Die Etablierung eines Hebammenkreißsaals wie in Bietigheim sorgt mitunter für einen Spill-over-Effekt. Dabei fördert das neu geschaffene das herkömmliche System.
Foto: © Martin Stollberg, RKH Gesundheit
Der Ärztliche Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Bietigheim sieht die Einführung des Hebammenkreißsaals als Erfolgsgeschichte. Geburtenzahlen, Gesundheit und Zufriedenheit steigen, während Interventionsraten und Personalnot sinken.
Seit 14 Jahren wird in der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Bietigheim das Betreuungsmodell Hebammenkreißsaal angeboten, zusätzlich zum ärztlich geleiteten interdisziplinären Kreißsaal. Seit einem Jahr ist die Abteilung für Frauengesundheit Nordwürttemberg mit den beiden Standorten Ludwigsburg und Bietigheim fusioniert. Die Standorte haben unterschiedliche Behandlungsschwerpunkte: In Ludwigsburg ist das gynäkologische Krebszentrum, das Brustzentrum und die Geburtsabteilung Level I verortet. In Bietigheim besteht schwerpunktmäßig das Myomzentrum, das Zentrum für integrative Medizin und das medizinische Versorgungszentrum »ambulantes Operieren«. Die Geburtsabteilung betreut Frauen, die den Wunsch haben, bei ihrer natürlichen Geburt unterstützt zu werden. Die Assistent:innen rotieren im Rahmen ihrer Facharztausbildung innerhalb beider Standorte. Insgesamt kommen an beiden Standorten zusammen rund 4.500 Kinder im Jahr zur Welt.
Der Hebammenkreißsaal ist kein Konkurrenzmodell zum interprofessionellen Kreißsaal, sondern eine Erweiterung des geburtshilflichen Angebots. Beide Abteilungen arbeiten in enger Kooperation miteinander, Überleitungen sind möglich. Grundlage dafür ist ein interdisziplinär erarbeiteter Kriterienkatalog (Sayn-Wittgenstein, 2007). Das HKS+-Zertifikat des DHV wird angestrebt.
Ein neues Betreuungsmodell
Welche Gründe trugen vor 14 Jahren zur Gründung eines Hebammenkreißsaals bei? Zum einen war es der Wunsch der Hebammen selbst, neue Wege gehen zu dürfen. Es bestand eine generelle Unzufriedenheit mit der damals praktizierten Geburtshilfe, die geprägt war durch ein sehr interventionsreiches und betreuungsarmes Vorgehen. Die Sectiorate betrug 34 %. Zusätzlich nahmen durch ein sehr kompetitives Umfeld die Geburtenzahlen sukzessive ab. In dieser Zeit kamen circa 1.100 Kinder in Bietigheim zur Welt. Auch bestand die Sorge, dass eine abnehmende Geburtenzahl die zukünftige Existenz der Geburtsabteilung in Frage stellen könnte.
Der Blick fiel auf ein neues Betreuungsmodell, den Hebammenkreißsaal: Die Entscheidung zur Gründung des ersten hebammengeleiteten Kreißsaales in Deutschland fiel 1998 auf dem nationalem Hebammenkongress des BDH in Bremen. 2003 konnte in Bremerhaven der erste hebammengeleitete Kreißsaal eröffnet werden (siehe Seite 42ff.). Bildlich gesprochen war Deutschland im Vergleich zum Ausland mit der Gründung eines Hebammenkreißsaals aber keine »Frühgebärende«: Im Vereinigten Königreich hatte die Einführung eines Perinatalregisters (Oxford Database of Perinatal Trials) im Jahr 1986 den Effekt, dass anhand wissenschaftlicher Kriterien die Wirksamkeit des geburtshilflichen Handelns überprüft wurde. Dies führte zu einer neuen Diskussion über die Betreuungskriterien von Schwangerschaft und Geburt (Enkin et al., 1998). Für Frauen mit einem gesunden Schwangerschaftsverlauf wurden alternative Geburtsmöglichkeiten benannt.
Im Vereinigten Königreich kam es in den 1990er Jahren zu einer Gründung von sogenannten »Midwife-Led-Units«. In diesem Betreuungskonzept werden Frauen während der Geburt ausschließlich und alleinverantwortlich von Hebammen betreut. Parallel dazu kam es in Schweden zur Gründung von Birth Centers. Auch die DACH-Länder Deutschland, Österreich und Schweiz zogen nach mit der Gründung von alternativen Entbindungseinheiten.
Es lässt sich konstatieren, dass wir in Deutschland im Vergleich mit dem Ausland bei der Gründung von hebammengeleiteten Entbindungseinheiten eher »Spätgebärende« sind.
Die Studienlage spricht dafür
Kritiker:innen der hebammengeleiteten Kreißsäle argumentieren gern mit der fehlenden Sicherheit für Mutter und Kind. Doch wie sieht es mit entsprechenden Daten aus? In vielen internationalen Studien wurde die Effektivität des bekannten interprofessionellen Kreißsaals mit dem hebammengeleiteten Betreuungskonzept verglichen. Zielparameter waren Perinatal- und Müttermorbidität. Unterschiedliche Betreuungsmodelle wurden im Hinblick auf den Geburtsmodus und den Einsatz von medizinischen Interventionen verglichen, also zum Einsatz von Analgetika, PDA, Wehenmitteln, Episiotomien und Geburtseinleitungen.
Dabei zeigten sich keine statistisch signifikanten Unterschiede in der fetalen und maternalen Morbidität und Mortalität. Es konnte gezeigt werden, dass gesunde Schwangere, die kein oder ein niedriges anamnestisches Risiko aufweisen, effektiv ausschließlich von Hebammen betreut werden können (MacVicar et al., 1993; Hundley et al., 1997; Waldenstrøm & Nilsson, 1997; Waldenstrøm et al., 1997; Waldenstrøm & Turnbull, 1998; Waldenstrøm et al., 2000; Stewart et al., 2004).
Wissenschaftliche Maßstäbe setzte die Birthplace-Studie 2011 in England (Brocklehurst, 2011). Sie ist mit einem Umfang von 64.538 Schwangeren und in der Methodik einzigartig. Es konnte bewiesen werden, dass im Vergleich zum interprofessionellen Versorgungsmodell Geburten im hebammengeleiteten Konzept zu einer niedrigeren Interventionsrate und höheren Spontangeburtsrate bei gleichem Ergebnis für Neugeborene führen. Das gilt unter der Voraussetzung, dass die Schwangeren kein oder ein geringes anamnestisches Risiko mitbringen und die Geburten terminnah sind.
Das führte zu einer Überarbeitung der NICE-Guideline des National Institute for Health and Care Excellence »Intrapartum care for healthy women and babies« (Brocklehurst, 2011). Seitdem ist es im Vereinigten Königreich verpflichtend, diese Daten bei der Beratung zur Wahl des Geburtsortes mit einzubinden.
Wie sieht es in Deutschland mit entsprechenden Daten aus?
Gefördert vom Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen untersuchte das Forschungsprojekt »Geburt im hebammengeleiteten Kreißsaal« (GEscHlcK) unter anderem die medizinische Sicherheit des Hebammenkreißsaals (siehe Seite 10ff.).
Es erfolgte eine retrospektive Analyse aller hebammengeleiteter Geburten am Universitätsklinikum Bonn über einen Zeitraum von acht Jahren (2010–2017). Dabei konnte bewiesen werden, dass auch nach Weiterleitung aus dem hebammengeleiteten Kreißsaal (HGK) in den ärztlich geleiteten, interprofessionellen Kreißsaal (ÄGK) kein statistischer Unterschied bei der perinatalen Mortalität und Morbidität im Vergleich mit der Kontrollgruppe vorliegt.
Dabei kam es zu einer statisch niedrigeren Interventionsrate: weniger vaginal operative Geburten (HGK 6,2 % vs. ÄGK 9,5 %), geringere Dammschnittrate (4,3 % vs. 7,9 %), niedrigere PDA-Rate (19,1 % vs. 41,2 %) (Brocklehurst, 2011).
Erfahrungen in Bietigheim
Was ist die Voraussetzung für eine gelingende Koexistenz beider Betreuungskonzepte innerhalb einer Geburtsabteilung?
Der von den Hebammen und Ärzt:innen gemeinsam erarbeitete Kriterienkatalog für die Aufnahme in den Hebammenkreißsaal und die gegebenenfalls erforderliche Weiterleitung in den interprofessionellen Kreißsaal bei Auftreten von Besonderheiten ist ein fester Bestandteil für das Erfolgskonzept. Die Kommunikation, wann übergeleitet wird, muss ebenfalls verbindlich geregelt sein.
Gibt es einen Mehrwert für die Gesamtabteilung einer Geburtsklinik, wenn sich der hebammengeleitete Kreißsaal neben dem interdisziplinären Kreißsaal etabliert hat? Ja, ganz bestimmt. Wir haben in Bietigheim von 2011 bis 2020 die Interventionsraten beobachtet. Die Episiotomierate sank in diesem Zeitraum kontinuierlich von 22,2 % auf 1,8 %. Die Sectiorate konnte von 35 % auf 24,2 % reduziert werden. Auch wurde beobachtet, dass sich ein günstiger Trend zu alternativen, vertikalen Geburtspositionen abgezeichnet hat. Diese stiegen von 44 % auf über 87 % an.
Diese positiven Einflüsse auf alle Geburten wird Spill-over-Effekt bezeichnet. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich das Gesamtteam immer mehr hinterfragt, dass geburtshilfliche Interventionen immer anhand wissenschaftlicher Kriterien bewertet werden müssen.
Was sind »Game-Changer« für die erfolgreiche Zusammenarbeit beider Betreuungskonzepte?
- Kommunikation auf Augenhöhe
- Gegenseitiges Verständnis
- Gemeinsame Fortbildungen und ein einheitlicher Wissensstandard.
Die letzten 14 Jahre haben wir extrem viel in gemeinsame Fortbildungen investiert (siehe Kasten).
Interprofessionelle Fortbildungen
- Beratungs- und Kommunikationskompetenz
- Gebärhaltungen
- CTG-Fortbildung nach FIGO/physiologisches CTG (CTG-XPert Uni Ulm)
- Dokumentation
- Fortbildung Hypnose
- Fortbildung Kinästhetik
- Fortbildung Aromatherapie
- Fortbildung Homöopathie
- Nahtversorgung
- Versorgung Neugeborene, Reanimation
- Begleitung des Teams durch Supervision/ kollegiale Fallbesprechungen
- Geburtshilfliche Klinikstandards
- Skills-Training im Simulationszentrum und In-House-Simulation
Ist die Etablierung per Saldo defizitär?
Als Ärztlicher Direktor bin ich überzeugt, dass sich mittel- bis langfristig die Kosten, die durch zusätzlichen Personalbedarf, Projektierung und Fortbildungsbedarf bedingt sind, amortisieren beziehungsweise, dass sie sich sogar positiv in der Gewinn- und Verlustrechnung niederschlagen. Positiv kann sich auswirken, dass durch den Marketingeffekt mehr Gebärende die Geburtsabteilung wählen. Auch kann die niedrigere Interventionsrate zu niedrigen Kosten bei gleichen DRGs führen.
Die originäre Hebammenarbeit und selbstständiges Arbeiten rücken wieder in den Mittelpunkt. Dies führt zu einer höheren Arbeitszufriedenheit, was einen Magneteffekt im umkämpften Arbeitsmarkt induzieren kann. Wir führen die hohe Bewerberinnenquote bei Hebammen in Bietigheim unter anderem darauf zurück, dass die Hebammen bei uns viel Wertschätzung erhalten und selbstbestimmt arbeiten können. Abbildung 1 zeigt eine grobe Kosten-Nutzenabwägung.
Konkurrenz für ärztliche Geburtshilfe?
Kritiker:innen aus den ärztlichen Reihen führen gelegentlich an, dass die Einführung eines Hebammenkreißsaals den interdisziplinären Kreißsaal verdrängen und somit die Arbeit der ärztlichen Geburtshelfenden überflüssig machen könnte. Der Gynäkologe und Geburtshelfer Prof. Dr. Anton Scharl attestierte in einer Pressemitteilung der DGGG, dass bei 90 % aller Geburten die Anwesenheit eines ärztlichen Geburtshelfers erforderlich ist (Merz et al., 2019).
Die Weiterleitungsrate in den ärztlich geführten Kreißsaal liegt bei 50,3 %. Während also Niedrigrisikogeburten nach strenger Vorauswahl von Hebammen begleitet werden können, ist bei jeglicher Abweichung die Anwesenheit ärztlicher Geburtshelfer:innen nötig. Dies reicht von der Anlage häufig gewünschter Periduralanästhesien (PDA) bis zu pathologischen Geburtsverläufen wie starken Blutungen, Beckenendlagen, Frühgeburten, vaginal-operativen Geburten sowie Kaiserschnitten.
Insgesamt liegt der Anteil an gesunden Schwangeren mit unauffälligem Schwangerschaftsverlauf und Erwartung einer unkomplizierten Geburt in Deutschland nach konservativer Schätzung bei etwa 20 %. Bei einer 50-prozentigen Weiterleitungsrate in den ärztlich geführten Kreißsaal ist in 90 % der Geburten also auch ärztliche Geburtshilfe erforderlich. Wichtig ist zudem, dass eine Geburt im Hebammenkreißsaal eine Geburt in der Klinik ist. Die Ergebnisse zur Sicherheit für Mutter und Kind können nicht auf die außerklinische Geburtshilfe übertragen werden.
Die Kritik, dass ärztliche Geburtshelfer:innen überflüssig werden könnten, ist daher absolut unbegründet.

Fazit
In der Gesamtschau kann ich nach 14 Jahren Hebammenkreißsaal in Bietigheim konstatieren, dass dieses zusätzliche Betreuungsangebot für unsere Gebärenden, Hebammen und Geburtshelfer:innen ein absolutes Erfolgsmodell darstellt.
Die Frauen profitieren unter dem Strich von einer guten, respekt- und vertrauensvollen interdisziplinären Zusammenarbeit. Die Zufriedenheit beider Berufsgruppen steigt, was ein absoluter Vorteil am umkämpften Arbeitsmarkt für gute Hebammen und Geburtshelfer:innen darstellt.
Das Gelingen einer interventionsarmen Geburt ist an eine gute Risikostratifizierung im Vorfeld geknüpft. Die Daten für eine niedrige perinatale Mortalität und Morbidität gelten eben nur für Frauen mit anamnestisch niedrigem Risiko. Unbestritten sind qualitätsstiftende Spill-over-Effekte über die Zeit in den interdisziplinären Kreißsaal (siehe Abbildung 2).
DGGG. (2020). Bei 90 % aller Geburten ist die Anwesenheit von ärztlichen GeburtshelferInnen erforderlich. Pressemitteilung vom 1.9. https://www.dggg.de/presse/pressemitteilungen-und-nachrichten/bei-90-aller-geburten-ist-die-anwesenheit-von-aerztlichen-geburtshelferinnen-erforderlich
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