Bei einem ausschließlich gestillten Baby dagegen ist ein Kreuzen der Perzentilenkurven nach oben kein Überfüttern. Übergewicht ist nicht möglich, selbst bei einer Gewichtszunahme von 600 g/Woche (Guóth-Gumberger 2018a, 79–83). Dies ist kein kompensatorisches Stillen. Maßnahmen wie Vergrößern der Abstände zwischen den Mahlzeiten sind nicht erforderlich, weil die Kurve von selbst einschwenken wird. Natürlich kann es trotzdem emotionelle Themen in der Familie geben und es ist sinnvoll, sich mit ihnen zu befassen, allerdings nicht durch eine Reduzierung des Stillens.
Was ist altersgemäß beim Stillen?
Auch wenn emotionale Gründe vorliegen, ist es wichtig, zuerst den aktuellen Hunger zu beseitigen oder den Zustand, über längere Zeit zu wenig Milch getrunken zu haben. Denn dies an sich bedeutet schon Stress. Dann kann man sich weiteren emotionalen Ursachen zuwenden. Wie kann das eine Fachkraft umsetzen, deren Spezialgebiet nicht das Stillen und die Gewichtszunahme ist? Zuerst ist es notwendig, das altersgemäße normale Verhalten eines gestillten Babys zu kennen. Dann wird die Fachkraft die Mutter in ihrem Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes bestärken können. Empfehlungen, die Abstände zu vergrößern oder den Schnuller einzuführen, werden dann nicht gegeben.
Als Orientierung und Einschätzung ist dieser Richtwert hilfreich: Eine Stillhäufigkeit von acht- bis zwölfmal in 24 Stunden meist beidseitig ist bei den allermeisten Stillpaaren ab Geburt bis sechs Monate erforderlich, damit das Baby genügend Milch erhält. Die physiologische Stillhäufigkeit ist nicht bei allen bekannt, die pflegerisch, medizinisch und therapeutisch arbeiten. Auch manche Hebammen empfehlen immer wieder drei bis vier Stunden Abstand zwischen Stillmahlzeiten und finden acht Stunden Nachtpause unbedenklich. Abbildung 1 zeigt ein Beispiel für die möglichen Folgen. Die Häufigkeit von acht- bis zwölfmal in 24 Stunden ist notwendig, um das Stillen längerfristig erhalten zu können (Guóth-Gumberger 2019).
Die Empfehlung von seltenerem Stillen, manchmal die Empfehlung einseitig zu stillen, entbehrt ohne sorgfältige Überprüfung der Gewichtskurve einer objektiven Grundlage. Die Stillmahlzeiten können regelmäßig, nämlich alle zwei bis drei Stunden eine größere Trinkmenge, oder unregelmäßig sein. Bei letzterem nimmt ein Baby zwei, drei oder vier Stunden lang halbstündlich oder stündlich eine kürzere Stillmahlzeit zu sich und schläft erst danach länger. Das sind viele kleine Gänge in einem großen Menü. Solches »Clusterfeeding« kann eine normale Stillfrequenz sein – die Frage ist, wie sich die Mutter darauf einlassen kann. Welche Unterstützung braucht sie in der Familie, damit sie ihrem Baby das häufige Stillen ermöglichen kann?
Mütter haben eine unterschiedliche Speicherkapazität in der Brust und Babys haben eine unterschiedliche Magengröße. Davon hängt es ab und ist kaum zu beeinflussen, ob das Baby selten eine größere Portion oder häufig kleine Portionen trinkt. Sehr häufiges Stillen ist daher ebenso physiologisch und es geht darum, sich darauf einzustellen.
Die Milchmenge wird in den ersten vier bis sechs Wochen hochgefahren, das ist die »Kalibrierung der Milchmenge«. In dieser Zeit ist häufiges Stillen besonders wichtig, von Monat 1 bis Monat 6 bleibt die Tagesmilchmenge etwa gleich.
Der Schnuller reduziert künstlich die Stillhäufigkeit und führt bei vielen (nicht bei allen) Müttern zu einer zu geringen Milchbildung und bei den Babys zu geringer Gewichtszunahme, was das Baby dann signalisiert.
Neugeborene und Babys in den ersten Wochen zeigen eindeutige Hungerzeichen, die bedeuten, dass sie an der Brust saugen möchten. Frühe Hungerzeichen sind: schnelle Augenbewegungen (auch im Halbschlaf), Stirnrunzeln, Hin- und Herdrehen des Köpfchens, Körperbewegungen, leise Geräusche, Lecken an den Lippen, Saugbewegungen und Sauggeräusche, herausgestreckte Zunge, Hand zum Mund führen. Weinen ist ein spätes Hungerzeichen. Nach den ersten Wochen entsteht eine individuelle Kommunikation zwischen Mutter und Kind und die klassischen frühen Hungerzeichen wie beispielsweise »Hand zum Mund« bedeuten beim Baby im dritten oder in späteren Monaten nicht immer Hunger.
Bei der Ernährung mit Muttermilchersatz ist Folgendes normal: eine Häufigkeit von mindestens acht Mahlzeiten in 24 Stunden, unregelmäßige Mahlzeiten, kleinere Portionen, später ein Nachschlag, Pre-Nahrung bis zum ersten Geburtstag, keine 1-er Nahrung, keine Folgenahrung. Es ist wichtig, die Mengenangaben bei der Zubereitung genau zu beachten. Der Schnuller kann auch neben der Flasche dazu führen, dass das Kind zu wenig Nahrung bekommt.
Verhalten interpretieren
Wie ist nun das Verhalten eines Babys, das über längere Zeit zu wenig Milch getrunken hat? Es ist möglich, dass ein Baby über drei bis vier Wochen zu wenig getrunken hat, sich ständig in einem »leichten Fastenzustand« befand, aber eventuell noch nichts an seinem Verhalten oder seinem Aussehen zu bemerken ist. Diese Phase ist jedoch bereits am Gewichtsverlauf und an den Ausscheidungen zu erkennen.
Irgendwann ist es auch am Verhalten zu erkennen: unruhige Stillmahlzeiten, ständig Ran-Weg, Abstemmen von der Brust, Weinen vor oder nach dem Stillen. Der Gesichtsausdruck ist leicht gestresst, angespannt. Babys, die deutlich zu wenig Milch zu sich nehmen, zeigen zwei unterschiedliche Verhaltensweisen: Manche quengeln, weinen, sind sehr unruhig – dies ist leichter zu erkennen. Andere Babys gehen in Rückzug, werden äußerst »pflegeleicht«, verschlafen ihren Hunger, gehen auf Sparflamme – dies ist sehr leicht zu übersehen und wird oft falsch interpretiert. Klinische Zeichen wie Apathie, glanzlose Augen, schlechter Hautturgor, sehr wenig Ausscheidungen treten erst Wochen später auf. »Das Baby sieht (noch) gut aus«, ist daher kein ausreichendes Kriterium, dass es genügend Milch bekommt (siehe Kasten: Frühe Anzeichen).