Dr. Ina Praetorius, Theologin und Germanistin: „Es wäre an der Zeit, die Philosophie der Geburtshelferinnen neu zu entdecken und weiterzuentwickeln.“

Eine Hebamme stand am Anfang dessen, was man „die westliche Philosophie” nennt. Von seiner weisen Lehrerin Diotima hat Sokrates, der Ur-Philosoph, selbst Sohn einer Geburtshelferin, gelernt: Wie die Hebamme durch kluges Tun einer Frau das Gebären erleichtert, so kann der Philosoph durch besonnenes Fragen Einsicht zur Welt bringen. Heute ist in philosophischen Seminaren zwar zuweilen noch von „Maieutik” die Rede: von der erkenntnisfördernden Gesprächsführung, die man einst von den weisen Frauen gelernt hat. Die Vorstellung aber, wirkliche Hebammen könnten eine besonders enge Beziehung zum Denken haben, wirkt befremdlich: Philosophie findet im Hörsaal statt, Hebammenkunst im Gebärsaal. Die Kompetenzbereiche sind säuberlich getrennt: hier der Körper mit seinen Bedürfnissen, dort die Höhenflüge des Geistes.

„Seit Urzeiten … war Schwangerschaft eine Reise ins Unbekannte. Und das wird auch so bleiben.” Dieser wahre Satz, der nicht nur für die Schwangerschaft, sondern für alles Leben gilt, steht in einem neuen Buch von Barbara Katz Rothman unter dem Titel „Schöne neue Welt der Fortpflanzung”. Seit Jahrzehnten verfolgt die US-amerikanische Soziologin die Debatten um die Gen- und Reproduktionstechnologien. Dem Wahn, das Leben technisch kontrollier- und perfektionierbar zu machen, stellt sie heute zuversichtlich das „Hebammenmodell” der menschlichen Existenz gegenüber: Der Jahrtausende alten Weisheit der Geburtshelferinnen zufolge lässt sich die immer wieder neu und anders aufregende Expedition in die nächste Generation sorgsam und liebevoll begleiten, niemals aber im Sinne einer Herstellungslogik absichern und planen. Woher wollen wir schließlich wissen, welches Kind die Welt mit welchen Fähigkeiten beglücken und bereichern wird? Wie will man sich dagegen absichern, dass der vermeintlich optimale Nachwuchs sich dann doch, zum Beispiel durch einen Unfall, das zuzieht, was wir arroganten Normalen eine „Behinderung” zu nennen uns angewöhnt haben? Sollten wir all die technischen Verfahren zur Menschheitsverbesserung, die uns heute zur Verfügung stehen, wieder einbetten in eine heilsame Nachdenklichkeit über den Sinn des Ganzen und über eine lebenswerte Zukunft?

Es wäre an der Zeit, die Philosophie der Geburtshelferinnen neu zu entdecken und weiterzuentwickeln. „Philosophie” heißt nämlich, wörtlich aus dem Altgriechischen übersetzt „Liebe zur Weisheit”. Ursprünglich sollte das philosophische Nachdenken ein nützlicher Teil des menschlichen Zusammenlebens sein, es sollte politische Entscheidungen begleiten und den Menschen leben helfen. Aber schon bald sperrte man es in eine „höhere” akademische Sphäre ein, zu der nur „gebildete” Männer Zugang hatten und die deshalb immer mehr um sich selbst kreiste. Heute greift die akademische Philosophie zuweilen in Form von „Ethikkommissionen” wieder ins Weltgeschehen ein. Das ist ein Fortschritt gegenüber wissenschaftlicher Selbstgenügsamkeit, aber bestimmt noch nicht das Ende der Geschichte. Denn stand nicht eine Hebamme am Anfang dessen, was wir „Philosophie” nennen? Sollten wir nicht sie fragen? Sollten wir nicht ihr Wissen, das man weitgehend zum Schweigen gebracht hat, auf den philosophischen Begriff und neu ins Spiel bringen? Sollten Hebammen sich (wieder) als Denkerinnen verstehen? Sollten Philosophen, wie damals Sokrates, ihnen zuhören, von ihnen lernen?

Barbara Katz Rothman hat mit der zukunftsweisenden Idee des „Hebammenmodells” der menschlichen Existenz einen Anfang gemacht. Daran könnten wir anknüpfen und weitergehen …

Zitiervorlage
Praetorius I: Hebammenkunst bedeutet Liebe zur Weisheit. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2013. 65 (1): 1

Jetzt weiterlesen mit DHZ+

dhz-badge 1,- Euro für 4 Wochen

  • freier Zugriff auf alle DHZ+-Artikel auf staudeverlag.de/dhz
  • inkl. aller ePaper-Ausgaben der DHZ und der Elterninfos
  • Zugriff auf das DHZ-Archiv auf dhz.de
  • jederzeit kündbar