Hella Jonas: Woran denken Sie, wenn ein Kind im Wochenbett viel schreit und gar nicht zur Ruhe findet?
Susanne Grünhagen: Es kommt darauf an, wie lange ich seine Mutter, die Wöchnerin, schon kenne. Ich würde als erstes fragen, wie die Geburt war und wie es ihr dabei ergangen ist. Es stellt sich immer wieder heraus, dass die Frauen viele Interventionen erlebt haben. Sie nehmen diese Anstrengungen oft nicht als Belastung wahr und finden es normal, wenn sie zum Schluss mit einer Vakuumglocke ihr Kind bekommen haben. Die Angst, durch die sie dabei gegangen sind, ist ihnen oft nicht bewusst.
Sie meinen, die Angst der Mutter unter der Geburt könnte ein Grund für die Unausgeglichenheit ihres Kindes sein und weniger die Art der Intervention?
Genau, weil durch Angst viel Trennung passiert. Die Mutter trennt sich emotional von ihrem Kind ab, damit sie das Erlebnis gut für sich abspeichern kann. Verstärktes Schreien ist da wie ein Hilferuf: Das Neugeborene präsentiert sich mit Unruhe, weil es merkt, dass seine Mutter gar nicht richtig anwesend ist
Und wenn die Mutter während der Geburt keine bemerkenswerte Angst hatte?
Ich lasse mir erzählen, wie die Frau ihre Schwangerschaft erlebt hat, wie viel sie gearbeitet hat und wie sie diese Zeit wahrgenommen hat. Viele Frauen gehen leistungsorientiert durch den Alltag, so dass sie nicht bemerken, wie viel sie in der Schwangerschaft gearbeitet und wie sehr sie unter Druck gestanden haben. Das erfährt man erst durch Nachfragen. Plötzlich erzählt die Wöchnerin eine Geschichte, bei der ihr gar nicht bewusst ist, wie groß beispielsweise der Ärger mit ihrem Chef war. Für mich ist dabei der wesentliche Punkt, dass das Kind neun Monate in seiner Mutter heranwächst und dabei oft schon viel Stress und Unruhe miterlebt. Die Geburt kann Ausdruck davon sein, wie die Schwangerschaft verlaufen ist.
Ist es ein Unterschied, ob die Ursachen in der Schwangerschaft oder der Geburt zu vermuten sind?
Wenn nach einer guten Schwangerschaft »nur« die Geburt nicht so verlaufen ist, wie man es sich vorstellt, kann die Unruhe des Kindes häufig sehr schnell »behandelt« und das Neugeborene in einen ausgeglicheneren Zustand gebracht werden.
Wenn ein Neugeborenes exzessiv über Tage oder Wochen weint und schlecht schläft, zieht dies einen Therapiebedarf innerhalb der Familie nach sich. Was kann die Hebamme tun?
Wir sind für diese Art von Krise als Hebammen durch unsere Ausbildung nicht gut aufgestellt. Eine Familie, die wegen eines ununterbrochen schreienden Kindes am Limit lebt, braucht eine Hebamme, die nicht nur pragmatische Vorschläge macht, sondern die mit dem Herzen diese Situation erfasst. So kann sie sehr viel Kraft und Ruhe in die Familie bringen. Echten Therapiebedarf sollte die Hebamme erkennen, aber nicht selbst bedienen.
Was verstehen Sie unter »mit dem Herzen die Situation erfassen«?
Ich kopple mich an mein eigenes Herz an, aktiviere bewusst mein intuitives Einfühlungsvermögen. Das heißt, ich gehe mit den besten Gedanken in die Familie, egal, wie ich zu ihr stehe. Ich versuche, meinen eigenen Stress und mein kognitives Wissen über die Äußerlichkeiten, auf die es im Wochenbett ankommt, in den Hintergrund zu stellen, und ganz bei der Familie zu sein. Gelingt dies nicht, besteht die Gefahr, dass Bemerkungen der Wöchnerin, ihr Kind sei so unruhig, abgewiegelt werden. Darüber vergehen dann vielleicht eine oder zwei Wochen, in denen sich die Krise weiter zuspitzt. Um zu erfassen, was in der Familie los ist, brauche ich meine Herzenergie, um hineinzufühlen: Was kommt mir hier eigentlich entgegen? So etwas braucht Zeit.
Wie reagieren die Familien darauf, wenn Sie »mit dem Herzen schauen«?
Die Familien sagen mir später oft, dass ich Ruhe mitgebracht hätte und es ihnen nach meinem Besuch für den Rest des Tages viel besser gegangen sei.
Was machen Sie, wenn Sie bei der Mutter eine Unruhe oder Anspannung mit ihrem Kind spüren?
Ich spreche es an. Eine der wichtigsten Aufgaben der Hebamme im Wochenbett ist es, die Atmosphäre anzusprechen. Das hilft der Familie, in der Aufregung der neuen Lebenssituation herunterzukommen und sich zu sortieren.
Viele Hebammen arbeiten unter einem hohen Druck. Wo sehen Sie die Ursachen?
Die geringe Vergütung der Wochenbettbesuche spielt eine wesentliche Rolle. Ein weiteres Thema ist das Arbeitspensum der Hebamme. Sie sollte ihren Arbeitsstil gut überprüfen und nicht in derselben Situation sein wie die Familie mit dem unruhigen Kind, nämlich in permanenter Überforderung und dem Gefühl, nie eine Pause zu haben. Wenn sie zu viele Familien begleitet, kann sie nicht mehr richtig zuhören und gegenwärtig sein. Dann konzentriert sie sich nur auf das Äußere.
Was tun Sie, wenn Sie eine Familie in einer Wochenbettkrise antreffen, weil das Kind viel schreit und nur auf dem Arm schlafen kann?
Ich lasse mir beschreiben, wann das Neugeborene wie lange unruhig ist und wie die Eltern versuchen, es zu beruhigen. Ich bitte sie, ein 24-Stunden-Protokoll über das Verhalten ihres Kindes zu verfassen. Bei genauer Beobachtung und Beschreibung fällt vielen Eltern auf, dass es gar nicht so unruhig ist, wie sie es vielleicht empfinden.
Oft stellt sich auch heraus, dass ihr Kind sich sofort beruhigt, wenn es hochgenommen wird. Dann frage ich die Eltern nach ihren Vorstellungen, wie ein Neugeborenes sich normalerweise verhält. Dabei kommen oft Bilder zutage, die mit der Realität nichts zu tun haben. Häufig haben junge Eltern die Vorstellung, dass ein Baby immer friedlich im Wagen liegt, schläft und alle paar Stunden trinkt. Sie brauchen die Information, dass ihr Kind nicht als komplett ausgeglichenes Wesen auf diese Welt kommt.
Verstehen die Eltern, was gemeint ist?
Unterschiedlich. Zum besseren Verständnis versuche ich sie zu motivieren, sich in ihr Kind hineinzuversetzen. Dazu vergleiche ich die Wochenbettzeit des Neugeborenen mit einer Reise in unbekannte Gefilde. Zum Beispiel einer Expedition auf den Mond. Wenn ich so etwas zum ersten Mal unternehme, brauche ich eine Vertrauensperson. Sie begleitet mich durch alles Neue und Beängstigende sicher hindurch und ich kann an diesem Abenteuer wachsen, muss nicht verzagen. So in etwa stelle ich mir die Situation für das Neugeborene vor, wenn es auf die Welt kommt.
Wenn bei den Eltern ein Verständnis für die Situation ihres Kindes verankert ist, können sie mit seiner Unruhe viel besser umgehen. Im nächsten Schritt ist es wichtig, dass die Eltern verstehen, wie besonders die ersten zwölf Wochen im Leben eines Menschen sind. Das Neugeborene kommt mit seinem unreifen vegetativen Nervensystem in diese verrückte Welt. Mit dieser Unreife bringt es auch eine Unruhe mit. Deshalb ist viel Instabilität bei den Kindern und sie brauchen präsente Eltern. Damit haben viele Eltern Schwierigkeiten.
Warum?
Um präsent zu sein, muss ich selbst innere Ruhe ausstrahlen. Vielen Eltern ist ihre eigene innere Unruhe gar nicht bewusst.
Wie beruhigen Sie die Situation?
Ich biete der Frau eine Übung an, bei der sie sich mit geschlossenen Augen auf ihren Atem konzentriert. Das fällt vielen Frauen sehr schwer. Für die meisten ist es faszinierend, wenn sie dann spüren, welch große Unruhe in ihnen steckt, obwohl sie gesagt haben, sie seien ruhig. Dazu braucht es kein großes therapeutisches Wissen. Ob die Frau ihre Augen geöffnet oder geschlossen hat, ist unwesentlich. Es geht auch während des Stillens.
Als Hebamme muss ich die Frau dabei unterstützen, dass sie es bequem hat. Erst wenn sie dasitzt wie eine Königin, kann sie über ihren Körper ihrem Kind die Botschaft vermitteln: Es geht mir gut. So wird das Stillen zu einer Begegnung auf Herzensebene, bei der sich beide wohlfühlen. Es geht beim Stillen nicht nur darum, dass die Trinkmenge stimmt, der Anlegewinkel richtig ist und es dem Baby gut geht. Stillen hat mit Bindung zu tun.
Es geht also sowohl für die Hebamme als auch für die Eltern darum, die kognitive, rationale Ebene zu verlassen und auf der intuitiven Ebene, also mit Herz und Gefühl zu arbeiten.
Genau. Uns Hebammen wird das nicht leicht gemacht. Wir müssen auch alles richtig machen, genau wie die Frauen. Hebammen müssen den gesetzlichen Vorgaben gerecht werden, Eltern dem Anspruch der Gesellschaft, wie ein Kind zu sein hat. Weil die kognitive Welt uns so fordert, können wir zu wenig auf der Herzensebene agieren. Deshalb stehen für mich die Anlegetechniken beim Stillen im Hintergrund. Denn wenn die Bindung nicht stimmt, dann sind die äußeren Techniken nur kurzfristige Lösungen.
Wenn die Frau ihr Baby in einer komplizierten Haltung anlegt, kann sie sich schlecht auf ihren Atem konzentrieren. Sie ist abgelenkt von der Anlegetechnik und kann nicht entspannen. Es kommt keine nachhaltige Beruhigung in die Situation.
Warum ist die Herzensbindung zwischen Mutter und Kind kein »Naturgesetz«?
Viele Frauen leben kaum noch in einem festen Verbund. Sie haben im besten Fall einen fürsorglichen Partner oder eine Partnerin. Aber die gehen irgendwann wieder arbeiten. Die Freundinnen oder die eigene Mutter leben nicht immer am selben Ort oder sie sind ebenfalls berufstätig.
In unserer Gesellschaft gibt es immer weniger Begegnungen auf Herzensebene. Jeder lebt in einer hohen Geschwindigkeit vor sich hin. Dieser Mangel an Herzensbegegnung zeigt sich für die Frauen im Wochenbett in einer großen inneren Vereinsamung.
Sehen Sie fehlende Herzenswärme als eine Ursache für die Unruhe von Neugeborenen?
Ja, und den Mangel an eigener innerer Wahrnehmung der Eltern. Es ist keiner da, der die Frau einfach mal berührt. Ich kann als Hebamme bei der Frau sitzen und sie einfach nur berühren. Nicht tasten, wie ist der Höhenstand, das kann ich alles später machen. Sondern erst einmal schauen, was nehme ich wahr? Wie viel Spannung, wie viel Weichheit? Die Frauen finden es wunderschön, so berührt zu werden. Es ist eine niederschwellige Zuwendung, die für eine Hebamme nicht schwer ist. Bei der Gelegenheit kann sie auch in sich selbst hineinhorchen: Wo bin ich eigentlich gerade innerlich? Wie viel Unruhe trage ich selbst in dieses Wochenbett? Es ist eine Art, den eigenen Körper mit einzubeziehen – nicht nur zu denken, sondern wahrzunehmen.
Dieses Wahrnehmen, das die Kölner Professorin für Hebammenkunde Sabine Dörpinghaus »das leibliche Spüren« nennt, hat in der Ausbildung keinen festen Platz.
Aber wir brauchen diese Qualität des Handelns, weil wir nur so die Kinder erreichen können. Die Frauen erreichen wir auch kognitiv, die Kinder nicht.
Die Wahrnehmung jenseits der kognitiven Fähigkeiten muss also geschult werden. Das geht so einfach: sitzen, berühren, atmen?
Es klingt vielleicht einfach, ist für viele Frauen aber sehr schwer. Viele macht es ganz »kirre«, wenn sie nur sitzen oder liegen, die Augen schließen und atmen. Im späteren Wochenbett sagen manche, dass sie keine Zeit für so etwas hätten, sie müssten Essen kochen, das ältere Kind käme gleich aus der Schule.
Wie reagieren Sie darauf?
Ich spiegele sie. Ich sage, dass das ja genau der Punkt sei: Sie erzählt mir, dass das Kind so unruhig und fordernd sei, sie selbst aber ganz entspannt leben würde. Die eigene Unruhe spürt die Mutter erst, wenn sie innehält und sich auf sich selbst konzentriert. Wenn die Frau es möchte, baue ich eine kurze Atemübung in jeden Wochenbettbesuch ein. Nach etwa einer Woche lasse ich mir erzählen, welche Beobachtungen sie an sich gemacht hat.
Was erzählen die Frauen?
Ganz Unterschiedliches: Einige versuchen, die zehn Minuten wieder aufzuholen, und andere finden es richtig gut, sich diese Auszeit zu gönnen. Ich arbeite mit den Frauen heraus, was diese Pausen mit ihnen machen. Dann schauen wir auf das Kind.
Eine Frau erzählte mir, dass sie sich immer nach meinen Besuchen mit dieser kurzen Atemarbeit anders fühlte. Sie könne es nicht genau benennen, sie sei ruhiger und irgendwie verlangsamt. Wenn sie dann ihr Kind stille, würde es ruhiger trinken.
Es kommt darauf an, dass die Frau den Zusammenhang zwischen ihrer Veränderung und der Veränderung beim Kind erkennt. Es braucht innere Langsamkeit, um dem Neugeborenen begegnen zu können. Ich versuche, die Frauen immer mehr an diese Langsamkeit heranzuführen. Sobald eine »Hintergrundgeschichte« hinter der Unruhe des Kindes steckt, ist es aufwendiger: beispielsweise, wenn die Frau unter großem Leistungsdruck steht, den Anspruch hat, keine Fehler zu machen, oder die Idee, alle Familienmitglieder sollten gleichberechtigt behandelt werden. Wenn solche Themen aufgespürt werden, ist eine Therapie nötig. Das ist dann keine Hebammenarbeit mehr!
Wie arbeiten Sie als Therapeutin mit der Wöchnerin weiter?
In meiner therapeutischen Arbeit verfolge ich den bindungsbasierten Ansatz des Körperpsychotherapeuten Thomas Harms. Die Klientin soll verstehen, warum sie Dinge denkt und tut. Dazu müssen die Verkettungen von Gedankengängen bewusst werden. Ich spiegele in Gesprächen der Frau durch Wiederholungen und Nachfragen ihre eigenen Denkmuster und hinterfrage sie.
Wenn ich merke, sie kommt nicht weiter und wird emotional, gehe ich auf die körperliche Ebene. Ich berühre sie und stelle dadurch eine Verbindung zwischen uns her. Wie durch eine Nabelschnur. Mit diesem Kontakt gebe ich Beruhigung und wir spüren einander besser. So begleite ich sie durch die emotionalen Turbulenzen, die das Gespräch ausgelöst hat. Dabei interessiere ich mich für körperliche Phänomene wie beispielsweise eine Abwehrhaltung mit den Armen. Sie können Problematiken anzeigen, die nicht bewusst sind, aber das Handeln erklären. Diese Geschichten versuche ich gemeinsam mit der Frau aufzulösen.
Welche Art von Therapie ist hier außerdem sinnvoll?
Alle Therapieformen, die über den Körper und die Wahrnehmung arbeiten. Beispielsweise die Methode der Emotionellen Ersten Hilfe oder die Hilfsangebote einer Schreiambulanz. Aber auch eine gute Akupunkteurin oder ein guter Heilpraktiker können hilfreich sein und die Frau erst mal auf der körperlichen Ebene abholen.
Verhaltensmuster ohne traumatische Einflüsse, die den Alltag erschweren, können häufig in fünf bis sechs Therapiestunden aufgelöst werden. Emotionale Arbeit ist die Methode, die am schnellsten funktioniert. Deshalb ist sie fürs Wochenbett geeignet. Eine Analyse ist hier nicht geeignet, weil es viel länger dauert, bis sich ein Erfolg im Sinne einer besseren Krisenbewältigung einstellt.
Schreiambulanzen arbeiten oft nach Konzepten auf der kognitiven Ebene.
Das kann in bestimmten Situationen genau das Richtige sein. Vielen Frauen ist schon geholfen, wenn ihnen jemand von außen sagt, dass es normal ist, wenn ein Baby schreit, dass es auch mal schreien darf.
Ihr Ansatz legt den Fokus auf die Situation der Mutter und der Hebamme. Das unruhige Kind wird indirekt über sie »behandelt«.
Der Spagat ist, der Mutter keine Schuld- oder Versagensgefühle zu bereiten. Das ist manchmal schwierig. Mütter und Hebammen leben in einer viel zu schnellen Zeit, nehmen sich selbst gar nicht oder nur schwer wahr. Sie müssen beide ihre eigene innere Unruhe wahrnehmen und anerkennen, ihr bewusst begegnen. Es braucht ein System mit Menschen, die geschult sind, selbst in eine Ruhe zu kommen. So kann die Unruhe von außen besser aufgefangen werden.
Vielen Dank für dieses Gespräch.