
Prof. Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein, Hebamme und Professorin für Pflege- und Hebammenwissenschaft an der Hochschule Osnabrück: „Wir müssen die Chance zur selbstbestimmten Qualitätsdefinition ergreifen.“ Foto: privat
Alle schwangeren Frauen sollten in Deutschland die Chance haben, eine normale Geburt zu erleben. Deshalb ist ein radikales Umdenken in der Geburtshilfe notwendig. Die hohen Kaiserschnittraten sprechen für sich. Ein aktuelles Forschungsprojekt der Hochschule Osnabrück setzt an dieser Stelle an.
Ein Kernpunkt des Projektes ist es, den Beitrag von Hebammen zur Förderung der physiologischen Geburt in einem Leistungsniveau zu formulieren. Dieses Leistungsniveau ist die unsichtbare Linie, oberhalb der unser professionelles Handeln und die Rahmenbedingungen in den Einrichtungen liegen sollten. Der Verbund Hebammenforschung und das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) haben im Rahmen einer bundesweiten Konsensuskonferenz am 24. Mai an der Hochschule Osnabrück den ersten Expertinnenstandard „Förderung der physiologischen Geburt“ der Fachöffentlichkeit vorgestellt, diskutiert und konsentiert. Das Spektrum der Beiträge aller TeilnehmerInnen zeigt, dass das Thema „Förderung der physiologischen Geburt“ den Puls der Zeit trifft. Das Ziel des Expertinnenstandards „Jede schwangere Frau erhält durch eine Hebamme eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Unterstützung zur Förderung einer physiologischen Geburt“ ist Konsens in der Berufsgruppe.
Dreh- und Angelpunkt für dieses Anliegen ist die Qualitätsentwicklung in der Geburtshilfe. Gemäß der gesetzlichen Vorgaben des fünften Sozialgesetzbuches sollen die geburtshilflichen Leistungen dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen. Ein hoher Qualitätsanspruch wird gefordert. Diese Anforderungen kann unsere Berufsgruppe eigenverantwortlich erfüllen.
Paradox erscheint zunächst, einen individuellen und komplexen Geburtsprozess standardisieren zu wollen. Doch dies ist kein Widerspruch: Denn der Begriff „Standard“ bezieht sich nicht auf die Geburt als solche, sondern auf die Struktur-, Prozess- und Ergebnisebenen in den geburtshilflichen Einrichtungen. Die inhaltlichen Aussagen auf diesen Ebenen bilden das gemeinsame Leistungsniveau der Hebammen in der Geburtshilfe. Diese unsichtbare Linie – um optimale Bedingungen und professionelles, evidenzbasiertes Handeln von ungünstigen Gegebenheiten zu unterscheiden – muss im Rahmen der Qualitätssicherung wissenschaftlich fundiert sein und bedarf eines angepassten, komplexen, methodischen Vorgehens. Hierfür wurde auf die 20-jährige Erfahrung des DNQP zurückgegriffen. Sechs methodische Schritte bilden die Basis, um den Expertinnenstandard zu entwickeln.
Unter anderem hatten fünf Hebammenwissenschaftlerinnen eine umfangreiche Literaturstudie zu den Themen Vorgespräch, Eröffnungs- und Austreibungsperiode durchgeführt. Auf dieser Grundlage entwickelten 14 Kolleginnen aus Wissenschaft und Praxis den nun vorliegenden Expertinnenstandard mit Kommentierung. Ihr Erfahrungswissen, unter anderem aus dem Kreißsaalalltag, bildete die Grundlage dafür. In der Endfassung sind die vielfältigen Anregungen aus der Konsensuskonferenz enthalten.
Wie dieser Expertinnenstandard in der Praxis realisiert werden kann, wird die modellhafte Implementierung – also die konkrete Umsetzung des Expertinnenstandards in der Praxis – in bis zu 15 Einrichtungen zeigen. Ergebnisse aus diesem Verfahren werden im kommenden Jahr in die abschließende Fassung eingehen.
Der Expertinnenstandard bietet die Chance, berufliches Handeln durch die explizite Verständigung auf Ziele und Begründungen zu professionalisieren – eine zentrale Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog über Qualitätsfragen mit anderen Gesundheitsberufen!
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