
Foto: © Katharina Bau
Hebammen gehen traditionell salutophysiologisch an die Geburtshilfe heran, um die Ressourcen und Kompetenzen der Frauen zu fördern. Neue Konzepte erfassen die Vorteile dieser frauenorientierten Haltung gegenüber der pathologischen Sichtweise der Medizin. Komplexe Betreuungsmodelle beschreiben die praktische Umsetzung im klinischen Alltag.
Salutophysiologie ist der Gegenpol zur Pathophysiologie. Der Begriff hat sich langsam über die vergangenen 40 Jahre entwickelt, ausgehend von der Renaissance der Hausgeburt nach neuen modernen Kriterien. Die Pathophysiologie hat sich im medizinischen Modell der Geburtshilfe entwickelt, wird in der Grundausbildung unterrichtet und ist das Fundament aller Leitlinien. Sie wird im Krankenhaus unter nicht-physiologischen Bedingungen erforscht und definiert. Die Salutophysiologie hat sich implizit in der modernen Hebammenpraxis entwickelt – ein modernes Konzept, das altes Wissen integriert. Der Ursprung liegt in den Beobachtungen einer frauenorientierten Hebammenbetreuung, gekennzeichnet durch eine therapeutische, empathische Beziehung in einer kontinuierlichen Begleitung durch Schwangerschaft, Geburt und Exogestation, den Zeitraum von etwa neun Monaten nach der Geburt.
Diese Beobachtungen haben dazu geführt zu verstehen, dass Frauen ein großes Wissen in sich tragen und über viele Ressourcen verfügen, die sie aktivieren können, wenn sie den Raum und das Vertrauen dazu erhalten. Zusammen mit dem Wissen über die physiologischen Vorgänge hat dieses Frauenwissen geholfen, die komplexen Dynamiken des Mutterwerdens besser zu begreifen und angemessener zu behandeln. Hebammen haben schon immer die Ressourcen der Frauen gefördert und sie vor unnötigen medizinischen Interventionen geschützt. Sie sehen die Geburt als einen normalen Prozess an. In diesem Grundvertrauen zeigt sich eine salutogenetische Denkweise.
Das explizite Konzept der Salutophysiologie fußt auf praktischen Beobachtungen, langfristigen Beziehungen mit Familien, Forschung, theoretischen Modellen, Lehre, Begegnung mit vielen Hebammen und internationalen Betreuungsmodellen in der außerklinischen Geburtshilfe. Zwei grundlegende theoretische Modelle, die den globalen Veränderungen und Anpassungsprozessen im Mutterwerden entsprechen, bieten einen theoretischen Rahmen an: Die Salutogenese nach dem Konzept des Soziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) gibt Hinweise für die psychosoziale Anpassung, und die Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie (PNEI) erklärt die physiologische Anpassung in einer globalen Perspektive (Rogers 1996; Bottaccioli 2017).
Mutterwerden ist eine totale Umstellung im Leben, die alle Aspekte der Person und ihres Umfeldes einbezieht und eine große aktive Anpassung fordert, auf verschiedenen Ebenen. Dieser Komplexität wird das medizinische Modell allein nicht gerecht.
Erstes Ziel der Salutophysiologie ist, Gesundheit zu erhalten, Gesundheit zu schaffen über Anpassung an die dynamischen Veränderungen, indem sie die endogenen Ressourcen und die physiologischen Prozesse fördert.
Die Motivation für Hebammen
Warum brauchen Hebammen ein neues Konzept? In all meinen Berufsjahren habe ich als Hebamme, so wie unzählige Kolleginnen, implizit salutophysiologisch gearbeitet – mit guten Resultaten, die aber vom medizinischen Modell nicht in Betracht gezogen wurden. Gleichzeitig mussten wir zu häufig zuschauen, wie im Krankenhaus normal begonnene Geburten nach physiologischen Schwangerschaften aus dem Ruder liefen. So reifte in mir das Bewusstsein, dass sehr viel mehr Schwangerschaften und Geburten normal verlaufen könnten, wenn wir als Betreuende die richtigen Bedingungen dazu schaffen würden.
Dass diese »Normalität« gefördert werden sollte, ist heute akzeptiert. Das Wissen, wie sie gefördert werden kann, ist ebenso vorhanden, doch es wird nicht benannt. Das medizinische Modell, das die Probleme der Medikalisierung geschaffen hat, kann nicht die Lösung sein.
Heute spricht man von der biopsychosozialen Geburt, aber auch die neuesten Leitlinien des »Midwifery Unit Network« (MUNET 2018) beschreiben nicht, wie Frauen wieder zu sich selbst geführt werden können, nachdem Generationen im Glauben an die Medizin dazu erzogen wurden, ihre Kompetenzen aus der Hand zu geben.
Heute hat ein Paradigmenwechsel begonnen. Aber die Hebammen wurden im medizinischen Modell der Pathophysiologie ausgebildet und haben nicht die richtigen Instrumente. Die Salutophysiologie kann diese Leere füllen. Heute gibt es glücklicherweise genügend Forschung in der Physiologie, die das salutophysiologische Modell untermauert.
Die ganzheitliche Betreuung
Salutophysiologie ist ein hebammenspezifisches Betreuungskonzept mit ganzheitlichem Blick auf die Person. Es respektiert die Frau mit ihrem Kind und ihren Kompetenzen, stellt sie in den Mittelpunkt der Betreuung. Es fördert die endogenen Ressourcen, eine dynamische Anpassung, pflegt den Rhythmus zwischen Anspannung und Entspannung und liefert die praktischen Instrumente, um die Prinzipien des »Midwifery Modells« – eines umfassenden Modells der Hebammenarbeit – in die Praxis umzusetzen. Der Fokus liegt auf Gesundheit, Gesundheitszeichen, Ressourcen und auf der Kunst, die physiologische Expansion des Frauenkörpers mit dem darin wachsenden Kind, vom Parasympathikus geleitet, immer wieder zu stärken und so Gesundheit für Mutter und Kind fördern. Die Bedingung dafür ist eine therapeutische, empathische Beziehung zwischen Hebamme und Frau einschließlich ihrer Familie, die Raum dafür schafft.
Die inneren Ressourcen sind in der Frau und in ihrem Kind verwurzelt, die äußeren Ressourcen in ihrem Umfeld. Um die inneren Ressourcen der Frau zu kennen und zu nutzen, muss sie als Person, Subjekt, Expertin ihrer selbst und ihres Kindes wahrgenommen werden. Ein weiteres Ziel der Salutophysiologie ist das Empowerment, Schritt für Schritt.
Aktive und physiologische Anpassung sind die Schlüsselkonzepte, um Gesundheit zu fördern und Ressourcen zu aktivieren. Anders gesagt, geht es um Natur (Physiologie) und Kultur (Geist). Die beiden Ebenen beeinflussen sich gegenseitig. Die Salutophysiologie bietet ein Beobachtungs- und Behandlungskonzept, das beide Ebenen und so die ganze Person in ihrer Einheit einbezieht.
Die Säulen der Gesundheit
Ausgehend von der Neuroendokrinologie, der PNEI und dem primären Adaptationssystem in den ersten 18 Monaten ab Zeugung (Odent 1994), habe ich vier Säulen der Gesundheit definiert (Schmid & Downe 2010; Schmid 2011): Eine gute dynamische Kommunikation zeigt sich
- im Hormonsystem zwischen den Hormonpaaren und -familien
- im neurovegetativen System zwischen Orthosympathikus, Parasympathikus und Vagussystem
- im feto-plazentaren und Kind-Mutter-System
- im Person-Umwelt System.
Wir können diese Säulen der Gesundheit als Grundsysteme in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett verstehen und auch als Aspekte der Anpassungssysteme. Sie geben Hinweise für eine zirkuläre Beobachtung, für eine gezielte Diagnose und Behandlung. Voraussetzung für ihre Anwendung sind gute Kenntnisse der dynamischen Prozesse im Bereich jeder Säule und die Fähigkeit, diese klinisch zu beobachten (Schmid 2011).
Körperliche, soziale und emotionale Anpassung
Anpassung ist die Grundlage der Salutogenese: Gesundheit in Schwangerschaft, Geburt und Exogestation ist die Fähigkeit, »auf die stetigen Anregungen von innen (Körper und Psyche) und von außen (Umwelt, Beziehungen) so zu reagieren, dass sich die Oszillationen zwischen den Polaritäten (Gegensätzen) in einem begrenzten Raum abspielen« (Antonovsky 1997).
Die verschiedenen Arten der Bewältigungsstrategien und der Anpassung (Coping):
- die physiologische Anpassung an die körperlichen Veränderungen: Sie ist universal ähnlich für alle Frauen und Kinder (Säulen der Gesundheit 1–3) mit ihrem instinktiven Coping – der Bezugsrahmen ist die PNEI oder Neurophysiologie.
- die psychosoziale Anpassung: Sie ist kulturabhängig und unterschiedlich bei jeder Frau je nach Kontext (Säule der Gesundheit 4) und basiert auf ihrem kognitiven Coping – der Bezugsrahmen ist die Salutogenese.
- die emotionale Anpassung: Sie ist persönlich und entspricht den intimen Erfahrungen (Säulen der Gesundheit 1–4) auf der Basis eines gemischten Copings – der Bezugsrahmen ist die therapeutische empathische Beziehung und die Kommunikation.
Verschiedene Anpassungssysteme wirken dabei zusammen:
Die physiologische Anpassung ist geregelt von den reaktiven Systemen des Organismus. Sie ist unwillkürlich, ihre Copingart instinktiv. Ihre zentrale Regulierung wird im limbischen System zentral reguliert und erzeugt komplexe neuroendokrine Dynamiken, die auch von Emotionen geleitet werden.
Das Kampf-Flucht-System reagiert auf alles, was als Bedrohung interpretiert wird, mit Anspannung – gezielter Aktion – Entspannung. Es reagiert auf Überlebenswillen und Gefahr, ist also das System der Selbsterhaltung, das uns in Sicherheit bringt. Es kann entweder Stresshormone anregen oder – im Sinne einer Tend-and-befriend-Reaktion (tend = beschützen, befriend = Freund sein) – Oxytocin und Prolaktin (Taylor 2000). Ziel seiner Aktion in der Reproduktion ist, Mutter und Kind in Sicherheit zu halten (Jänig 2008)
Das polyvagale System ist ein neues wissenschaftliches Konzept der Funktionen des Vagus. Es spielt eine wichtige Rolle im Neugeborenen und Kleinkind. Phylogenetisch (stammesgeschichtlich) das ältere System, funktioniert es noch im Kleinkind, bis sich der Sympathikus ganz entwickelt hat, und übernimmt währenddessen die Kampf-Flucht-Reaktionen (Porges 2011). Es besteht aus zwei Ästen: dem dorsovagalen und dem ventrovagalen Ast. Der dorsovagale Ast innerviert die Organe unter dem Zwerchfell, das heißt die Spannungsreaktionen beziehen die Bauchorgane ein. Bei starkem Stress kann sich ein Totstellreflex einstellen, der beim Kleinkind manchmal zum Tod führen kann.
Der ventrovagale Ast beeinflusst die Thoraxorgane, die Lungen und vor allem das Herz. Er hat die Fähigkeit, ausgehend vom Herzen die Vagusreaktion zu bremsen, wenn Mobilisierung gefragt ist, und sie wiederherzustellen, sobald Ruhe angebracht ist. Er ist verbunden mit den parasympathischen Gesichtsnerven, dem sogenannten sozialen Parasympathikus. Er ist verantwortlich für die Reaktionsfähigkeit, die in starker Beziehung ist mit dem Sicherheits- oder Bedrohungsgefühl, das dem Kind über die Mimik der betreuenden Personen übermittelt wird. Wieder: Empathie ist wichtig als Gesundheits- und Sicherheitsfaktor (Porges 2011, Hüther 2002).
Das Calm-and-connection-System: Entspannungszustände, die affektiv betont sind, also mit Beziehung verbunden sind, produzieren Oxytocin, das den Stress dämpft, Endorphine anregt, Expansion und Vertrauen bewirkt (Uvnäs Moberg 2011). Es entsteht bei Menschen zum Beispiel, wenn sie zusammen essen, wandern, singen, mit dem Kind oder dem Partner in Beziehung sind, sich selbst Zeit und Aufmerksamkeit geben, Entspannung in einer Gruppe oder mit der Hebamme finden.
Das primäre Adaptationssystem: Es besteht aus der Zusammenarbeit des endokrinen, neurovegetativen, emotionalen und Immunsystems. Dieses innere Reaktionssystem des Organismus bestimmt die Grundregulierung all dieser Systeme in der Primärzeit neun Monate vor der Geburt, neun Monate danach. Somit bildet es den Grundton und die Basis der Gesundheit, auf der sich das zukünftige Leben aufbaut (Odent 1994). Disstress (andauernder Stress) in dieser ersten Phase des Lebens kann diese Regulierung lebenslang stören. Die Homöostase durch eine aktive Anpassung der Mutter zu pflegen, bedeutet langfristige Salutogenese für sie und das Kind.
Das feto-plazentare System: Die Plazenta kümmert sich um die fetale Anpassung. Sie zu nähren und in ihrer intensiven Arbeit zu unterstützen, heißt die Mutter nähren – mit Unterstützung auf jeder Ebene der Anpassung: körperlich, sensoriell, emotional, psychisch, über die Umgebung und die Beziehung. Eine gut genährte Plazenta (eine Mutter in Homöostase) bietet dem wachsenden und zur Welt kommenden Kind unendliche Ressourcen zum Leben und Überleben. Sie ist ein wichtiges Sicherheitselement. Schwangerschaft und Geburtsdynamiken gründen auf dem Dialog zwischen mütterlichem und kindlichem Organismus. Unterstützung als Betreuungsinstrument in ihren verschiedenen Formen ist eine Kernkompetenz der Hebamme in der Salutogenese (Bohren et al. 2017).
Instrumente zur Unterstützung der physiologischen Anpassung sind alle Entspannungstechniken und Behandlungen, Massagen, Körperarbeit, manuelle Kompetenzen, Raum für aktiven Ausdruck – emotional und kreativ –, die empathische Beziehung mit aktivem Zuhören, eine Stressanamnese und Anamnese nach den Säulen der Gesundheit.
Sogenannte Aufmerksamkeitszeichen weisen meistens auf Anpassungsvorgänge hin, seltener auf Pathologien:
Aufmerksamkeitszeichen im neuro-endokrinen System sind häufig auf Stress zurückzuführen. Dabei ist es wichtig zu verstehen, ob dieser Stress eher emotionalen Ursprungs ist (hormonelles Ungleichgewicht) oder aus der Umgebung kommt (neurovegetativ). In beiden Fällen ist Entspannung notwendig. Bei emotionalem Stress kann Bindungsförderung oder empathisches Zuhören helfen, bei Umgebungsproblemen praktische Lösungen, um den Lebensstil anzupassen und Unterstützung zu finden.
Aufmerksamkeitszeichen im feto-plazentaren System: Der mütterliche Vagotonus und die innere Kommunikation mit dem Kind gilt es zu fördern. Auch der Vater kann eine unterstützende Rolle dabei haben. Die Plazenta muss unterstützt werden in ihrer Arbeit. Dazu gibt es spezifische Behandlungen aus dem Spektrum der »Polarity«-Therapie nach Randolph Stone (siehe Hartmann, DHZ 5/2017, Seite 64ff.)
Aufmerksamkeitszeichen im Person-Umwelt-System: Hier müssen exogene Ressourcen gefunden werden, die der Frau erlauben, ihrem inneren Rhythmus besser zu folgen. Lösungen für Probleme, ausreichende Information, informierte Entscheidungen, Besuch von Schwangerschaftsgruppen sind die Möglichkeiten der Intervention.
Das grundsätzliche Ziel der salutophysiologischen Interventionen ist es, das instinktive und kognitive Coping zu fördern und so eine gesunde Anpassung zu schaffen.
Die psychosoziale Anpassung
Der Soziologe Aaron Antonovsky hat sich die Frage gestellt: Wie kommt es, dass gewisse Personen auch in Gegenwart von bestimmten Stressoren gesund bleiben? Die Antwort, die aus seinen Forschungen hervorging, war: Wenn eine Person Widerstandsressourcen entwickelt, hat sie mehr Chancen gesund zu bleiben, auch in herausfordernden Situationen. Widerstandsressourcen entstehen durch überstandenen Stress. Ob das gelingt, hängt vom persönlichen Kohärenzgefühl ab, das den eigenen Copingstil, also die Art Herausforderungen anzugehen, bestimmt (siehe Kasten). Akuter Stress, der durch aktive Handlung bewältigt werden kann, ist positiv für die Gesundheit und erlaubt es, neue Ressourcen zu entwickeln. Chronischer Stress kann Ressourcen hemmen. Das grundlegende Kohärenzgefühl bildet sich in der Primärzeit und in den ersten Lebensjahren aus, so Antonovsky.
Für eine Frau, die Mutter wird, die also einen stressbelegten Veränderungsprozess angeht, ist es wichtig, ihre Widerstandsressourcen zu kennen. Für ein Kind ist es wichtig, ein gutes Kohärenzgefühl als Grundlage für ein positives Coping im Leben entwickeln zu können.
Die psychosoziale Anpassung ist willkürlich, bewusst, die Copingart kognitiv.
Unterstützend für die psychosoziale Anpassung sind die Gruppen (sozial), die mäeutische Beziehung zwischen Hebamme und Frau, wie Sokrates sie begründete (siehe auch DHZ 7/2019, Seite 16ff.), das Fördern der informierten Entscheidung über vollständige Informationen, Körpererfahrungen, kreativen Ausdruck, Zeit und Raum für Beziehungen, konkrete Problemlösungen sowie eine Stress- und Reaktivitätsanamnese.
Die emotionale Anpassung
Die emotionale Anpassung ist die Summe aus beiden Anpassungsformen. Die Emotionen »sitzen« im limbischen System und sind beeinflusst vom Herz, von den neuroendokrinen Dynamiken und von den psychosozialen Aspekten (Hüther 2002; Porges 2011). Zentral für die Gesundheit von Mutter und Kind ist die Fähigkeit, in einer inneren Beziehung zu sein mit den eigenen Emotionen und so auch mit dem Kind und der Motivation, die daraus entsteht. Die innere Beziehung erlaubt es der Frau, immer zu wissen oder zu fühlen, was in ihr und mit ihrem Kind geschieht. Eine motivierte Frau kann Berge versetzen und ist absolut fähig, ihre Situation zu bewerten und auf sie einzuwirken.
In der emotionalen Anpassung beeinflussen sich das instinktive Coping (PNEI) mit dem kognitiven Coping (Salutogenese), unsere unwillkürlichen Kompetenzen mit den willkürlichen und schaffen die komplexen, individuellen Dynamiken der Geburt. Ein zentraler Ansatzpunkt für die emotionale Anpassung ist die therapeutische, empathische Beziehung. Sie erlaubt eine emotionale Öffnung sowie auch eine praktische Problemlösung, die der Frau innerlich entspricht. Methoden der positiven Suggestion, Hypnose, Visualisierungen bahnen schnelle Wege zum emotionalen Zentrum. Optimal ist die kontinuierliche Betreuung.
Ganzheitlicher Blick
Die klinische Beobachtung, die einen ganzheitlichen Blick auf die Person einbezieht, spielt sich auf drei Ebenen ab. Sie sind gleichwertig als Möglichkeiten des Zugangs zur ganzen Person zu verstehen und beeinflussen sich gegenseitig:
- die körperliche Ebene – klinische Beobachtungen, Handfertigkeit beispielsweise in Diagnostik und Geburtserleichterung (Säulen der Gesundheit 1–3)
- die Ebene der Emotionen und der intimen Beziehungen – Gespräch, Kontakt, Hormonsysteme, feto-plazentares System (Kind)
- die Ebene der Umwelt und der sozialen Beziehungen – Gespräch, Gruppen, kognitives Coping (Säule der Gesundheit 4+2).
Eine einzelne Sitzung der Hebamme mit der Frau muss deshalb ausreichend Zeit vorsehen für die körperliche Untersuchung, ein Gespräch und/oder eine Antistress-Behandlung.
Aus den drei Ebenen entsteht eine zirkuläre Beobachtung. Ein praktischer Ansatzpunkt dazu ist ein Beobachtungsschema, aufgeteilt in Gesundheitszeichen, sogenannte Aufmerksamkeitszeichen und Ressourcen, verteilt auf diese drei Ebenen (Schmid 2011). Neben vielen Zeichen für Gesundheit findet die Hebamme dabei meistens einige Zeichen, die ihre Aufmerksamkeit wecken, die meistens Zeichen der Anpassung und nicht einer Pathologie sind. Zeichen für akute Pathologien sind eher selten. Die meisten Frauen bewegen sich im Kontinuum Gesundheit – Beschwerden – Gesundheit.
Die Beobachtungen werden den verschiedenen Säulen der Gesundheit zugeordnet. Dann werden die verschiedenen Zeichen mit den Ressourcen in Verbindung gebracht. Zusammen mit der Frau kann die Hebamme einschätzen, wie das Gleichgewicht wiederhergestellt werden kann.
Sind die Aufmerksamkeitszeichen auf einer bestimmten Säule der Gesundheit konzentriert, bietet diese den Zugang für eine entsprechende – nicht medizinische – Intervention. Sind sie auf verschiedene Säulen verteilt, wird das Problem schon übergreifender.
Betreuungsplan, Entscheidungsschema und therapeutischer Vertrag
Aus den Beobachtungen entsteht ein Betreuungsplan. Er ist persönlich, dynamisch und wird immer wieder neu bestimmt. Sollten die endogenen Ressourcen der Frau und die Instrumente der Hebamme zur Salutogenese nicht genügen, kommt das Entscheidungsschema ins Spiel (Schmid 2011).
Das Entscheidungsschema gründet auf dem »Clincal reasoning« (der klinischen Überlegung) und der informierten Entscheidung der Frau und geht über die Ausschlusskriterien klinischer Standards und Leitlinien hinaus. Keine Frau wird mehr ausgeschlossen von der Hebammenbetreuung, sondern eventuell werden andere Arten der Interventionen und Berufsgruppen in ihre Betreuung mit einbezogen. Die Frau ist im Mittelpunkt, die Berufspersonen sind menschliche Ressourcen, die sie ansprechen kann, wenn ein spezifisches Bedürfnis da ist. Das führt zu einer geteilten Verantwortung, zu angemessenen Interventionen, zur Entmedikalisierung. Das Ergebnis des Entscheidungsprozesses ist der therapeutische Vertrag zwischen Hebamme und Frau.
Der Behandlungsvertrag ist vor allem im außerklinischen Bereich wichtig, aber auch Teil der kontinuierlichen Betreuung. Er ist Ausdruck einer geteilten Selbstbestimmung und des Übernehmens der spezifischen Verantwortungen für beide Seiten.
Die Hebamme kann nicht für das Ergebnis verantwortlich sein, sie kann nur für die bestmögliche Betreuung und die Kommunikation Verantwortung übernehmen. Die Frau kann Verantwortung übernehmen für ihr Empfinden und ihre informierten Entscheidungen.
Im Vertrag wird die spezifische Situation genau beschrieben: die Informationen, die der Frau gegeben wurden, die Kompetenzen der Hebamme, welche andere Berufspersonen oder Institutionen bei Bedarf einbezogen werden sollten und die schlüssigen Entscheidungen der Frau oder des Paares. Dieser Vertrag kann auch als Ausdruck des Willens der Frau interpretiert werden und hat gesetzlichen Wert.
Die empathische Beziehung
Die Beziehung zwischen Hebamme und Frau ist symmetrisch: Beide stehen auf der gleichen Ebene und sind Partnerinnen. Die Frau bringt ihr Wissen, ihre Empfindungen, ihre Entscheidungen und Vorlieben ein als Expertin ihrer selbst. Die Hebamme bringt ihr berufliches Wissen ein und leitet die Kommunikation, indem sie ihr Richtung und Ziel gibt. Die Kommunikation ist empathisch: Sie spielt sich zwischen zwei subjektiven Personen ab. Die Hebamme fühlt mit der Frau, bleibt aber bei sich selbst. Ihr Ziel in der Beziehung ist es, der Frau zu helfen, sich selbst zu helfen, ihr inneres Wissen ins Bewusstsein zu bringen. Das führt zum Empowerment. In einer so gearteten Beziehung ist Wissen Übertragen, Begleiten, Unterstützen, Betreuen möglich, ohne dass die Frau ihre Verantwortung für sich und ihren Körper abgeben muss.
Die Instrumente der Kommunikation sind aktives, reflektierendes Zuhören, Spiegeln, Probleme lösen, informierte Entscheidung, positive Suggestion und mit der Sprache des limbischen Systems sprechen.
Die Salutophysiologie schlägt verschiedene Instrumente vor, um sowohl auf der klinischen als auch auf der Beziehungsebene die physiologischen Vorgänge zu unterstützen und zu fördern. Dazu gehören Antistress-Behandlungen, Massagen, Handgriffe, um das Becken zu öffnen und die Geburt zu erleichtern, manuelle und klinische Techniken der physiologischen Analgesie, Instrumente aus der globalen Medizin wie Akupunktur, Homöopathie, Griffe aus der Osteopathie, Rebozo-Techniken und andere. Voraussetzung für die korrekte und angemessene Anwendung dieser Instrumente ist, die physiologischen Vorgänge gut zu verstehen und ihre Zeichen für Gesundheit und Aufmerksamkeit lesen zu können. Das braucht Studium, viel Praxis und Erfahrung (Schmid 2011).
Die fünf »C« der Hebammenarbeit
Das Modell der Hebammenbetreuung ist Grundlage des Ethik Codex des ICM (International Confederation of Midwives) und des Reports »Changing Childbirth« (NHS 1993). Kernpunkte dieser Philosophie der Hebammenarbeit sind die fünf »C«: Continuity of care (Kontinuität der Betreuung), Choice (Wahl), Control of woman (Kontrolle der Frau), woman Centred care (frauenzentrierte Betreuung), Communication.
Dieses Modell gründet auf der Allianz zwischen Frau und Hebamme und auf einer symmetrischen Beziehung. Es ist frauenfreundlich, hebammenspezifisch, mit hoher Qualität (RCM 2017).
Der Ethik-Kodex des ICM (International Confederation of Midwives) definiert die humanistischen globalen, spirituellen, weibliche Werte der Hebammenarbeit
(https://internationalmidwives.org).
Das medizinische Modell und das »Midwifery-Modell« stehen heute in einem starken Spannungsfeld. Das medizinische Modell ist von patriarchalen Werten belastet, die es entarteten in eine Medizin der Kontrolle über die Frau und das Kind. Die meisten Interventionen sind auf diese Kontrolle ausgerichtet und nicht evidenzbasiert. Die Frau ist in diesem Modell dem Experten unterworfen und muss sich anpassen. Sie wird als Risikoobjekt eingestuft und ihrer Ressourcen und Copingfähigkeiten beraubt. Die Hebamme ist in ihrer Berufsfreiheit eingeschränkt und nur akzeptiert, wenn sie sich dem medizinischen Modell unterordnet. Diese Mentalität hat sich in den letzten Jahrhunderten gefestigt und kann sich auch im Raum der »natürlichen« Geburt ausdrücken. Hebammen können sich als Expertinnen über die Frau stellen und ihnen ihre Vision aufzwingen, auch wenn sie nicht evidenzbasiert oder von der Frau gewünscht ist.
Ein Paradigmenwechsel steht an
Das salutophysiologische Paradigma ändert die Rolle der Frau und der Betreuenden. Es ist von weiblichen Werten geprägt und gibt den Frauen die Kontrolle über sich selbst zurück. Es arbeitet mit den Frauen und mit ihren Ressourcen, es vermeidet unnötige Interventionen. Es hält die Frauen und Kinder mehrheitlich gesund. Es braucht weniger Medizin. Es ist evidenzbasiert und physiologisch.
Die Politik ist vom medizinischen Modell bestimmt, das dem Modell der Hebammenbetreuung mit Vorurteilen und falschen Mythen entgegensteht, obwohl dessen Wirksamkeit heute klar erforscht ist. Frauen und Hebammen stehen inmitten dieses Spannungsfeldes. Orientierung ist schwierig. Dem Midwifery-Modell werden medizinische Grenzen aufgezwungen, die die Frauen und Hebammen nicht immer gerne annehmen.
Dennoch hat das Modell der Hebammenbetreuung, vor allem außerklinisch praktiziert, einen Paradigmenwechsel bewirkt, der heute die öffentliche Szene stark bewegt (Davis Floyd 2006; Downe 2010).
Die Birth Place Study aus dem Jahr 2011, die Empfehlungen des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) über die außerklinische Geburt, die neuen europäischen Standards des Midwifery Unit Network (MUNET 2018) und der European Midwives Association (EMA) für die Hebammen-geleiteten Zentren weisen in eine neue Richtung, wofür die Salutophysiologie eine praktische Antwort sein kann.
Das Kohärenzgefühl besteht aus drei Faktoren, die alle in der perinatalen Zeit und den ersten Lebensjahren ausgebildet und bestimmt werden. In den Übergangsphasen des Lebens, in den Frauenzyklen oder in Krisenzeiten kann es allerdings weiterhin beeinflusst werden. Unterstützung, Kompetenzerweiterung, Körpererfahrungen und Kreativität können einen positiven Einfluss nehmen (Lorenz 2005). Die Geburt ist einer dieser neuralgischen Punkte.
1. Nachvollziehbarkeit und Vorhersehbarkeit
Das kleine Kind erlernt diesen Faktor des Kohärenzgefühls durch den wiederholten Rhythmus der Tage, kleine Rituale, Regelmäßigkeit und durch das Beantworten seiner Erwartungen von Seiten der Eltern oder Betreuungsperson (empfangen werden, gehalten werden, gestillt werden).
Eine positive Prägung im Hinblick auf Nachvollziehbarkeit und Vorhersehbarkeit lässt es das Leben (oder Ereignis) als Herausforderung empfinden, die positiv angenommen werden kann. Das führt eher zu einem »Kampfverhalten«, zum Aktivsein.
Eine schwache oder negative Prägung diesen Eigenschaften gegenüber bringt Angst dem Leben gegenüber und das Bedürfnis der Kontrolle, häufig durch andere. Das Leben wird eher passiv erlebt. Das »Fluchtverhalten« dominiert, das Cortisol steigt und die Ereignisse werden negativer aufgefasst.
2. Handhabbarkeit
Das kleine Kind erlernt diesen Faktor durch das Erforschen der Umgebung und das Ausprobieren. Es ist wichtig, dass es Erfahrungen machen kann, aber in einem begrenzten Raum, der nicht zu eng (unterdrückend) und nicht zu weit (grenzenlos, haltlos) ist, so dass die Welt noch »kontrollierbar« ist.
Eine positive Prägung der Handhabbarkeit gegenüber führt zum Fragen, Suchen, Erfahrungen-Sammeln, zu Umstellungen, zu einer aktiven Haltung dem Leben gegenüber – zur Suche nach neuen Herausforderungen und bildet so neue Ressourcen. Eine schwache oder negative Prägung im Hinblick auf die Handhabbarkeit führt zu einer Haltung, die das Leben und neue Ereignisse als eine ständige Bedrohung für die eigene Sicherheit empfindet. Es führt zu einer Opferhaltung, zu Passivität, Abhängigkeit, zum Schutzsuchen. Soziale Wertungen haben großen Einfluss auf diesen Faktor.
3. Bedeutsamkeit
Das kleine Kind lernt die Bedeutsamkeit des Lebens und den Selbstwert durch die liebevolle Beziehung (Bonding, sichere Bindung). Ist Bedeutsamkeit positiv besetzt, ist dies der eigentliche Motor des Lebens. Die Botschaft ist: Was ich mache, hat Sinn. Aber auch: Ich bin wertvoll. Sie gibt die Motivation für alles. Ist Bedeutsamkeit schwach oder negativ besetzt, sagt das: Warum? Es lohnt sich nicht. Es bringt Leere. Die aktive Beteiligung an Entscheidungsprozessen stärkt diesen Faktor.
Antonovsky meint: »Das Kohärenzgefühl ist eine ganzheitliche Orientierung, die das Maß einer konstanten Vertrauensempfindung ausdrückt, die sagt, dass die Anreize des Lebens (Ereignisses) strukturiert, erklärbar, sinnvoll und vorhersehbar sind, dass Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Herausforderungen dieser Anreize anzugehen, dass es sich lohnt, weil sie einen Sinn haben.« (Antonovsky 1997)
Den Frauen und Paaren dies zu spiegeln, dem Gebären Bedeutung beizumessen, entspricht dem Empowerment und der psychosozialen Anpassung.
Die Copingart gründet auf dem Kohärenzsinn, kann allerdings bewusst entwickelt werden. Man spricht von regressiver (passiver) und transformativer (proaktiver) Copingart. Die beiden mischen sich dynamisch, je nach Erfahrungsfeld. Ziel ist, das transformative Coping zu stärken, wo immer möglich. Das Coping gegenüber dem Ereignis »Mutterwerden« ist häufiger regressiv betont durch den Einfluss unserer Kultur und die eigenen Erfahrungen. Ein transformatives Coping schafft mehr Gesundheit.
Antonovsky A: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. DVGT Verlag 1997
Birth place study: Perinatal and maternal outcomes by planned place of birth for healthy women with low risk pregnancies: the Birthplace in England national prospective cohort study. BMJ 2011. 343:d7400
Bohren MA, Hofmeyr G, Sakala C, Fukuzawa RK, Cuthbert A: Continuous support for women during childbirth, a Cochrane review. Cochrane 2017. www.cochrane.org
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Davis Floyd RE, Johnson CB: Mainstreaming midwives, the politics of change, Routledge Taylor and Francis Group 2006
Downe S: Towards salutogenic Birth in the 21sth Century. In: Walsh D, Downe S: essential midwifery practice intrapartum care. chapter 16. Wiley-Blackwell Pub 2010
Guana M, Lucchini F: Arte e scienza della Midwifery. L’ostetrica oggi. CIC edizioni internazionali 1996
Hüther G: Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2002
Jänig W: Integrative Action of the Autonomic Nervous System: Neurobiology of Homeostasis. Cambridge. Unerversity Press 2008
Lorenz R: Salutogenese. Grundwissen für Psychologen, Mediziner, Gesundheits- und Pflegewissenschaftler. Hilarion G. Verlag. 2. Auflage 2005
Odent M: Von Geburt an gesund. Kösel Verlag 1994
Porges St: The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation. WW Norton & Co Inc. New edizione 2011
Rogers C, Schedlowski M, Tewes U (Hrsg.): Lehrbuch der Psychoneuroimmunologie. Spektrum. Akademischer Verlag. Heidelberg 1996
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