Die Sandmalerin Anne Löper präsentierte eine Geschichte von Werden und Wachsen, Angst und Zuversicht beim Hamburger Fachtag Perinatalmedizin zum Weltfrühgeborenen-Tag im November.
Foto: © Birgit Heimbach
Die Sandmalerin Anne Löper präsentierte eine Geschichte von Werden und Wachsen, Angst und Zuversicht beim Hamburger Fachtag Perinatalmedizin zum Weltfrühgeborenen-Tag im November.
Das Licht geht aus. Die rund 100 TeilnehmerInnen des Fachtags Perinatalmedizin in der Hamburger Medical School schauen auf eine große Leinwand (siehe auch Seite 66ff.). Hebammen, ÄrztInnen und PsychologInnen sind soeben von der Sandmalerin Anne Löper gebeten worden, sich zurückzulehnen und sich ganz auf ihre kunstvolle Präsentation einzulassen. Löper, die vorne in einer Ecke steht, ist nun in Dunkelheit getaucht. Man hat aber zuvor sehen können, dass vor ihr eine große Glasplatte auf Beinen wie eine Art Tisch aufgebaut ist und dass sie aus einem Eimer Sand darauf geschüttet hat. Darüber ist eine Kamera befestigt, die nun das, was sie live mit Sand malt, über einen Projektor vergrößert auf die Leinwand überträgt.
Zartes Klavierspiel erklingt. Löpers Hand wird auf der Leinwand sichtbar – als große und doch filigrane schwarze Schatten-Hand. Wie im Schattentheater tänzelt sie nun flink hin und her, streut Sand, verschiebt ihn, lässt eine Frau mit langen Haaren entstehen. Ein Mann kommt dazu. Nun ist die Frau schwanger, der Bauch wird größer. Sand wird neu aufgestreut, zur Seite geschoben und gewischt, mal energisch mit der ganzen Hand, mal mit nur zwei Fingern. Nun sieht man einen Ultraschallkegel mit erstaunlich real wirkenden Schallwellen, darin wächst ein Fetus an einer langen Nabelschnur.
Die Welt von werdender Mutter und Kind scheint in Ordnung. Aus dem Lautsprecher erklingt Löpers behutsame Stimme: »Der Liebe entnommen, dem Leben geschenkt, in Freude gereift, dem Tode entronnen.« Dramatik bahnt sich an: Es tönt ein Martinshorn, ein EKG beginnt zu piepen – stärker werdendes Trommeln. Eine Szene mit Inkubator folgt: ein winzig kleines Baby, von durchsichtigen Wänden abgegrenzt, daneben die – laut Erzählstimme – verstummte Mutter. Die Stimme aus dem Off sagt: »Lass mich das Pochen deines Herzens hören. Die Macht, die uns vereint, wird uns auch trennen. Ich bin ein Blatt, zu früh vom Baum gerissen, einsam im Kasten werd‘ ich geliebt. Sendest mir Liebesblicke aus müden Augen. Mutterschaft und Mutterbrüste suche ich.« Die große Schatten-Hand ist in Bewegung. Aus einem Bild entsteht das nächste, immer weiter spinnt sich die kleine Geschichte.
Schließlich landet das winzige Kind im Arm der Mutter, Meeresrauschen ist zu hören. Löpers Stimme spricht über Verzweiflung, Liebe und aufkeimende Hoffnung, schließlich Dankbarkeit. »Ich danke euch in jeder stillen Stund‘. Ohne Wort dankt es in mir.« Der von der Mutter erträumte Strandspaziergang mit einem kleinen Mädchen an der Hand scheint wahr zu werden.
15 Minuten Poesie und Gänsehaut. Der Mix aus dem Sound, den zarten sich ständig verändernden Bildern, dem beständigen Rieseln des Sandes, den behutsamen und beschwingten Bewegungen von Löpers Hand, der eigenen Konzentriertheit auf die Bilder im ansonsten dunklen Raum – das alles hinterlässt einen starken Eindruck. Genau das hatte der Neonatologe Dr. Sönke Siefert, Chefarzt vom Medizinmanagement am Wilhelmstift und Organisator, beabsichtigt. Er wollte auf diesem Fachtag die Emotionen in den Mittelpunkt rücken, Gefühle von Mutter und Kind verständlich machen, die emotionale Wende in der Neonatologie – nachdem die Technik beste Überlebenschancen ermöglicht hat – für alle nachvollziehbar machen.
Der Sand war ein gutes Symbol für das Zarte von Frühgeborenen und das mitunter nicht kontrollierbare Rieseln von Leben. Die subjektive Sicht der Künstlerin und das Erzählerische in der Performance stießen Reflexionen über eigene Erfahrungen und Sichtweisen bei den BetrachterInnen an. Ihre Empathie wurde mobilisiert. Neue Verstehensprozesse können zu neuen Verhaltensweisen animieren.
Wenige Spuren mit dem Finger im Sand und es entsteht eine Szene mit dem Frühgeborenen im Inkubator. Die Mutter möchte ihr Kind berühren. Ein paar Linien – und es liegt geborgen auf ihr Fotos: © Birgit Heimbach
Vor dem Auftritt verinnerlicht Anne Löper schnell den Ablauf einiger Szenen, mit einem Fächerbesen gibt sie dem Sand
Strukturen.
Fotos: © Birgit Heimbach
Die Sandkünstlerin Anne Löper hat an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig im Fachbereich Buchkunst und Illustration studiert. Sie arbeitete erstmals mit Sand, als sie an der Hochschule alte Fotos damit retuschieren sollte. Schon damals gefiel ihr das Material im Gegenlicht. Auf der Suche nach einer »tieferen und wahrhaftigen Ausdrucksweise« stieß sie in Russland auf die Aufführung einer Sandmalerin. Da es über diese Kunstform, die in Deutschland bisher kaum verbreitet ist, keine Lehrbücher gibt, brachte sie sich ab 2008 alles autodidaktisch bei. Ein paar Techniken, um mit zwei Fingern bestimmte Muster zu erzeugen, lernte sie in Indien.
Ihre Geschichten bestehen aus einer Abfolge von Bildern, die genau einstudiert sind. Kleine Fotos von jedem Motiv hängen wie ein Storyboard bei den Aufführungen neben ihr. Als Performance-Künstlerin tritt sie auf Festivals auf, agiert in Fernsehproduktionen, Musikvideos, Liveshows mit MusikerInnen, Theaterstücken und eigenen Projekten. Ein Thema ist beispielsweise die Geschichte Dresdens, wobei ganze Straßenzüge vor den Augen der ZuschauerInnen niederbrennen und wiederaufgebaut werden. Impressionen einer Indienreise flossen ebenfalls in eine Performance ein.
Vor einem Jahr wirkte sie mit bei einem Dokumentarfilm von Mark Michel über die autistische und mehrfach körperlich schwer behinderte junge Frau Veronika Raila: »Sandmädchen«. Diese bekam als Kind einen IQ von Null zugeschrieben. Erst später wurde erkannt, wie lernbegierig und intelligent Veronika ist. Inzwischen hat sie ein Studium begonnen – ihr wird dabei assistiert.
Löpers Bilder aus Sand passen perfekt zu ihrer Biografie. Veronika Raila meint: »Sand als Metapher ist klar, weil ich nicht stabil bin. Eine Kleinigkeit genügt und mein Innerstes bröselt auseinander. Manchmal fühle ich mich auch so, als ob ich in tausend Einzelteile geborsten wäre. Es macht eine Menge Mühe, sich dann wiederaufzubauen. Der Halt zwischen den einzelnen Teilen ist aber nicht von Dauer. Eine Kleinigkeit genügt und ich brösele wieder.«
Für ihre Gemälde nutzt Löper Sand aus der Wüste Gobi in Asien. Er ist Jahrtausende lang vom Wind hin und her getrieben worden, so dass die einzelnen Körner ganz fein und rund sind. Er ist leicht rötlich und wenn er von unten beleuchtet wird, verfärbt er sich bräunlich, sepiafarben. Auf der von unten beleuchteten Glasplatte erlaubt er erstaunlich viele Schattierungen in den unterschiedlich dick aufgetragenen Sandschichten. Je nachdem, ob der Sand mit einem Finger oder der ganzen Hand verwischt wird, entstehen Schärfe, Konturen oder auch dreidimensionale Bilder. Sind diese fertig, werden sie auch schon wieder umgeformt und aus dem gefühlvoll Zerstörten erwächst sogleich ein neues Bild.
SandkünstlerInnen malen keine Bilder für die Ewigkeit. Vergänglichkeit und Einzigartigkeit jedes einzelnen Moments sollen dabei bewusst werden. Bleiben wird nur der Jahrtausende alte Sand – rund zwei Kilo in einem Eimer.