 2024 heißt es: »Es gibt kaum Hinweise darauf, welche Methode für die pränatale Überwachung der FGR am besten geeignet ist. Eine einzelne Überwachungsmethode kann das Ergebnis der FGR nicht effektiv vorhersagen, weshalb eine Kombination verschiedener Methoden zur Überwachung von wachstumsrestringierten Feten empfohlen wird.« (DGGG, OEGGG, SGGG, 2024, 49) In Großbritannien gibt es daher seit 2009 das Growth Assessment Protocol (GAP, siehe Link), das im dritten Trimenon strukturiert Kompetenzen zur Risikobewertung und Nutzung eines GROW-Diagramms vermittelt (vgl. Langer-Grandt: »Vermessen«, DHZ 2/2025, Seite 52ff.).
Relevante Leitlinien zum Fall
AWMF S3-Leitlinie »Adipositas und Schwangerschaft« (2019)
- Erhöhtes Risiko für GDM und unerkannten Typ-2-Diabetes bei Übergewicht: Empfehlung zur Abklärung einer Glukosestoffwechselstörung im ersten Trimenon (Empfehlung 3.E15).
- Dreifach erhöhtes Risiko für GDM gegenüber normalgewichtigen Frauen
- Das Risiko für eine Präeklampsie verdoppelt sich mit jedem Anstieg des BMI um 5–7 kg/m2.
- Das Risiko für einen späten IUFT ohne andere erkennbare Ursache ist zweifach erhöht (S. 76).
- Empfehlung zur individuellen Risikokalkulation für Präeklampsie bei Schwangeren mit BMI ab 25 kg/m2 in der 11+0. und 13+6. SSW (Empfehlung 3.E9)
- Wegen des erhöhten Risikos adipöser Schwangerer, insbesondere bei Nulliparität, für das Auftreten hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen und FGR bei materno-utero-plazentarer Dysfunktion sollte zur Risikoabwägung eine dopplersonografische Untersuchung der beiden Aae. uterinae mit 20–24 SSW angeboten werden (S. 75). Bei adipösen Schwangeren besteht je nach Studie ein bis zu 1,7–3,5-fach erhöhtes Risiko eines IUFT in Terminnähe (37–40 SSW), eventuell wegen des erhöhten Risikos für eine (späte) FGR bei Adipositas. Bei Diagnose einer späten IUGR nach vollendeter 38. SSW Erwägung einer Einleitung (S.78).
AWMF S3-Leitlinie »Gestationsdiabetes mellitus (GDM), Diagnostik, Therapie und Nachsorge« (2018)
- Risikofaktoren aus maternalen Vorerkrankungen (u.a.):
- Präkonzeptionelle Stoffwechselstörung wie Prädiabetes
- Arterielle Hypertonie oder Einnahme von blutdrucksenkenden Medikamenten (S. 26).
- Spätschwangerschaft: zunehmend mehr Feten mit relativer Plazentainsuffizienz (S. 49)
- Bei IGDM ist eine wöchentliche CTG-Kontrolle ab 36+0 SSW mit individuell angepasster Frequenz zu erwägen.
- Sind andere Komorbiditäten wie Übergewicht, arterielle Hypertonie, schlecht eingestellte Blutzuckerwerte, LGA, IUGR oder vorausgegangener IUFT vorhanden, muss die fetale Überwachung früher und intensiver erfolgen (S. 58).
- III. Trimenon: Biometrie in dreiwöchigen Abständen, bei auffälligem Wachstumsverhalten (LGA, IUGR, Polyhydramnion) in entsprechend kürzerem Intervall (S. 58).
AWMF S2k-Leitlinie »Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen: Diagnostik und Therapie« (2018)
- Hypertensive Erkrankungen treten in 6–8 % aller Schwangerschaften auf, tragen zu 20–25 % der perinatalen Mortalität bei (S. 7).
- Definition chronische Hypertonie: präkonzeptionell oder im ersten Trimenon diagnostizierte Hypertonie (Statement 1.S1)
- Definition Präeklampsie: Jeder (auch vorbestehend) erhöhte Blutdruck ≥ 140/90 mmHg in der Schwangerschaft mit mindestens einer neu auftretenden Organmanifestation, die keiner anderen Ursache zugeordnet werden kann (Statement 1.S4).
- Bei Blutdruckwerten ≥ 140/90 mmHg und weiteren Risikofaktoren (präexistente Hypertonie, Diabetes mellitus u.a.: Klinikeinweisung abwägen (S. 55).
- Bei klinischem oder laborchemischem Verdacht auf HELLP-Syndrom, vor allem bei persistierenden Oberbauchschmerzen: umgehende Klinikeinweisung (Empfehlung 7.S18).
AWMF S2k-Leitlinie »Fetale Wachstumsrestriktion« (FGR) (2024)
- Eine ausführliche Anamneseerhebung ist essenziell, um Schwangerschaften mit erhöhtem Risiko für FGR zu identifizieren und eine engmaschige Überwachung einzuleiten (S. 40).
- Risikofaktoren für FGR (u.a.):
- Maternale Bluthochdruckerkrankung (Präeklampsie, Gestationshypertonie)
- Maternales Gewicht (erhöhter oder sehr niedriger BMI)
- Nulliparität
- Chronische Hypertonie
- Singuläre Nabelschnurarterie
- Fetale Infektionen.
- Bei Schwangeren mit einem BMI ≥ 30 kg/m2 sollte eine Aufklärung zum erhöhten IUFT-Risiko bei Terminüberschreitung erfolgen (Empfehlung 3.E41).
- Bei zusätzlichen Risikofaktoren sollte bei adipösen Schwangeren eine Einleitung mit 39+0 SSW angeboten und sorgfältig abgewogen werden (Empfehlung 3.E42).
- Die FGR ist somit mit einer hohen Morbidität und Mortalität verbunden. Zudem sind ungefähr 50 % der Totgeburten mit einer FGR assoziiert und 10 % der perinatalen Mortalität sind durch eine unentdeckte FGR verursacht (S. 39).
- Anders als beim SGA-Fetus erreicht der FGR-Fetus nicht sein genetisch vorgegebenes Wachstumspotenzial. Es kommt zur Wachstumsabflachung (»crossing of centiles«). Eine Wachstumsabflachung (und somit FGR) kann auch bei Feten mit einem Schätzgewicht über der 10. Perzentile auftreten, insbesondere bei der spät einsetzenden FGR im dritten Trimenon. Die FGR ist eine der häufigsten Ursachen für geburtshilfliche Komplikationen mit ungünstigem perinatalen und neonatalen Outcome (…). Nahezu 30–50 % aller IUFT sind mit einer FGR assoziiert.
- Ein fetaler Abdomenumfang oder ein fetales Schätzgewicht < 3. Perzentile und pathologische Indizes der A. umbilicalis sind nach derzeitiger Expert:innenmeinung entscheidende Parameter für die Definition einer frühen oder späten FGR.
Schwächen und Versäumnisse in der Betreuung
Während ich die Dokumente zur Schwangerschaft durcharbeitete, wurde mir erst nach und nach bewusst, dass bei Frau K. eine größere Zahl an Risikofaktoren und auffälligen Befunden zusammenkamen. Vermutlich hatte sie früh eine latente Präeklampsie, die nicht erkannt, mindestens aber nicht ausgeschlossen wurde.
Da ein später FGR schwer zu diagnostizieren ist, hätte es vor allem in den letzten vier Wochen eine engmaschige Beobachtung und ausführliche Beratung der Hochrisikoschwangeren gebraucht. Vermutlich wäre eine Einleitung zwei Wochen vor ET gerechtfertigt gewesen. Möglich, dass die Ärzt:innen von Frau K. wegen des Fokus auf den insulinpflichtigen GDM aber einfach gar nicht mit einem FGR rechneten.
Bei diesem intrauterin verstorbenen Kind könnten eine unvollständige Kommunikation, mangelndes Bewusstsein für die Vielzahl der Risiken oder eine falsche Interpretation der Befunde zu jener fatalen Betreuungslücke von acht Tagen geführt haben, in der das Kind dekompensierte und verstarb.
Als ausgebildete Physiotherapeutin verfügte Frau K. über die notwendige Körperwahrnehmung, um ungünstige Anzeichen wie nachlassende Kindsbewegungen zu erkennen. Eine Aufklärung zum Risiko einer FGR, nachlassender Kindsbewegungen, Infektionszeichen und zu den korrekten Leitlinienempfehlungen für eine vorzeitige Einleitung hatte jedoch nicht stattgefunden.
Nicht in den vorhandenen Empfehlungen genannt oder empfohlen werden Anregungen zur strukturierten Beobachtung der Kindsbewegungen und zur Koordinierung der betreuenden Fachpersonen. In diesem Fall hätten diese die entstandene Lücke vielleicht füllen und das Kind durch eine Einleitung in der 38 +0 SSW möglicherweise gerettet werden können.
Weiterhin sollte postpartal eine Aufklärung erfolgen, dass Frauen mit GDM in der Schwangerschaft ein deutlich höheres Risiko haben, bereits in jüngerem Alter eine kardiovaskuläre Erkrankung zu entwickeln (S3-Leitlinie Gestationsdiabetes mellitus, 2018, 16).
Erinnerungsfotos
Die Stiftung »Dein Sternenkind« vernetzt über 600 Fotograf:innen in Deutschland, Österreich, Südtirol und der Schweiz, die Erinnerungsfotos von verstorbenen Kinder anfertigen – wie auch das Schwarz-Weiß-Foto von den Füßchen des verstorbenen Sohns von Frau K (siehe Seite 42). Die Bilder von Sternenkindern und Frühgeborenen, die den Weg in die Welt nicht erleben durften, sowie Kindern, die an Plötzlichem Kindstod verstorben sind, sind für die Eltern kostenlos. Die Fotograf:innen schenken ihnen ihre Arbeit. »Dein Sternenkind« ist Preisträger des Deutschen Engagementpreises 2017.
Die Nachbetreuung
Der Entlassungsbrief am 27. Mai 2023 dokumentiert Entzündungszeichen im Labor bei Aufnahme, die Gabe von Antibiose und einen Blutdruck bei Entlassung von 129/94 mm Hg. Es heißt darin zwar, »Patientin stillte auf eigenen Wunsch ab«. Tatsächlich wurde sie nur gefragt, ob sie Milch habe, was einen Tag nach der Geburt noch nicht der Fall war. Sie erhielt keine Informationen oder Medikamente zum Abstillen und hatte dann zu Hause eine starke Milchbildung. Die Hebamme, bei der Frau K. zur Nachsorge angemeldet war, fand es dennoch nicht nötig zu kommen, da das Kind ja nicht mit nach Hause gekommen war.
Auch wurde klinisch dokumentiert: »Eine Anbindung an unsere hausinterne Seelsorge sowie Psychologin ist erfolgt.« Diese zeigte aber kein Verständnis für die tiefe Verzweiflung der Mutter, und verabschiedete sie nach einem kurzen Gespräch mit der Meinung, ein Kind zu verlieren sei »ja keine Krankheit«. Die Nachsorgehebamme wurde nicht von der Klinik informiert, sondern von Frau K. selbst. Sie schrieb am 30. Mai per WhatsApp: »Du hast ein Sternenkind geboren« und »Bin für Dich da«, erschien persönlich aber erst nach 14 Tagen, nach mehrfachem »Betteln« von Frau K. – und verhielt sich dabei wenig einfühlsam und kühl.
Sowohl der Kindsverlust – zumal nach langjähriger Infertilität und künstlicher Befruchtung – als auch eine Präeklampsie und ein GDM (Gastaldon et al., 2022) erhöhen jedoch das Risiko für eine postpartale Depression signifikant. Frau K. hätte also dringend engmaschig betreut und auf depressive Symptome beobachtet sowie zu ihren Beschwerden beim Abstillen und im Wochenbett betreut werden müssen.

Sensibilisieren und Aufklären
Frau K. und ihr Mann haben den Verlust akzeptiert, trauern aber noch stark. Frau K. erhoffte sich durch diese Recherche zu ihrem Kindsverlust mehr Klarheit über die wirklichen Vorgänge und mögliche Versäumnisse. Ihr geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, Ärzt:innen und Hebammen für solche Lücken zu sensibilisieren, um anderen Familien dieses Leid eventuell zu ersparen.
Der Fall zeigt die Notwendigkeit einer genauen Anamnese, einer sorgfältigen, vorausschauenden und der Entwicklung angepassten Betreuung sowie klaren Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Und dass die betroffenen Patient:innen ein wichtiger Teil der Schwangerenvorsorge sein könnten, wenn sie besser über ihre individuellen Risiken und mögliche Anzeichen von Pathologien informiert würden.
DGGG, OEGGG, SGGG. (2018). S3-Leitlinie Adipositas und Schwangerschaft. AWMF-Registernummer: 015–081. Stand Juni 2019. Version 1.2. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/015–081
DDG, DGGG-AGG. (2018). S3-Leitlinie Gestationsdiabetes mellitus (GDM), Diagnostik, Therapie und Nachsorge, 2. Auflage. AWMF-Registernummer: 057–008. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/057–008
DGGG, OEGGG, SGGG. (2024). S2k-Leitlinie Fetale Wachstumsrestriktion (FGR). AWMF-Registernummer 015/080. Stand Oktober 2024, Version 2.0. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/015–080
DGGG, OEGGG, SGGG. (2019). S2k- Leitlinie Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen: Diagnostik und Therapie. AWMF-Registernummer 015/018. Stand März 2019, Version 1.1. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/015–018
Gastaldon, C., Solmi, M., Correll, C. U., Barbui, C., & Schoretsanitis, G. (2022). Risk factors of postpartum depression and depressive symptoms: umbrella review of current evidence from systematic reviews and meta-analyses of observational studies. The British journal of psychiatry : the journal of mental science, 221(4), 591–602. https://doi.org/10.1192/ bjp.2021.222
Gökçen İşcan, R., Malvasi, A. (2023). Intrauterine Fetal Death: Management and Complications. In Practical Guide to Simulation in Delivery Room Emergencies. 219–243. Springer International Publishing.
Jeong, Y., & Kim, M. A. (2023). The coronavirus disease 2019 infection in pregnancy and adverse pregnancy outcomes: a systematic review and meta-analysis. Obstetrics & gynecology science, 66(4), 270–289. https://doi.org/10.5468/ogs.22323
Langer-Grandt, G. (2025). Fetale Wachstumsrestriktion: Vermessen? Deutsche Hebammen Zeitschrift, 77 (1), 52–56. https://staudeverlag.de/vermessen/
Vafaei, H., Rafeei, K., Dalili, M., Asadi, N., Seirfar, N., & Akbarzadeh-Jahromi, M. (2021). Prevalence of single umbilical artery, clinical outcomes and its risk factors: A cross-sectional study. International journal of reproductive biomedicine, 19(5), 441–448. https://doi.org/10.18502/ijrm.v19i5.9253
Jetzt weiterlesen mit DHZ+
1,- Euro für 4 Wochen
- freier Zugriff auf alle DHZ+-Artikel auf staudeverlag.de/dhz
- inkl. aller ePaper-Ausgaben der DHZ und der Elterninfos
- Zugriff auf das DHZ-Archiv auf dhz.de
- jederzeit kündbar


