Rita Messmer, Entwicklungspädagogin: »Die kontrollierte Ausscheidung funktioniert in Wechselwirkung mit der Mutter. Dies ist der komplexeste frühkindliche Reflex überhaupt.« Foto: privat

Rita Messmer sieht sich als Begründerin der »Windelfrei«-Methode. Dabei stammt der Begriff »windelfrei« nicht von ihr – und sie schätzt ihn auch nicht besonders. Warum das so ist und wie die »Fachfrau für Babys« auch zur Expertin für frühe Reinlichkeitserziehung wurde, erzählt sie im Interview mit der DHZ.

Bettina Salis: Liebe Frau Messmer, Sie haben sich eines Themas angenommen, das Ihnen schon länger auf der Seele brennt: die frühe Reinlichkeit von Babys. Was ist dabei Ihr Herzensanliegen?

Rita Messmer: In der sehr frühen Kindheit gibt es sensible Phasen, unter anderem die der Ausscheidung. Wenn Hebammen, Ärzt:innen und Eltern mehr darüber wüssten, dann hätten wir heute einige Probleme weniger, wie die riesigen Müllberge, bestehend aus Plastikwindeln, und eine zunehmende Inkontinenz bei Schulkindern.

Wie lange beschäftigen Sie sich schon mit den sensiblen Phasen?

Mit der frühkindlichen Entwicklung seit mehr als 35 Jahren – mit den sensiblen Phasen seit 29 Jahren.

Gab es einen Impuls, eine Art Urerfahrung für Sie?

Ich fühle mich schon seit frühester Kindheit der Natur und dem Natürlichen eng verbunden. Vielleicht wollte ich auch deshalb mal Ärztin werden. Aber nach meiner Ausbildung zur Medizinischen Praxisassistentin und der Arbeit in der Neonatologie machte ich erst einmal eine große Reise nach Lateinamerika. Dort konnte ich die Menschen indigener Völker beobachten. Babys und Kleinkinder standen damals noch nicht in meinem Fokus. Was der unaufgeregte Umgang dieser Menschen mit ihren Kindern bedeutet, das wurde mir erst klar, als ich Jahre später selbst schwanger war und das Buch »Auf der Suche nach dem verlorenen Glück« gelesen hatte. Das war etwa Mitte der 1980er-Jahre.

Das Buch erschien 1978 in deutscher Fassung und fußt auf Feldstudien der US-amerikanischen Schriftstellerin Jean Liedloff bei den Yequana aus Venezuela. Sie hatte beobachtet, dass die kindlichen Bedürfnisse im ersten Lebensjahr von den Erwachsenen befriedigt werden. Was genau hat das Buch in Ihnen ausgelöst?

Ich konnte alles nachvollziehen, weil es meinen Beobachtungen der indigenen Menschen entsprach. Das war der Auslöser. So nahm ich mir damals während meiner Schwangerschaft zum Beispiel fest vor, niemals hinter meinem Kind herzurennen. Liedloff beschreibt in ihrem Buch, wie eine Mutter mit ihrem Kind durch den Urwald geht, sich aber nicht ein einziges Mal nach ihm umdreht. Sie vertraut darauf – oder weiß –, dass es ihr folgen wird; das nennt sie den »sozialen Instinkt«.

Ich begann, darüber nachzudenken, wie wir in unserer westlichen Industrie­gesellschaft mit unseren Kindern umgehen.

Diese Lektüre war die Keimzelle?

Auf der Neonatologie hatte ich zuvor schon Babys massiert mit einer Technik, die mir eine nepalesische Kollegin gezeigt hatte. Und oft spürte ich sehr deutlich: Das Baby spricht mit mir, es sendet Signale, die ich offensichtlich lesen konnte. Ich war also schon für die Thematik sensibilisiert, aber dieses Buch hat mir die Augen geöffnet.

Manchmal klafft eine Lücke zwischen dem, was man sich vornimmt und dem, was man tut. Familiäre oder kulturelle Prägungen stehen im Weg und sind nur schwer abzulegen, weil sie einen ein Leben lang begleitet haben. Wie leicht konnten Sie Ihr Vorhaben in der Praxis umsetzen?

Das war extrem leicht, weil es für mich so logisch war. Ich hatte eine sehr freie Kindheit mit liebevollen Eltern; wir wurden nicht bestraft und mein Vater hat immer versucht, bei uns die intrinsische Motivation zu wecken. Schließlich sind wir soziale Wesen und wollen uns integrieren. Was die Prägung betraf, musste ich nicht viel umstellen. Ich habe mir gewisse Grundsätze aber bewusst vorgenommen, wie: »Ich renne nie hinter meinen Kindern her.«

Wie kam es dann zu »windelfrei«? Ich nenne es mal so, obwohl Sie diesen Begriff gar nicht etabliert haben.

Es hat mich gepackt, weil ich gemerkt habe, was meine Art, mit meinen Kindern umzugehen, bei anderen Menschen auslöste. Viele haben gestaunt, wie pflegeleicht meine Kinder waren; sie haben mir gehorcht und machten, was ich sagte – obwohl ich nie laut wurde und nie gestraft habe.

Ich fragte mich, was in unserer Gesellschaft falsch läuft. Bei den indigenen und traditionellen Kulturen hatte ich ja beobachtet, dass Kinder sich an das halten, was ihre Eltern oder andere Bezugspersonen sagen. Das ist dort normal.

Sie wollten also ergründen, warum der Ansatz, Ihre Kinder an Ihrer Seite groß werden zu lassen, offensichtlich etwas anderes bewirkte, als bei vielen anderen Eltern, die ihre Kinder eher traditionell europäisch erzogen.

Rita Messmer: Ich begann, viel zu lesen. Bei der Lektüre über die Arbeit der italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori lief es mir manchmal heiß und kalt den Rücken runter. Das war absolut identisch mit meinen Überzeugungen. Ich habe nicht von ihr gelernt, sondern mich in meinen Annahmen bestätigt gefühlt. Sie war für mich wie eine große Schwester. Sie hat den Begriff der sensiblen Phasen aus der Biologie abgeleitet und auf den Menschen übertragen.

Bettina Salis: Inzwischen boten Sie auch Babymassagekurse an, und setzten – fast intuitiv – ihre eigenen Babys aufs Töpfchen oder hielten sie ab?

Rita Messmer: Ja, das machte ich und es war sehr prägend. Ich hatte das gar nicht so erwartet, und als ich meinen Sohn mit zwei, drei Wochen – so genau erinnere ich mich heute nicht mehr – über die Toilettenschüssel hielt und er Pipi hineinmachte, war ich doch erstaunt.

Weil das bei uns so gut klappte, habe ich meine Erkenntnisse in den Babymassagekursen an andere Eltern weitergegeben. Ich sorgte dafür, dass die Eltern meinen Kurs möglichst früh besuchten. Schließlich massieren die Mütter bei Frédérick Leboyer ihre Kinder vom ersten Lebenstag an zweimal täglich. Das ist in der indischen Tradition so verankert, denn diese Massage stärkt die inneren Organe und soll bewirken, dass sie sich besser entfalten können – das ist vergleichbar mit Katzen oder Hündinnen, die ihre Babys ablecken.

Wenn die Mütter mit ihren wenige Tage alten Babys im Kurs saßen, habe ich sie motiviert, es mit dem Abhalten auch einmal zu versuchen – und tatsächlich hat es bei ihnen funktioniert. Also begann ich zu überlegen, wofür Babys Windeln brauchen, wenn sie doch schon mit Hilfe der Eltern gezielt ausscheiden können?

Als ich einige Zeit später zwei Mütter mit fünf und sechs Monate alten Babys im Kurs hatte, bei denen diese Stimulation nicht funktionierte, war das für mich fast wie ein Schlag. Ich wollte wissen, warum es bei ihnen nicht klappte. Das hat mich einfach nicht losgelassen. Bis mir irgendwann ein Licht aufging und ich die Antwort wusste: Der Erfolg hing davon ab, ob sich das Kind zum Zeitraum des Erlernens in der sensiblen Phase befand.

Ich musste also in sensiblen Phasen denken: Jetzt ist das Zeitfenster geöffnet und es muss die entsprechende Stimulation kommen – kommt die Stimulation nicht, dann schließt sich das Fenster.

Bettina Salis: Über welch einen Zeitraum erstreckt sich denn die sensible Phase für die Ausscheidung?

Zunächst habe ich geschaut, wie lange die Babys auf das Abhalten reagieren. Es stellte sich recht schnell heraus, dass es diesbezüglich bis zum Ende des dritten Lebensmonats kaum Probleme gab. Allerdings war der Erfolg im ersten Lebensmonat am größten, danach nahm die Sensibilität schrittweise ab und ab dem dritten Monat schien sich das empfängliche Fenster zu schließen. Danach braucht es eine andere Herangehensweise, denn dann wird das Verhalten nicht mehr über die sensible Phase gesteuert.

Heute ist für mich klar, dass es sich sogar um einen frühkindlichen Reflex handelt. Denn die frühkindlichen Reflexe steuern das überlebenswichtige Verhalten in den ersten Tagen, Wochen und Monaten.

Die Auswüchse des konsequenten Windel-Tragens zeigen sich an einer Berliner Grundschule. Foto: © Rita Messmer

Es war Ihnen also ein Bedürfnis, Ihre Erfahrungen und Ihr Wissen weiterzugeben? Ihre Erkenntnis zur sensiblen Phase, in der Babys, wenn nichts den Weg versperrt (zum Beispiel eine Windel), die Ausscheidung – in gewissem Maß – kontrollieren können?

Es geht nicht darum, ob das Kind eine Windel anhat oder nicht. Es geht darum, dass die genannten Anlagen biologisch sind und das Baby eine entsprechende Stimulation von außen braucht, das heißt, auf Hilfe angewiesen ist. Das kontrollierte Ausscheiden funktioniert also in Wechselwirkung mit der Mutter. Dies ist der komplexeste frühkindliche Reflex überhaupt. Beim Suchreflex braucht es zum Beispiel auch die Mutter, die das Baby in eine Position bringt, um den Reflex zu stimulieren. Und die natürliche Ausscheidungsposition ist die Hocke. Es hilft, einen zusätzlichen Reiz zu setzen, zum Beispiel Wasser – auch über die Genitalien – laufen zu lassen oder ein gesprochenes »tststs«, um den Reflex auszulösen. Der wichtigste Faktor ist die Kommunikation, der Fachbegriff dazu heißt »elimination communication« oder auch Ausscheidungskommunikation. Das klingt nicht so schön, deshalb nenne ich es »die frühe Reinlichkeit von Säuglingen«.

Um dieses Wissen weiterzugeben, haben Sie Ihr erstes Buch geschrieben?

Bis ich die Bedeutung des Zusammenhangs der sensiblen Phasen herausgefunden hatte, ging ich zunächst davon aus: Je älter ein Kind ist, desto ausgeprägter sind seine Fähigkeiten. Und nun waren diese Kinder schon fünf und sechs Monate alt und waren gar nicht empfänglich für die kontrollierte Ausscheidung.

Welche Stimulation führt in welcher Zeit zu welcher Entwicklung im Gehirn?

So bin ich darauf gestoßen, dass ein Baby instinktiv in der Lage ist, mit Gefahren umzugehen, indem es sich nach der Mutter richtet und zum Beispiel einen Nachfolgewillen zeigt.

Als ich damals an dem Buch arbeitete, gab es in unserer westlichen Kultur die Tendenz, das Baby vor allen potenziell negativen Einflüssen zu bewahren, alles in seiner Umgebung sicher zu machen, abzugrenzen und abzuschirmen. Und ich habe gesagt: »Das ist idiotisch, denn das Gehirn ist offen, um all diese Informationen aufzunehmen, und jetzt lernt das Baby: Die Welt ist gefahrlos.« Das ist ungefähr die schlimmste Information, die wir ihm liefern können, denn die Welt ist nicht gefahrlos.

Damals gab es durch den geringen Ausbau der sozialen Medien noch nicht so etwas wie einen Shitstorm, aber vielleicht gab es böse Reaktionen? Schließlich polarisiert das Thema.

Eigentlich nicht. Die erste Auflage war bereits nach ein paar Monaten verkauft. Später habe ich das Buch überarbeitet, weil ich offensichtlich in einigen Punkten missverstanden wurde: Ich hatte auf die Bedürfnisse des Babys hingewiesen, aber nicht gesagt: »Liebe Eltern, gebt die Führung auf!«.

Ich relativierte meine Aussagen, als ich merkte, dass viele Eltern nur noch auf die Bedürfnisse des Babys schauten und nicht mehr führten. Daraufhin kamen die negativen Reaktionen.

Sie meinen, die Eltern wollten nicht hören, dass sie weiter in der Verantwortung stehen?

Genau.

In der Zeit haben Sie eine Ausbildung im Bereich der Erwachsenenbildung gemacht, Sie waren in einer Migros Klubschule angestellt – einem speziellen Schweizer Angebot mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung – und haben dort Kurse gegeben. Obendrein haben Sie noch eine Craniosacral-Ausbildung absolviert?

Die Craniosacral-Ausbildung war eine Fortsetzung von dem, was ich ohnehin schon machte. Nach einer Zusatzausbildung für Kinder und Babys habe ich meine eigene Praxis eröffnet.

Sie werden ja häufig mit »windelfrei« in Verbindung gebracht, dabei stammt diese Vokabel nicht von Ihnen?

Diesen Begriff habe ich übernommen, weil plötzlich alles von windelfrei sprach.

2011 hatten die Journalistin Julia Dibbern und die Wissenschaftsjournalistin Nicola Schmidt das artgerecht®Projekt gegründet. Julia Dibbern hatte mein Buch »Dein Baby kann’s« gelesen und die Methode erfolgreich bei ihrem Kind angewendet. Sie war mit mir in ständigem Austausch. Ich habe sie mit allen nötigen Informationen versorgt und für ihr Buch »Geborgene Babys« das Vorwort verfasst. Irgendwann habe ich nichts mehr von ihr gehört – bis die beiden Frauen dieses Projekt gegründet hatten und alle nur noch von »windelfrei« und »artgerecht« sprachen. Ich fühlte mich außen vorgelassen; schließlich bin ich die Urheberin dieser Theorie, wurde aber aus der Diskussion rausgehalten.

In Nicola Schmidts Buch »artgerecht« tauchte mein Name nicht auf. Nun ist diese junge Frau fitter mit den sozialen Medien und hat sich am Markt gut positioniert. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich damit hat auflaufen lassen und mein Buch verkaufte sich kaum mehr. Freunde berichteten, dass sie mich nicht im Internet fänden – naja, ich bin auch nicht so der Social-Media-Typ.

Sie hatten Probleme mit Schmidts Veröffentlichung?

Für mich ist das wissenschaftliche Fundament elementar. Denn Kinder sind unser höchstes Gut und nirgends kann man so viel Schaden anrichten, wie bei Neugeborenen. Und was bei »artgerecht« rauskommt, ist meiner Meinung nach zum großen Teil nicht stimmig – sogar falsch. Auf mich wirkt das so, als meide Schmidt den Namen Rita Messmer – schließlich stammt der theoretische Unterbau von mir. Zudem erwähnt sie mit keinem Wort, dass dieser Entwicklungsschritt einer sensiblen Phase untersteht – denn damit müsste sie zu erkennen geben, woher sie dieses Wissen hat. Sie hat ja nie mit Babys gearbeitet. Wissen kann man nicht schützen, aber wenn eine Wissenschaftsjournalistin Quellen und wichtige Informationen unterschlägt, dann finde ich das übel.

Sie haben das Gefühl, Schmidt hat das Thema gekapert?

Ja. Warum hat Nicola Schmidt sich nie mit mir in Verbindung gesetzt? Ich hätte ihr alle meine Daten gegeben, damit hätte ich überhaupt kein Problem gehabt. Und jetzt veröffentlicht sie Dinge, die so nicht stimmen.

Zum Beispiel?

Plötzlich sitzt eine Mutter in meinem Kurs und weint, weil sie ihr neun Monate altes Baby nicht mehr abhalten kann, denn es will dabei unbedingt an die Brust. Das hat sie bei »artgerecht« gelernt.

Dabei ist doch klar, dass Ausscheiden und Trinken nicht gekoppelt werden dürfen. Von Anfang an nicht. Wenn man das von vornherein trennt, dann kommt ein Baby gar nicht erst auf die Idee.

Und »artgerecht« trennt das nicht?

Natürlich wird beim Trinken der gastrokolische Reflex ausgelöst, aber dann schiebt man doch nicht einfach ein Töpfchen unter den Popo – dann wäre es ja egal, ob das Baby ins Töpfchen macht oder in die Windel. Auch beim Trinken gibt ein Baby klare Signale: Es beginnt, an der Brustwarze zu ziehen, hört auf zu trinken und macht entsprechende Geräusche – das Signal dafür, dass die Ausscheidung kurz bevor steht.

Die Mutter nimmt das Baby von der Brust, hält es ab (am besten hat sie dazu ein Töpfchen in Griffnähe), das Baby scheidet aus, dann stillt die Mutter weiter. Mit der Zeit lernt das Baby, dass es abgehalten wird, dann kann die Mutter fertig stillen und das Baby danach abhalten. Die Mütter brauchen fundiertes Wissen, auch über das Bedürfnis des Babys nach klarer Führung. Soweit ich gehört habe, haben viele moderne Eltern die »Windelfrei«-Methode aufgegeben, weil ihnen der pädagogisch wichtige Teil der sicheren Führung fehlte. Das schadet dem Thema mehr, als es nützt.

Sie haben den Eindruck, dass diese Entwicklung auch mit dieser neuen Literatur zusammenhängt?

Absolut. Das war offensichtlich. Ich frage mich: Wie ist es möglich, dass jemand über die Entwicklung von Babys spricht, sogar ein Buch dazu schreibt, ohne die geringste eigene Erfahrung, Ausbildung oder Feldforschung mitzubringen? Ohne zu sehen, wie Kinder sich verhalten und was sich daraus entwickelt.

Gab diese Erfahrung den Impuls, Ihre Reinlichkeitsstudie durchzuführen? Erster Satz des Fazits lautet: »Die Ergebnisse der Befragung zeigen eindeutig, dass eine frühe Stimulation der Reinlichkeit möglich ist.«

Nein, es entstand das Bedürfnis, mein letztes Buch zu schreiben: »Der kleine Homo Sapiens kann’s«, in dem ich auf das größte Bedürfnis des Babys hinweise: dem Bedürfnis, geführt zu werden.

Die Studie wurde bereits 2012 veröffentlicht, da wusste ich noch nichts von Nicola Schmidt. Bei dieser Untersuchung haben mich ein Biologe (der alles durch die »Biologenbrille« betrachtete) und ein Pädagoge unterstützt. Beide haben mich bestärkt und gesagt: »Jeder Mensch kann eine Studie durchführen. Für die Medien kannst du es brauchen, für die Wissenschaft eher nicht.«

Haben Sie Reaktionen auf die Studie bekommen?

Die Ergebnisse haben dazu beigetragen, dass das Thema in den Medien präsenter wurde und diejenigen, die bereits die Technik des Abhaltens praktizierten, fühlten sich bestätigt. Auf die medizinische Lehrmeinung hatte diese Untersuchung keinen Einfluss.

Um eine medizinische Lehrmeinung zu ändern, reicht vielleicht eine private Studie nicht. Gibt es denn von wissenschaftlicher Seite Erhebungen zu diesen Reflexen oder zum Abhalten?

Es gibt eigentlich nur die Veröffentlichung von Remo Largo in den »Babyjahren«, in der er sich auf eine Studie des Psychiaters Didier-Jacques Duché aus den 1970er-Jahren bezieht. Es gibt mittlerweile einige internationale Studien zur Thematik. Aber, es gibt weltweit noch keine einzige Studie zum Ausscheidungsverhalten von Neugeborenen und Säuglingen in den ersten drei Lebensmonaten. Seit Konrad Lorenz wissen wir, wie prägend und wichtig Einflüsse in der Anfangszeit sind.

Ihre aktuell größte Sorge sind die Schulkinder, die zunehmend inkontinent sind oder ohne Windel nicht ausscheiden können.

Das Problem ist riesig! Tatsächlich gibt es sehr viele Kinder, die ihren Stuhl nur in eine Windel verrichten. Die sind für die Gesellschaft meistens unsichtbar, weil sie nicht permanent eine Windel tragen: Nur für das große Geschäft ziehen sie sich eine Windel an, drücken den Stuhl hinein und nachher ziehen sie sich wieder ein Höschen an.

Ich habe mich bei Grundschullehrer:innen umgehört, die kennen das Problem nicht. Das ist ja auch ein Riesentabu. Eigentlich reicht ein Blick ins Windelregal der Drogeriemärkte: Da stehen massenweise große Windeln – und dahinter unzählige Familiendramen.

Was meinen Sie, warum nimmt das so zu?

Weil die Kinder auf Windeln geprägt sind. Zum Beispiel gibt es ja viele Kinder, die Pipi aufs Klo machen, aber für den Stuhlgang wollen sie partout eine Windel.

Werfen wir einen Blick auf die Anatomie der Ausscheidungsorgane. Da haben wir einen inneren und einen äußeren Sphinkter, den Beckenboden und den Anus. Der innere Sphinkter ist vegetativ gesteuert. Wir können ihn bewusst gar nicht kontrollieren, er wird nur durch Neurotransmitter geöffnet. Bei diesen Kindern, die immer in die Windel stuhlen, öffnet sich der innere Sphinkter aber nicht. Erst wenn das Gehirn spürt, dass da eine Windel ist, werden die Neurotransmitter losgeschickt, um den inneren Sphinkter zu öffnen.

Mit diesen hochtechnischen Windeln spüren die Kinder seit dem ersten Lebenstag den Stuhl an ihrem Gesäß. Und jetzt ist das über Tage, Wochen, Monate, Jahre so gelernt. Das Gehirn sagt sich: »Das muss so sein«, weil es die Erfahrung so gespeichert hat – und sorgt für die entsprechenden Vernetzungen. Das gibt dem Kind Sicherheit, denn es ist das Vertraute.

Aber Windeln gibt es in unserer Kultur seit weit über 100 Jahren …

[lacht] Früher haben die Eltern doch geschaut, dass die Kinder sicher nicht in die Windeln machen – vor allem beim Stuhl.

Fakt ist nun ja, dass die meisten Säuglinge und Kleinkinder in unserem Kulturkreis eine Windel tragen. Wie lässt sich vorbeugen, dass ein Kind mit acht Jahren immer noch eine Windel braucht?

Die Kinder müssen erfahren, dass sie ausscheiden. Wenn es um Urin geht, können die Eltern zum Beispiel mit neun oder zwölf Monaten beginnen und dem Kind statt einer Windel ein Höschen anziehen. Wenn das Kind jetzt beim Pipi-Machen nass wird, geht sein Blick zur Mutter, weil es nicht einordnen kann, was passiert ist. Aber das Gehirn assoziiert das mit etwas Negativem, kein Tier pieselt über sich selber. Und jetzt sagen die Eltern: »Oh, Pipi? Schau mal Pipi machen wir da!« und ihr Blick geht rüber zum Töpfchen.

Das Kind schaut sofort, wo die Eltern hinschauen – das ist entscheidend und wichtiger als Worte. Und wenn der Blick dann zum Töpfchen schwenkt, ist der Weg eigentlich schon klar.

So können Eltern ihr Kind führen, die intrinsische Motivation wecken. Jetzt muss das Kind noch lernen zu spüren, wann die Neurotransmitter den Innen­sphinkter öffnen …

Fühlen Sie sich manchmal wie eine Ruferin in der Wüste?

Wir sind so aufgewachsen und haben ab dem ersten Tag gelernt, dass Babys Windeln brauchen. Das suggerieren auch die zahlreichen Werbungen, die wir seit dem Kleinkindalter sehen, mit süßen Babypopos und glücklichen Babys. Und wir sehen, wie Eltern sich ihrem Kind beim Windelwechseln zuwenden können. All das hat uns geprägt. Und jetzt kommt etwas ganz Neues – und das darf nicht sein. Das bedeutet ja auch, das bisherige Tun infrage zu stellen.

Wenn ich Wissenschaftlerin wäre, dann würde mich das Thema neugierig machen und ich hätte das Bedürfnis, es unter die Lupe zu nehmen: Wie macht das Baby das? Wie machen es Mütter aus anderen Kulturen? Stattdessen werden massenhaft Windeln für 12- bis 15-Jährige in Geschäften verkauft.

Wahrscheinlich findet man es schon fast normal, dass man mit 20 Jahren inkontinent ist.

Das ist eine steile These. Und Bettnässer hat es doch immer schon gegeben? Kinder, die durch psychischen Stress wieder ins Bett machen.

Ich spreche von inkontinenten Kindern. Bettnässer waren schon trocken und werden aufgrund psychischer Belastungen zu Bettnässern. Unser heutiges Problem entsteht, weil das System keine Impulskontrolle kennt, denn die Kinder können ja überall und zu jeder Zeit ausscheiden. Das Gehirn arbeitet effizient und sagt sich: »Ich muss keine Meldung ans Bewusstsein schicken, weil das Kind ja immer und überall pinkeln oder stuhlen kann.

Es ist nicht so, dass die Kinder nicht ohne Windeln sein wollen. Sie können es nicht. Wir müssen biologischer denken- verstehen, wie die Biologie uns steuert.

Steht Ihnen manchmal der Sinn nach lautem Protest?

Ich habe schon überlegt, mich – à la Greta Thunberg – mit Säcken voll stinkender Wegwerfwindeln auf den Bundesplatz in Bern zu setzen.

Was wären dann Ihre Forderungen?

Dass die Wissenschaft endlich ihre Arbeit macht. Wir brauchen wissenschaftliche Studien, die zeigen, wie wichtig die jeweiligen Entwicklungsschritte beim Kind sind.

Ich wünsche mir außerdem, dass die Bewerbung von Einwegwindeln verboten wird – vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern, weil diese Windeln das intuitive Wissen zum Abhalten untergraben. Und dass Einwegwindeln einen Aufdruck bekommen (ähnlich wie bei Zigaretten): »Kann die gesunde Entwicklung des Kindes beeinträchtigen«.

Frau Messmer, ich danke Ihnen herzlich für dieses bewegende Gespräch.

Die Interviewte

Rita Messmer beschäftigt sich als Entwicklungspädagogin seit 35 Jahren mit der frühkindlichen Entwicklung. Sie ist Buchautorin, Urheberin des »modernen« Windelfrei (hello nappy), Erwachsenenbildnerin, Craniosacral-Therapeutin in eigener Praxis in der Schweiz mit Schwerpunkt Babys und Kleinkinder und Gründerin der EPM-Schule (Entwicklungspädagogik Rita Messmer). Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und dreifache Oma.

Kontakt: info@rita-messmer.ch

Zitiervorlage
Salis, B. (2023). Interview mit Rita Messmer: »Wir müssen biologischer denken!«. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (5), 68–73.
Literatur
Dibbern, J. (2010). Geborgene Babys. 3. Auflage, tologo.

Duché, D.J. (1973). Patterns of micturition in infancy. An introduction to the study of enuresis. In Kolvin I, MacKeith RC, SR Meadow (Hrsg.): Bladder Control and Enuresis. Clinic in Developmental Medicin Nos. 48/49; William Heniemann Medical Books Ltd.

Largo, R. (2019). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. 11. Auflage, Piper.

Leboyer, F. (1999). Sanfte Hände. Die traditionelle Kunst der indischen Babymassage. Nur noch antiquarisch erhältlich.

Liedloff, J. (2020). Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit. 9. Auflage C.H.Beck.

Messmer, R. (2023). Ihr Baby kann‘s!: Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit von Kindern fördern. 7., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Beltz.

Messmer, R. (2012). Reinlichkeitsmethode. Eine qualitative Studie zur Reinlichkeit bei Säuglingen. rita-messmer.ch/wp-content/uploads/2019/07/reinlichkeitsstudie.pdf

Messmer, R. (2018). Der kleine Homo Sapiens kann’s! Die natürliche Kompetenz und Selbstständigkeit von Kindern stärken. 1. Auflage, Beltz.

Schmidt, N. (2021). artgerecht. Das andere Babybuch. 3. Auflage, Kösel.

https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png