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Eine aktuelle Leitlinie stellt zahlreiche Maßnahmen zur Lösung einer Schulterdystokie vor und zeigt, dass in der Praxis immer verschiedene Lösungsoptionen existieren. Dabei ist die Diagnose herausfordernd und der Risiko-Vermeidungs-Ansatz komplex, da eine Schulterdystokie auch durch Ungeduld während der Geburt provoziert werden kann.
Eine Schulterdystokie zählt zu den seltenen und schweren geburtshilflichen Notfällen. In der Leitlinie wird davon ausgegangen, dass sie in 0,2 bis 3,0 % aller vaginalen Geburtsverläufe auftritt. Bei einer Schulterdystokie kommt es nach der Geburt des kindlichen Köpfchens zu einem Stillstand der Geburt, weil die Geburt der kindlichen Schultern erschwert, verzögert oder gar nicht erfolgt. Da es zu einer Asphyxie des Kindes kommen kann, handelt es sich um eine lebensbedrohliche Situation für das Kind und eine Situation mit schwerem Verletzungsrisiko für die Mutter.
Geburtsmechanisch können zwei Varianten auftreten: Der hohe Schultergeradstand, bei dem die Schultern nicht in den querovalen mütterlichen Beckeneingang eintreten, und der tiefe Schulterquerstand, bei dem die Schultern nicht in den längsovalen Beckenausgang eintreten.
Definition und Diagnose
»Eine Schulterdystokie ist ein seltener, unvorhersehbarer und bei einer vaginalen Geburt nicht vollständig vermeidbarer geburtshilflicher Notfall. Es handelt sich um einen akut auftretenden Geburtsstillstand nach Austritt des kindlichen Kopfes. Die nachfolgende Geburt des Rumpfes verzögert sich.« (S2k-Leitlinie Schulterdystokie, AWMF, 2024, S. 39)
Die Schulterdystokie gilt trotz bestmöglicher Betreuung nicht als vollständig vermeidbar und erfordert in der Praxis ein sofortiges Handeln, um die Gesundheit des Kindes und der Mutter zu erhalten. Hintergründe und Management zur Schulterdystokie wurden kürzlich im Rahmen einer S2k-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich medizinischen Fachgesellschaften zusammengestellt (AWMF, 2024).
Leitlinie Schulterdystokie
Die S2k-Leitlinie Schulterdystokie wurde am 1. Oktober 2024 veröffentlicht. Sie wurde herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG) sowie der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG). Die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaften (DGHWi) und der Deutsche Hebammenverband (DHV) haben mit beteiligten Leitlinienautorinnen mitgewirkt sowie Vertreter:innen für die Konsensuskonferenz benannt.
In der S2k-Leitlinie Schulterdystokie werden Management, First-Line-, Second-Line- und Last-Resort-Manöver aufgezeigt, um mögliche Komplikationen einer Schulterdystokie zu vermeiden. Diese können vielfältig sein und umfassen unter anderem neonatale und maternale Morbidität und Mortalität, kindliche Asphyxie, mütterliche und kindliche Frakturen sowie kindliche Plexus-brachialis Paresen.
Risikofaktoren und Prävention
»Da eine Schulterdystokie unabhängig von bekannten Risikofaktoren auftreten kann, sollte bei einer vaginalen Geburt immer mit dem Auftreten gerechnet werden« (Statement 3.S3, Konsensusstärke +++)
In der S2k-Leitlinie wird darauf hingewiesen, dass die Hälfte aller Schulterdystokien ohne bekannte Risikofaktoren auftreten. Wichtig sind daher gute Vorbereitung und Logistik, gute Kommunikation, ausreichende personelle Ressourcen sowie gute räumliche Ausstattung.
»Schwangeren im Zustand nach Schulterdystokie bzw. mit erheblichen Risiken für eine Schulterdystokie soll im Hinblick auf eine angestrebte vaginale Geburt (…) eine Geburt in einem geburtshilflichen Zentrum mit angeschlossener Kinderklinik empfohlen werden.« (Empfehlung 3.E2, Konsensusstärke +++)
Bei der Beratung zum Geburtsmodus aufgrund des kindlichen Schätzgewichts wird empfohlen zu differenzieren, ob ein mütterlicher Diabetes vorliegt oder nicht.
»Eine Sectio Caesarea soll bei Schwangeren ohne Diabetes ab einem Schätzgewicht von 5.000 g, bei Schwangeren mit einem Diabetes ab einem Schätzgewicht von 4.500 g angeboten werden.« (Empfehlung 3.E7, Konsensusstärke +++)
Erkennen einer Schulterdystokie
In der S2k-Leitlinie wird darauf hingewiesen, dass die Diagnosestellung einer Schulterdystokie retrospektiv einfach erscheinen mag, dies im Geburtsverlauf selbst jedoch nicht ist. Ein herausfordernder Aspekt bei der Diagnose einer Schulterdystokie besteht darin, dass es bei vaginalen Geburten nach der Geburt des kindlichen Köpfchens zu einer physiologischen Wehenpause kommt. Das kindliche Köpfchen verbleibt während dieser Pause häufig in unrotiertem Zustand und dreht sich erst mit der nächsten Wehe. Dies kann zur Fehldiagnose einer Schulterdystokie bei physiologischem Geburtsverlauf führen. Das kindliche Köpfchen kann zu diesem Zeitpunkt aus physiologischen Gründen heraus gar nicht rotieren. In der S2k-Leitlinie wird dies durch Literatur untermauert, wonach bei physiologischen Geburtsverläufen dabei meist ein Intervall von 60 Sekunden überschritten wird.
In diesem Zusammenhang wird auf Evidenzen verwiesen, dass gerade ein abwartendes Vorgehen während dieser sensiblen Phase der Geburt das Risiko einer Schulterdystokie senkt. Die Leitlinie gibt Hinweise darauf, dass die Entwicklung des kindlichen Rumpfes direkt nach der Geburt des kindlichen Köpfchens erhebliche Verletzungen bei Mutter und Kind bewirken kann. Greift man während dieser Phase zu früh ein, kann dadurch eine Schulterdystokie verursacht werden. Das Abwarten während dieser Phase wird in der Leitlinie protektiv bewertet.
»Nach dem Austritt des kindlichen Kopfes sollte die physiologische Rotation der Schultern bis zur nächsten Wehe abgewartet werden, um nicht durch eine forcierte Kindsentwicklung eine Schulterdystokie zu provozieren.« (Empfehlung 1.E1, Konsensusstärke +++)
Tritt eine Schulterdystokie auf, gelten als Leitsymptome das »Turtle-Sign« (Schildkrötenzeichen) und eine fehlende externe Rotation des bereits geborenen kindlichen Köpfchens. Beide Symptome stehen in direktem Zusammenhang zur vorliegenden Problematik der kindlichen Schultern: Da die kindlichen Schultern bei einem hohen Schultergeradstand nicht regelrecht in den mütterlichen Beckeneingang oder bei einem tiefen Schulterquerstand nicht regelrecht in den längsovalen mütterlichen Beckenausgang eintreten, bleibt die externe Rotation des kindlichen Köpfchens aus. Der kindliche Kopf zieht sich nach seiner Geburt leicht in den Geburtskanal zurück. Er erscheint wie aufgepresst auf den Scheidenausgang und kann an den eingezogenen Kopf einer Schildkröte erinnern. Empfohlen wird zunächst ein abwartendes Vorgehen unter Berücksichtigung von vier Prädiktoren bei der Diagnose einer Schulterdystokie:
- Schwierigkeit bei der Geburt des Gesichts und des Kinns
- Schildkrötenzeichen
- Ausbleiben der äußeren Rotation des kindlichen Kopfes
- Ausbleiben der kindlichen Schulterrotation.
Management und Handlungsalgorithmus
Tritt eine Schulterdystokie auf, soll einem Handlungsalgorithmus gefolgt, jedoch gleichzeitig individuell gehandelt werden.
Gute Kommunikation
Eine gute Kommunikation innerhalb des Teams sowie mit den Eltern wird empfohlen.
»Mit dem Erkennen soll die Diagnose Schulterdystokie allen an der Geburt beteiligten Personen klar kommuniziert werden.«(Empfehlung 4.E15, Konsensusstärke +++)
Klärung Leitung und Dokumentation
Die erfahrenste anwesende Fachperson soll die Leitung der Geburt übernehmen. Eine weitere Person soll im Idealfall mit der Dokumentation beauftragt werden.
»Die Gebärende soll bei einer Schulterdystokie über die eingetretene Notfallsituation und die dadurch erforderlichen Manöver situationsgerecht informiert werden.« (Empfehlung 5.E18, Konsensusstärke +++). Bei der Dokumentation soll der exakte »inhaltliche und zeitliche Ablauf aller involvierten Beteiligten, deren Diagnosen, Befunde, Maßnahmen bzw. Manöver und Folgen lückenlos beschrieben werden.«
»Bei Geburten mit Schulterdystokie soll minutengenau, exakt handlungsgetreu und für fachkundige Dritte nachvollziehbar dokumentiert werden.«(Empfehlung 7.E31, Konsensstärke +++)
Analgesie
Eine ausreichende Analgesie der Gebärenden soll gewährleistet sein.
»Eine ausreichende Analgesie der Mutter ist ein grundlegender Baustein für die Kindsentwicklung bei einer Schulterdystokie – insbesondere bei den Second-Line und Last-Resort-Manövern.« (Statement 5.S13, Konsensusstärke +++)
Debriefing
»Nach einer Schulterdystokie sollte den involvierten Teammitgliedern eine Nachbesprechung (Debriefing) angeboten werden.« (Empfehlung 7.E32)
- S1-Leitlinie: Einfache Handlungsempfehlung, die durch eine >Expert:innengruppe erarbeitet wurde
- S2-Leitlinie: Entweder eine konsensbasierte Handlungsempfehlung (S2k) die auf einer strukturierten Konsensfindung beruht, oder eine evidenzbasierte Handlungsempfehlung (S2e), der eine systematische Literaturrecherche vorausgeht
- S3-Leitlinie: Umfassendste Handlungsempfehlung, die eine systematische Evidenzbewertung sowie eine strukturierte Konsensfindung beinhaltet.
- Starke Empfehlung mit hoher Verbindlichkeit mit dem Ausdruck »soll/soll nicht«
- Einfache Empfehlung mit hoher Verbindlichkeit mit dem Ausdruck »sollte/sollte nicht«
- Offene Empfehlung mit geringer Verbindlichkeit mit dem Ausdruck »kann/kann nicht«.
Manöver anwenden
Verschiedene Manöver werden zur Lösung der Schultern empfohlen. Sie werden in First-Line-, Second-Line- sowie Last-Resort-Manöver unterteilt. Aufgrund des akuten Auftretens mit hohem Verschlechterungspotenzial wird in der Leitlinie ein enges Behandlungsfenster von circa fünf Minuten beschrieben (S. 62).
»Da die Schulterdystokie einen Notfall darstellt, der jederzeit eintreten kann, sollte jede Einrichtung, die Geburtshilfe anbietet, einen Notfallplan zur Behandlung einer Schulterdystokie vorhalten.« (Empfehlung 4.E14, Konsensusstärke +++)
First-Line-Manöver
Als first-Line-Manöver wird eine rasche Durchführung folgender Maßnahmen empfohlen, wobei keine feste Reihenfolge oder Abstufung existiert:
- Kommunikation der Notfallsituation
- Übernahme der Geburt durch die erfahrenste anwesende Fachperson
- Aufforderung der Gebärenden zu ruhiger Atmung ohne Pressen
- Abstellen einer möglichen Oxytocininfusion
- Verlassen der Gebärwanne bei geplanter Wassergeburt
- Unterlassen jeglicher Form eines Fundusdrucks
- Keine forcierte Traktion am oder äußere Überdrehung des Kopfes
- Entleerung der Harnblase
- Positionierung der Gebärenden.
Gaskin-Manöver
Für das Gaskin-Manöver wird eine Erfolgsrate von 25–83 % angegeben.
Beim Gaskin-Manöver wird die Gebärende dabei unterstützt, den Vierfüßlerstand einzunehmen. Dadurch kippt der Uterus nach vorn und der Winkel zwischen kindlicher Längsachse und Beckeneingang verändert sich. So entsteht Platz und die Schultern des Kindes können sich passiv lösen. Hierzu existieren verschiedene Varianten, die weitere Positionsänderungen bewirken.
Eine Variante kann die weitere Verschiebung der Beckenräume sein, beispielsweise durch Einnahme der Sprinterposition oder des Hirtenstands. Eine andere Variante umfasst das Abstützen auf den Unterarmen, wodurch sich die vordere Schulter aufgrund der Schwerkraft von der Symphyse lösen kann. In der S2k-Leitlinie wird dies grafisch aufgezeigt.

Abbildung 1: Das Gaskin-Manöver, modifiziert nach Harder.
McRoberts-Manöver (klassisch und modifiziert)
Für das McRoberts-Manöver wird in der S2k-Leitlinie eine Erfolgsrate von 15–50 % angegeben.
Beim McRoberts-Manöver werden zunächst die Beine einer in Rückenlage gebärenden Frau einmalig maximal im Hüftgelenk gebeugt. Dies begradigt das Os sacrum relativ zur Lendenwirbelsäule und reduziert den Neigungswinkel der Symphyse. Falls es danach nicht zur Lösung der Schulter kommt, wird ein suprapubischer Druck während der maximalen Hüftflexion empfohlen.
Das McRoberts-Manöver kann mit oder ohne suprapubischen Druck ausgeübt werden. Hierzu enthält die S2k-Leitlinie ein Statement zur Anwendung eines modifizierten McRoberts-Manövers. Dieses umfasst zunächst die leichte Überstreckung der Beine im Hüftgelenk durch ein Absenken des Gebärbetts. Dadurch senkt sich die Symphyse und der Beckeneingang vergrößert sich. Anschließend erfolgt eine Beugung der Beine in den Hüftgelenken, um die Symphyse über die Schulter des Kindes zu heben und durch diese Bewegung eine Erweiterung des Beckenausgangs zu erreichen. Diese Bewegungen sollen dreimal hintereinander wiederholt werden. Auch hierzu bietet die Leitlinie Grafiken (siehe Abbildungen 2 bis 4).

Abbildung 2: Beim McRoberts-Manöver werden die Beine der Gebärenden in Rückenlage einmalig maximal im Hüftgelenk gebeugt. Falls sich die Schulter nicht löst, wird suprapubischer Druck empfohlen.
Abbildung 3: Wenn zwei Fachkräfte das McRoberts-Manöver durchführen, übt eine während der maximalen Hüftflexion den suprapubischen Druck aus.
Abbildung 4: Suprapubischer Druck: Die Richtung der Krafteinwirkung erfolgt von der Seite des kindlichen Rückens auf die hinter der Symphyse liegende Schulter, sowohl nach dorsal (bis unter die Symphyse) als auch lateral (in Richtung des fetalen Gesichts).
- Zustand nach Schulterdystokie (Wiederholungsrisiko 10–15 %)
- Makrosomie > 4.500 g
- Diabetes mellitus
- Maternale Adipositas
- Geburtseinleitung
- Übertragung > 42 SSW
- Multiparität
- Fetaler Kopfumfang < fetaler Abdomenumfang mit Differenz > 2,5 cm
- Maternale Körpergröße < 160 cm
- Männliches Geschlecht des Kindes
- Mütterliches Alter über 35 Jahre
- Exzessive Gewichtszunahme während der Schwangerschaft
- Verzögerte Austrittsphase der Geburt
- Vaginal-operative Geburt.
Suprapubischer Druck
»Das klassische McRoberts-Manöver in Kombination mit einem suprapubischen Druck hat höhere Erfolgsraten als das McRoberts-Manöver allein. Spätestens bei fehlendem Erfolg soll ein das Manöver ergänzender suprapubischer Druck erwogen werden.« (Empfehlung 5.E20, Konsensusstärke +++) (siehe Abbildung 4)
Walchersche Hängelage
»Die Datenlage zur Erfolgsrate und zum Stellenwert der Walcherschen Hängelage sind unklar.« (Statement 5.S12)

Abbildung 5: Walchersche Hängelage: Mit Erkennen der Schulterdystokie wird ein Polster unter das Gesäß der Gebärenden geschoben, während ihre Beine so weit wie möglich über die Kante von Liege, Tisch oder Bett herabhängen, um die Conjugatavera diagonalis zu vergrößern.
Episiotomie
»Das Anlegen oder die Erweiterung einer bestehenden Episiotomie kann im Rahmen einer Schulterdystokie erwogen werden, um bei unzureichenden Platzverhältnissen den vaginalen Zugang zur Durchführung interner Manöver zu optimieren.« (Empfehlung 5.E21, Konsensusstärke +++)
Die Leitlinie nimmt Bezug darauf, dass eine Episiotomie nicht zwingend erforderlich ist, da die Dystokie durch eine Verkeilung knöcherner Strukturen und nicht durch ein Problem der Weichteile bedingt ist (S. 71).
Second-Line-Manöver
Als Second-Line-Manöver werden die hintere und vordere Armlösung sowie das innere Rotationsmanöver nach Rubin und nach Woods beschrieben. Second-Line-Manöver werden unverzüglich empfohlen, wenn primäre Manöver frustran verlaufen. Da die Erfolgsraten der hinteren Armlösung mit 72–97 % deutlich höher als die der inneren Rotationsmanöver mit 43–77 % liegen, wird empfohlen, mit der hinteren Armlösung zu beginnen.
»Als erstes Second-Line-Manöver sollte, wenn die hintere Schulter erreichbar ist, die hintere Armlösung bzw. der hintere Achselzug erfolgen. Ansonsten sollten die Rotationsmanöver erfolgen.« (Empfehlung 5.E22)
Hintere Armlösung
Die hintere Armlösung umfasst ein differenziertes Vorgehen, das mit der Diagnose beginnt. Zunächst wird mit der motorisch dominanten Hand vaginal untersucht und und festgestellt, ob und wie sich die hintere Schulter des Kindes in der mütterlichen Kreuzbeinhöhle befindet. Diese Diagnose ist ausschlaggebend für die Wahl der Folgemanöver.
Ist die hintere kindliche Schulter erreichbar, ohne die Kreuzbeinhöhle auszufüllen, sollte die hintere Armlösung nach Jacquemier, der hintere Achselzug nach Menticoglou oder die hintere Achselschlinge nach Cluver durchgeführt werden (siehe Abbildungen 6 bis 8). Schwieriger, jedoch alternativ möglich bei dieser Diagnose, ist die direkte Lösung der vorderen Schulter nach Couder (siehe Abbildung 9) oder das Schulter-»Shrug«-Manöver. Befindet sich die hintere Schulter bereits in der Kreuzbeinhöhle, kann die vordere Schulter nach Woods oder Rubin gelöst werden.
In der Leitlinie wird dies ausführlich mit Grafiken veranschaulich.

Abbildung 6: Hintere Armlösung nach Jacquemier (Blick von abdominal in das kleine Becken). Nach Aufsuchen des hinteren Armes über den Humerus (1) Beugen des Unterarms in der Ellenbeuge (2) und Entwicklung (Streckung) desselben über die Brustseite des Kindes (3). Oft kommt die vordere Schulter bereits nach diesem Schritt frei. Zur Unterstützung kann ein moderater Druck (kein Zug!) auf den kopf (dammwärts) und suprasymphysärer Druck zur Entwicklung der vorderen Schulter erforderlich sein.

Abbildung 7: Hinterer Achselzug nach Menticoglou: Hochhalten des fetalen Kopfes durch eine Hilfsperson (1) beim Eingehen in die Vagina mit den Mittelfingern beider Hände mit gleichzeitigem Druck auf den Daumen durch die gebeugten Ring- und Kleinfinger. Platzieren der beiden Mittelfinger von ventral beziehungsweise dorsal in der fetalen Axilla – hier der Blick von abdominal auf die hintere Schulter (2). Kontrollierter Zug in dorso-caudaler Richtung (3).
Schulter-»Shrug«-Manöver
Die kindliche Schulter wird hierbei durch eine Bewegung in der kindlichen Achsel gelöst. Die kindliche Schulter wird zwischen Daumen und Zeigefinger geschient, gedreht und anschließend geboren. Dies wird durch den Namen »Shrug«-Manöver zum Ausdruck gebracht.
Das Manöver kann vollständig unter folgendem Link angeschaut werden: > https://www.youtube.com/watch?v=ZvI-ch71dFk

Abbildung 8: Hintere Achselschlinge nach Cluver: Bei Versagen des hinteren Achselzuges nach Menticoglou Einführen einer Schlaufe (1) eines herkömmlichen Urinbeutels oder Absaugkatheters (in der Hälfte gefalteter Schlauch über dem Zeigefinger (2) um die Axilla (Schlauch darf nicht zu weich/dehnbar sein) – hier der Blick von abdominal auf die hintere Schulter (3). Kontrollierter Zug in dorso caudaler Richtung (4). Grundsätzlich sanfter, kontinuierlicher Zug entlang der fetalen Längsachse.

Abbildung 9: Direkte Lösung der vorderen Schulter nach Couder: Im ersten Schritt wird der kindliche Kopf dammwärts gekippt, während die andere Hand unterhalb der mütterlichen Symphyse und entlang des kindlichen Oberarms in den Geburtsweg eingeführt wird (1). Unter Schienung des vorderen Oberarms des Kindes zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger 2) erfolgt eine Rotationsbewegung des kindlichen Rückens, um die Schulter zu lösen und die kindliche Hand unmittelbar unter der Symphyse zu entwickeln (3).
Vordere Armlösung
Zur vorderen Armlösung werden der umgekehrte Schuhlöffel, das innere Rotationsmanöver nach Rubin und das innere Rotationsmanöver nach Woods beschrieben (siehe Abbildungen 10, 11 und 12).
Kombiniertes Rubin- und Woods Manöver
Rubin- und Woods-Manöver können kombiniert werden, indem beide Hände von der Bauch- und Rückenseite des Kindes in die Vagina der Gebärenden eingeführt werden. Simultan wird das Rubin- und Woods- Manöver durchgeführt (siehe Abbildung 13).
Last-Resort-Manöver
Die Last-Resort-Manöver werden in der S2k-Leitlinie als besondere geburtshilfliche Herausforderung unter starker emotionaler Belastung aller Beteiligter beschrieben, wenn First-Line- und Second-Line-Manöver nicht zur Geburt des Kindes geführt haben. Verstirbt das Kind, bevor es geboren wird, steht bei der Wahl weiterer Schritte die Vermeidung mütterlicher Morbidität im Vordergrund.
»Im Rahmen der Last-Resort-Manöver sollte zunächst ein abdominaler Rettungsversuch durchgeführt werden, gefolgt vom klassischen oder modifizierten Zavanelli-Manöver, ggf. unter zusätzlicher Kleidotomie. Die Symphysiotomie hat einen untergeordneten Stellenwert.« (Empfehlung 5.E24, Konsensusstärke +++)
Abdominaler Rettungsversuch
Der abdominale Rettungsversuch umfasst die Lösung der vorderen Schulter des Kindes im Rahmen einer sekundären Sectio Caesarea. Das Kind wird nach der Lösung der vorderen Schulter vaginal geboren.

Abbildung 10: Umgekehrter Schuhlöffel, Blick von abdominal: Einbringen von Zeige- und Mittelfinger in den Geburtsweg zwischen Rückseite der vorderen Schulter und Symphysenunterkante. Unter Anleitung zum Pressen wird mit den einliegenden Fingern Druck auf die vordere Schulter in Richtung Rektum der Gebärenden ausgeübt (blauer Pfeil).
Zavanelli-Manöver
Das Zavanelli-Manöver beschreibt die Durchführung einer sekundären Sectio Caesarea, bei der das Kind zurückgeschoben und abdominal geboren wird. Das modifizierte Zavanelli-Manöver beschreibt eben dieses Manöver, bei dem nach dem Zurückschieben und nach der Lösung der Schulter das Kind doch noch vaginal geboren wird. Die Geburtsmechanik wird beim Zurückschieben beachtet.
Brechen der kindlichen Klavikula
Das Brechen der kindlichen Klavikula wird zur Verkleinerung des Schulterumfangs in vielen Leitlinien aufgegriffen. Die Wirksamkeit der Methode wird jedoch in der vorliegenden S2k-Leitlinie als nicht ausreichend belegt eingestuft.

Abbildung 11: Internes Rotationsmanöver nach Rubin: Nach Eingehen mit der Hand in den Geburtsweg an der Rückseite des Kindes erfolgt eine Rotation der Schulterebene durch Druck (blauer Pfeil) auf das Schulterblatt in Richtung der Bauchseite des Kindes (1) um 90°, bis die vordere Schulter entwickelt werden kann (2).

Abbildung 12: Internes Rotationsmanöver nach Woods, Blick von abdominal auf die Finger an der hinteren kindlichen Schulter: Nach Eingehen mit der Hand in den Geburtsweg an der Bauchseite des Kindes erfolgt eine Rotation der Schulterebene durch Druck (blauer Pfeil) auf die hintere Schulter in Richtung der Rückenseite des Kindes (1), um eine Rotation der Schulterebene um 90° einzuleiten, bis die vordere Schulter entwickelt werden kann (2). Je nach Platzverhältnis kann das Manöver auch an der vorderen Schulter des Kindes durchgeführt werden.
Symphysiotomie
Die S2k-Leitlinie benennt die Symphysiotomie als letztes der Last-Resort-Manöver in Intubationsnarkose oder als erstes der Last-Resort-Manöver in Lokalanästhesie. Hierzu wird die Urethra mit einem tastbaren Katheter geschient. Eine Fixierung der Beine erfolgt lateral. Anschließend erfolgt eine Längsspaltung der Symphyse über einen Hautschnitt am mons pubis unter Abdrängung der Urethra nach laterodorsal.

Abbildung 13: Kombiniertes Rubin- und Woods-Manöver: Beidhändiges Eingehen in den Geburtsweg von der Bauch- und Rückenseite des Kindes (1) und simultanes Durchführen des Rubinund Woods-Manövers (2) zur Lösung der kindlichen Schulter hinter der Symphyse. Die blauen Pfeile zeigen die Druckrichtungen.
Postpartale Komplikationen
Nach einer Schulterdystokie können schwerwiegende mütterliche und kindliche Komplikationen auftreten. Die neonatale Komplikationsrate beträgt 5–10 %.
»Eine vaginale Untersuchung auf Geburtsverletzungen unter besonderer Berücksichtigung des Analsphinkters soll nach einer Geburt, die durch eine Schulterdystokie kompliziert wurde, durchgeführt werden.« (Empfehlung 6.E26)
»Nach einer Schulterdystokie soll der Gesundheitszustand des Neugeborenen durch eine in der postnatalen Anpassung von Neugeborenen geschulte Fachperson (bevorzugt eine Kinderärztin bzw. ein Kinderarzt) beurteilt werden.« Empfehlung 6.E27)
Fazit und Ausblick
Die Leitlinie Schulterdystokie greift ein komplexes geburtshilfliches Thema umfassend auf und bietet lehrreiche Grafiken und Texte für die Lösung einer Schulterdystokie in der Praxis. Die S2k-Leitlinie geht mit bemerkenswerten Aspekten einher: Zum einen wird die Diagnose einer Schulterdystokie mit ihrer einhergehenden Herausforderung diskutiert: Die Diagnose sollte zwar so schnell wie möglich erfolgen, kann aber aufgrund physiologischer Abläufe häufig nicht direkt mit der Geburt des kindlichen Köpfchens gestellt werden. Dies begründet sich aus der Physiologie des Gebärens, weil nach der Geburt des kindlichen Köpfchens meist eine physiologische Wehenpause eintritt, bevor das Köpfchen sich dreht.
Dieser Aspekt ist bemerkenswert, weil gerade nach dem Auftreten einer Schulterdystokie häufig auch forensische Fragen geklärt werden müssen, bei denen die Zeitfrage und getroffene Handlungsentscheidungen eine Rolle spielen können. Es wird in der Leitlinie klar kommuniziert, dass Gebären mit Zeit, Geduld und Ruhe physiologische Abläufe fördert und somit insgesamt besser für die Gesundheit der Mutter und des Kindes einzustufen ist. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass eine Schulterdystokie durch Ungeduld während dieser Geburtsphase provoziert werden kann. Es wird klar kommuniziert: Eine vermeintlich »schnelle Lösung«, ein vorzeitiges Eingreifen während der Geburtsphase, kann die »ursächliche Auslösung« einer Schulterdystokie sein. Bemerkenswert ist auch der offene Umgang mit »vermeintlichen Risiken« im Zusammenhang mit einer Schulterdystokie. Verständlich wird das Ziel aufgegriffen, dass es wichtig ist, Risiken vorausschauend zu vermeiden. Jedoch wird dieses Gesamtziel kritisch eingestuft, weil ungefähr die Hälfte aller Schulterdystokien eben ohne assoziierte »Risikofaktoren« auftreten. Schaut man sich die vermeintlichen Risikofaktoren an, lässt ein Teil davon zudem keine Reduktion zu. So lassen sich weder die Multiparität einer Gebärenden noch deren Körpergröße als Grund für eine primäre Sectio mit der Indikation der möglichen Vermeidung einer Schulterdystokie rechtfertigen, weil eine Sectio Caesarea als alternativer Geburtsmodus ebenso mit Risiken einhergeht. Nachdem sowohl die Terminüberschreitung wie auch die Geburtseinleitung zu den Risikofaktoren zählen, kann allenfalls abgewogen werden, welches mit einem allgemein geringeren Risiko einhergeht.
Sinnvoll scheint der Fokus auf anamnestische Aspekte zu sein, beispielsweise eine vorausgehende Schulterdystokie mit einem Wiederholungsrisiko von 10–15 %, und in diesem Zusammenhang zu überlegen, ob eventuell weitere Hinweise beispielsweise auf eine Beckenanomalie vorliegen, die bei der Geburtsplanung berücksichtigt werden können.
Bemerkenswert ist zudem die Vielfalt der dargestellten Behandlungsoptionen. Diese S2k-Leitlinie stellt eine große Auswahl verschiedener Maßnahmen zur Lösung einer Schulterdystokie dar. Die verschiedenen Manöver stammen aus Lehrbüchern aus mehreren Jahrhunderten sowie aktuellen Publikationen. Damit geben sie Einblicke in den zugrundeliegenden großen Schatz geburtshilflicher Erfahrung und aktueller Forschung. Diese Leitlinie stellt zudem nicht nur ein breites Spektrum an Wissen dar, sondern bereitet es auf, indem sie die verschiedenen Manöver in First-Line, Second-Line und Last-Resort-Manöver einteilt. Dies hat das Potenzial, begründet ein zielgerichtetes Management der Lösung einer Schulterdystokie in der Praxis zu ermöglichen.
Durch diese S2k-Leitlinie wird das Bewusstsein dafür geschärft, dass bei vorliegender Schulterdystokie verschiedene Lösungsoptionen existieren. Werden diese sinnvoll und aufeinander aufbauend umgesetzt, kann diese Leitlinie nachhaltig die Versorgungsqualität verbessern.
Auffallend ist, dass sowohl Empfehlungen als auch Statements fast immer mit +++ erfolgen. Dies kann einen Hinweis auf sehr effektive Diskussionen und Vorarbeit zur Leitlinie sein, jedoch auch in Frage stellen, wie kritisch konstruktiv tatsächlich der Diskurs bei der Konsensuskonferenz ablief.
Zusammenfassend liegt die Stärke dieser S2k-Leitlinie in der Klarheit, dem Aufbau und der inhaltlichen Ausrichtung. Statement 3.S3 bringt die zwar nicht angenehme, jedoch existente geburtshilfliche Wahrheit zur Schulterdystokie auf den Punkt: Mit dieser Komplikation ist bei einer vaginalen Geburt immer zu rechnen. Dabei ist die Diagnose herausfordernd und der Risiko-Vermeidungs-Ansatz komplex, da eine Schulterdystokie durch Ungeduld während der Geburt selbst provoziert werden kann. Prognostische Maßnahmen bleiben limitiert. In der Praxis existieren verschiedene und umfassende Behandlungsoptionen: Diese sollten erlernt, gelehrt, thematisiert und praktisch geübt werden.
Insgesamt stellt diese S2k-Leitlinie nicht nur eine sehr praxisorientierte, sondern auch eine argumentativ sehr gut durchdachte, umfassende und grafisch sehr gut aufgearbeitete Leitlinie dar. Dieser Expert:innenkonsens sollte auch forensische Berücksichtigung finden. Es wäre wünschenswert, diese sehr gelungene Leitlinie langfristig auf das Niveau einer S3-Leitlinie anzuheben.