Große Gelassenheit
„Wir sind sehr froh, hier in Indonesien und nicht mehr in Ghana zu sein. Dort waren wir in der größten Klinik des Landes in der Hauptstadt Accra. Es war wirklich schrecklich. Wir waren bei vielen Geburten dabei, die alle wie am Fließband abliefen: grob, würdelos und medizinisch zurückgeblieben!”, beschreibt Jasmine die Erlebnisse in dem westafrikanischen Staat. Die dortigen ÄrztInnen und Hebammen hätten den gebärenden Frauen keinerlei Privatsphäre, Ruhe oder Zeit gegönnt. Häufig sei in die natürlichen Geburtsvorgänge mit medizinischen – aus Sicht von Lena und Jasmine nicht notwendigen – Maßnahmen eingegriffen worden, um den Prozess zu beschleunigen. „Zum Glück hat Witnowati eine ganz andere Herangehensweise”, berichtet Lena. Die indonesische Hebamme, die von allen „Wiwit” genannt wird, versuche immer, die Geburten so natürlich wie möglich ablaufen zu lassen. Sie habe die Ruhe weg.
Wiwit macht keine Kaiserschnitte, ist aber sehr gut ausgestattet. Sie hat ein Ultraschall- und ein Dopplergerät, um die Herztöne des Kindes kontrollieren zu können. Und auch sonst hat sie gute Notfallmedikamente für Mutter und Kind. Die Frauen sterben in Ghana nach einem Kaiserschnitt häufiger als in Indonesien, weil viele keine Nachbetreuung erfahren, weil sie kein Geld dafür haben. Es kommt im Wochenbett zu Blutungen und auch die Medikamente, die benötigt werden, können sich die Frauen oftmals nicht leisten. Aus dem Grund gehen sie bei Problemen auch nicht zur Kontrolle ins Krankenhaus oder zu einer Hebamme.
In Lembang ist Witnowati rund um die Uhr für die Schwangeren erreichbar. Täglich kommen bis zu 80 PatientInnen in das Praxisgebäude der 39-Jährigen – mitunter auch Motorradunfälle und andere medizinische Notfälle fernab der Gynäkologie. Denn in Lembang gibt es nur sehr wenige ÄrztInnen und Hebammen. Neben Witnowati arbeiten in der rund 200.000 Einwohner fassenden Stadt nur drei weitere Geburtshelferinnen. Zudem zählen Hausbesuche zum Arbeitsalltag der indonesischen Hebamme.
Sie wurde selbst in ärmlichste Verhältnisse hineingeboren und weiß, wie wichtig Hilfe von Außenstehenden ist. Witnowati kam 1975 zusammen mit ihren beiden jüngeren Brüdern in das SOS Kinderdorf in Lembang, nachdem ihr Vater, ein Bauer, nach mehreren Missernten die neunköpfige Familie nicht mehr ernähren konnte.
Armut ist auch der Grund, warum viele werdende Mütter auf die Unterstützung der SOS Kinderdörfer angewiesen sind, die beispielsweise Familien mit Geld für Medizin, Schulbücher und Essen sowie auch für Witnowatis Hausbesuche versorgt. Diese sind dringend erforderlich, erzählt Witnowati, die sich teilweise sogar nachts und zu Fuß zu den kleinen Holzhäusern in den Bergen aufmacht, weil dorthin keine befahrbaren Wege führen.
Wiwit hat selten Kindern auf die Welt geholfen, die krank sind oder Fehlbildungen hatten. Wenn dies der Fall ist, wird je nachdem, wie viel Geld die Familie hat, in die Klinik weiterverlegt – oder eben nicht. Einmal hatte sie die Geburt eines Kindes mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte begleitet. Der Säugling ist gestorben, weil er die gefütterte Nahrung aspiriert hatte. Dass ein Baby bei der Geburt gestorben ist, ist Wiwit allerdings bisher extrem selten widerfahren.
In vielen Gebieten Indonesiens ist die Sterblichkeit von Mutter und Kind bei der Entbindung noch sehr hoch, denn oft ist die Geburtshelferin eine Frau ohne jegliche Ausbildung, die traditionelle, oft unhygienische Methoden verwendet. Die Geburtenrate pro Frau lag 2011 in Indonesien übrigens bei 2,09 Geburten.
Die Kosten für einen Klinikaufenthalt sind für die arme Bevölkerung unbezahlbar. Witnowati erzählt: „Ich werde oft gerufen, wenn bei einer traditionellen Geburt durch zu heftiges Ziehen die Gebärmutter aus dem Leib geholt wurde, wodurch die Mutter verbluten könnte.”
Solche Notfälle gibt es bei Hausgeburten in Ghana auch häufig, berichtet die bayerische Hebamme Lena. Doch in dem afrikanischen Land kann den Gebärenden leider nicht immer geholfen werden: „Viele Frauen sterben, weil sie zu weit weg von einer Klinik wohnen und bei auftretenden Komplikationen den Weg nicht auf sich nehmen können oder dieser zu lang ist, um rechtzeitig ins Krankenhaus zu gelangen. Auch nach einer Geburt im Krankenhaus ist die Sterberate der frisch gebackenen Mütter hoch. Sie verlassen die Klinik meist bereits einen Tag nach der Entbindung. Die Ärzte sagen ihnen dann zwar, dass sie sich melden und wiederkommen sollen, wenn Probleme auftreten, aber manchmal wohnen sie viele Autostunden entfernt und können oder wollen die lange Fahrt nicht noch einmal auf sich nehmen”, seufzt Lena.
Keine Berührungsängste
Wiwit war auf einer Hebammenschule. Die Ausbildung ging drei Jahre und hat auch die Arbeit auf anderen Stationen beinhaltet – mit praktischer und theoretischer Ausbildung. Witnowati versucht mit ihrem enorm hohen Arbeitseinsatz so vielen Frauen wie möglich zu helfen. Auch heute warten bereits 30 Frauen in der kleinen Klinik, die die Hebamme vor 10 Jahren selbst aufgebaut und stetig vergrößert hat. Allerdings sind einige nicht aufgrund von akuten Beschwerden oder zur Vorsorgeuntersuchung gekommen, sondern weil es sich herumgesprochen hat, dass zwei deutsche Hebammen bei Witnowati hospitieren und eine Lymphdrainage vorführen möchten: „In der Schwangerschaft kommt es bei vielen Frauen vor, dass sich Wasser einlagert und zum Beispiel die Füße dick werden”, erklärt Jasmine den Grund für die Massage, die sie an Lena vorführt. Konzentriert beobachten die schwangeren Indonesierinnen die Handgriffe und wenden sie dann sofort gegenseitig bei sich an. „Hier haben die Frauen untereinander keine Berührungsängste. In Deutschland haben wir das noch nie so beobachten können, dass sich Schwangere derart helfen”, meint Lena. „Oder die Partner legen in Deutschland Hand an.” Diese wollen auch die indonesischen Frauen mit einbeziehen und eine fragt frech: „Ihr habt uns ja gesagt, dass es genügt, die Lymphdrainage etwa zehn Minuten durchzuführen. Wäre eine längere Massagezeit denn schädlich? Falls nicht, können wir unseren Männern nämlich einfach sagen, sie sollen uns eine halbe Stunde die geschwollenen Beine massieren.” Nicht nur bei dieser Frage müssen Jasmin und Lena lachen. Auch die Tatsache, dass Witnowati die Lymphdrainage als „Big-Foot-Massage” bezeichnet, amüsiert die beiden. Neben den Sprachunterschieden – Witnowatis Englisch ist fast so schlecht wie das Indonesisch der deutschen Hospitantinnen, was eine abenteuerliche, aber funktionierende Verständigung mit Händen und Füßen zur Folge hat – sei auch das Verhalten der Schwangeren spannend zu beobachten, berichtet Jasmine: „Den Frauen hier merkt man nicht an, dass sie gerade ein Kind zur Welt bringen. Die geben keinen Ton von sich, sondern wirken bei einer Wehe höchstens ein bisschen angestrengt. Und all das ohne schmerzstillende Mittel!” Die Männer und Familien begleiten die Frauen übrigens zur Geburt, gehen aber nur auf Wunsch der Frau mit in den Kreißsaal.