Den »Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung« können Frauen bei sich tragen, wenn sie selbst oder ihre Töchter von einer Genitalbeschneidung bedroht sind und zum Beispiel in ihre Heimatländer reisen. Foto: Terre des Femmes

Im Februar wurde der »Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung« veröffentlicht. Nun soll er Frauen und Mädchen dabei helfen, sozialem Druck aus den eigenen Communitys im In- und Ausland standzuhalten und den Dialog zu fördern.

Am 5. Februar 2021, einen Tag vor dem »Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung«, hat Bundesfamilienministerin Franziska Giffey einen Schutzbrief veröffentlicht (bmfsfj 2021). Den »Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung« können Frauen bei sich tragen, wenn sie selbst oder deren Töchter von einer FGM/C (Female Genital Mutilation/Cutting – weibliche Genitalverstümmelung/-beschneidung) bedroht sind, wenn sie zum Beispiel in ihre Heimatländer reisen. Der Schutzbrief klärt über die körperlichen und psychischen Folgen von FGM/C auf und macht deutlich, dass es sich dabei um eine schwere Menschenrechtsverletzung und damit ein Verbrechen handelt, das mit hoher Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren strafrechtlich verfolgt wird, gleich ob die FGM/C in Deutschland oder im Ausland durchgeführt wird (§ 226 a »Verstümmelung weiblicher Genitalien«).

Sind die Täterin/der Täter oder das Mädchen/die Frau, die genitalverstümmelt wird, Deutsche oder haben sie in Deutschland ihren festen Wohnsitz oder Lebensmittelpunkt, so wird dieses Rechtsmittel wirksam. Auch wer Beihilfe leistet oder eine FGM/C nicht verhindert, macht sich vor dem Gesetz strafbar. Wer außerdem eine FGM/C plant, unterstützt, nicht verhindert oder durchführt, kann seinen Aufenthaltstitel verlieren. Nach dem neuen Passgesetz kann der Pass eingezogen werden.

Die Begriffe
Das Unsagbare benennen
Female Genital Mutilation (FGM) – weibliche Genitalverstümmelung, den betroffenen Frauen gegenüber weniger stigmatisierend auch als Female Genital Cutting (FGC) – weibliche Genitalbeschneidung bezeichnet (kurz FGM/C), ist die (Teil-)Amputation der äußeren, weiblichen Genitale ohne medizinische Indikation. Mutilation (Verstümmelung) beschreibt dabei den umfassenden, traumatischen Gewebsverlust mit einhergehenden Funktionseinschränkungen.

Schutzbrief muss in den Familien thematisiert werden

Der Schutzbrief ist nicht nur Mittel für FGM/C bedrohte und betroffene Frauen, sich gegenüber sozialem Druck zu behaupten und zu schützen. Er kann auch ein geeignetes Medium darstellen, mit Angehörigen der eigenen Familie und Community, die FGM/C gegebenenfalls gutheißen, in Kommunikation zu treten, sie aufzuklären und zu sensibilisieren.

In den Familien müsse über FGM/C gesprochen werden, meint auch die Rapperin Sister Fa im Interview (siehe »Eine von ihnen sein«). Es genüge nicht, sich rekonstruieren zu lassen und einer Deinfibulation zu unterziehen: »Wenn du in deinem Kopf nicht geheilt bist, dann hilft auch eine Operation nichts.« – Da FGM/C eng verknüpft ist mit überlieferten sozialen Normen, Rollenbildern und Sanktionen muss auch deren Bekämpfung an den Communitys ansetzen, müssen die Traumata überwunden werden.

Gerade die Komplikationen grenzen aus

Dabei können es gerade die unmittelbaren und langfristigen Folgen im Rahmen einer FGM/C sein, schwere Depressionen zum Beispiel, die gerade in die soziale Ausgrenzung und Isolation der Frauen münden können. Stop mutilation e.V. nennt als mögliche Folgen einer FGM/C Tetanusinfektionen, die Ansteckung mit HIV, Stuhl- und Harninkontinenz durch Geburtsfisteln und als langfristige Folge die Unfruchtbarkeit.

Wie die Journalistin Lizzie Dearden berichtet, werden nichtsdestotrotz junge Frauen und Mädchen auf dem Schulhof von Altersgenossinnen unter Druck gesetzt (Dearden 2018). Die Journalistin Melina Grundmann berichtet von Facebook-Gruppen, in denen sich Frauen über die anstehende Beschneidung ihrer Töchter austauschen (Grundmann 2021).

Nach der im Mai 2020 von Terre des Femmes (TDF) veröffentlichten Dunkelzifferstatistik leben rund 74.900 betroffene Frauen über 18 und circa 20.200 gefährdete Mädchen unter 18 Jahren in Deutschland (TDF 2020). 2017 waren es noch etwa 13.300 gefährdete Mädchen. Trotz Zuwanderung geht TDF davon aus, dass Mädchen in der zweiten Generation in Deutschland weniger häufig beschnitten werden. Der Anstieg kann allerdings auch Hinweis darauf sein, dass Aufklärungsarbeit und Sensibilisierungsmaßnahmen wirken und mehr Fälle bekannt werden.

Als Berechnungsgrundlage der Dunkelzifferstatistik dienen Daten von UNICEF (Anteil der Frauen im jeweiligen Heimatland) und dem Statistischen Bundesamt (in Deutschland lebende Frauen und Mädchen). Die tatsächlichen Zahlen werden die Schätzungen der Frauenrechtsorganisation aber überschreiten, da Frauen und Mädchen ohne Papiere sowie eingebürgerte Frauen und gefährdete Mädchen mit deutscher Staatsbürgerschaft in den Daten nicht vorkommen.

Wie TDF berichtet, bestimmt in den Herkunftsländern und je nach Ethnie oft ein bestimmtes Alter, Lebensereignis oder ein Lebensübergang, wie zum Beispiel eine anstehende Hochzeit, den Zeitpunkt einer besonderen Gefährdung für Kleinkinder, Mädchen und Frauen, einer FGM/C unterzogen zu werden. Anders dagegen im Ausland: TDF geht davon aus, »dass in der Diaspora die Gelegenheit den Zeitpunkt bestimmt« (TDF 2020).

Tabelle: Besonders häufig von FGM/C betroffene Frauen und FGM/C-gefährdete Mädchen in Deutschland nach Herkunftsland (Auswahl aus der TDF-Dunkelzifferstatistik) [Erläuterungen zur Dunkelzifferstudie auf Seite 84/85 und ausführlich unter TDF 2020].

Ansatz der Dialogförderung

Der Ansatz der Aufklärung und Dialogförderung zwischen den Geschlechtern und Generationen in den Communitys in Deutschland ist enorm wichtig. Sehr häufig sei FGM/C die Ursache für eine Flucht nach Deutschland, sagt Leni Breymaier (SPD) Ende Januar in einer Bundestagsdebatte (28.1.2021). Die Rückenstärkung dieser Frauen sei daher ausgesprochen wichtig. Es brauche sehr, sehr viel »Sensibilität und Zugänge zu den Kulturen«. Eine Meldepflicht zu FGM/C mache daher wenig Sinn und werde nicht angestrebt.

Erfahrungen aus anderen Ländern zeigten, dass Arztbesuche mit Bekanntwerden einer Meldepflicht für FGM/C gemieden würden, sagt Michael Kuffer (CDU/CSU) in der Debatte. Es diene nur der »Verschleierung und Stigmatisierung der Opfer«. »Insofern hilft es uns nicht, in solchen sensibelsten Fragen innerer Belange betroffener Frauen und Kinder mit sturer Regulatorik vorzugehen«, so Kuffer weiter (28.01.2021). Auch er befürworte, bestehende Gesetze umzusetzen und den Ansatz der Aufklärung und Kommunikation fortzuführen.

Der britisch-amerikanische Weg

In England und Wales sind die Zahlen FGM/C-betroffener Frauen noch höher als in Deutschland – Schätzungen von »Equality Now«, einem internationalen Netzwerk von AnwältInnen, AktivistInnen und UnterstützerInnen zur Beendigung von Ungleichheit vor dem Gesetz, Handel mit Sex, sexueller Gewalt, FGM/C und anderen schädlichen Praktiken sowie Kinderheirat (> www.equalitynow.org 2018) sprechen von 137.000 Frauen und Mädchen der ersten Generation, die im Jahr 2011 dauerhaft in England und Wales lebten. Dort müssen alle Kliniken des National Health Service (NHS) FGM/C-relevante Daten an die jeweilige Gesundheitsbehörde melden. Erfasst wird zum Beispiel, wenn eine Frau oder ein Mädchen beschnitten ist und ob es in der Familie eine FGM/C-Vorgeschichte gibt. Je mehr FGM/C-betroffene Frauen Zugang zum britischen Gesundheitssystem bekommen, desto stärker steigen auch die offiziellen Zahlen, wie »The Guardian« berichtet (30.4.2015). Deshalb spricht der Guardian von »just the tip of the eisberg« – nur die Spitze des Eisbergs.

Unter dem Code-Namen »Limelight« wurde im September 2014 an mehreren amerikanischen und britischen Flughäfen eine transatlantische Operation verschiedener Sicherheitsbehörden unter Beteiligung von SozialarbeiterInnen durchgeführt. Aufklärungskampagnen und Kontrollen haben in England aber kaum zu Festnahmen oder Schuldsprüchen geführt, wie Polizeikommissar Sir Bernhard Hogan-Howe berichtet: »Wenn du gegen deine Eltern aussagen musst, so ist das offensichtlich eine ziemliche Herausforderung« (BBC 9.5.2014). Die Erfahrungen aus England zeigen, dass noch viel früher und an anderer Stelle angesetzt werden muss.

Empowerment und »Statement«

So sind es im Idealfall die aufgeklärten Frauen und Männer aus der Diaspora, die durch den Schutzbrief, auf Englisch nicht umsonst »Statement« genannt, gestärkt und befähigt werden, sich dem sozialen Druck der Communitys entgegenzustellen und für die Belange ihrer Töchter einzutreten. Wichtig dabei sei der Dialog innerhalb der Familie und zwischen Frauen und Männern, betont Sister Fa. Und da spielten die Angehörigen in der Diaspora eine wichtige Rolle. Die Rapperin Sister Fa habe ihrer Familie im Senegal zum Beispiel gesagt: »Wenn jemand deine Tochter beschneiden lassen will, dann bekommst du keinen Cent mehr von mir«. Und das funktioniere.

Kostenfreie Hotline
Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen«
Auskunft und Rat zum Thema FGM/C gibt auch eine bundesweite Hotline:

Fachkräfte wie Hebammen, GynäkologInnen und KinderärztInnen sowie betroffene Frauen, deren Angehörige, und andere können rund um die Uhr über das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« unter der bundesweiten und kostenfreien Hotline 08000 116 016 anonym Auskunft, Hilfe und Rat auch zum Thema FGM/C erhalten.

Sensibilisierung des Fachpersonals – auch der Hebammen

Seit dem 8. Januar 2020 ist FGM/C in die Studien- und Prüfungsverordnung der Hebammen (HebStPrV) integriert. Für Hebammen, die bereits in der Geburtshilfe tätig sind und noch kaum Berührungspunkte mit FGM/C hatten, können interdisziplinäre Fortbildungen und Kongresse als Informationsquelle dienen und den Austausch mit anderen ermöglichen. Beim Thema FGM/C ist es besonders wichtig, erst einmal eigene Berührungsängste abzubauen, um der Frau nicht mit einem, vielleicht schockierten, Verhalten zu vermitteln, dass etwas nicht mit ihr stimmt. Wichtig ist, in Dialog zu sein und zu bleiben. Um einen stimmigen Umgang mit dem Thema FGM/C für sich selbst und ein »good/best practice« zu entwickeln, braucht es stets auch den Austausch mit spezialisierten Fachleuten, die über Erfahrungen mit FGM/C-Betroffenen verfügen.

In vielen Bundesländern gibt es inzwischen sektorübergreifende Netzwerke und Partnerschaften zwischen Politik, Nichtregierungsorganisationen (NRO) und Verbänden, die sich gegen FGM/C engagieren. Das Netzwerk INTEGRA, bestehend aus 33 NROs, war maßgeblich an der Entwicklung des Schutzbriefes beteiligt (> www.netzwerk-integra.de).

Sich als Hebamme sensibilisieren
Durch Netzwerkarbeit und Dialog mit ExpertInnen auf dem Gebiet FGM/C können zunächst die eigenen Hemmschwellen im Umgang mit FGM/C-betroffenen Frauen abgebaut und ein stimmiger, sensitiver Umgang mit dem Thema entwickelt werden. Nur in einem guten Austausch, zum Beispiel in der Netzwerkarbeit oder in Kooperationen mit anderen Berufsgruppen, kann ich als Hebamme herausfinden, wie ich eine Gefährdung einschätzen und den Zugang zu den Frauen herstellen kann. Ich kann mich fragen: Wie nah kommt mir das Thema? Wie »normal« gehe ich mit dem Thema um? Was muss ich noch wissen, um in der Situation angemessen handeln zu können? Wer kann mir weiterhelfen, wenn ich Verdacht schöpfe, dass ein Mädchen eventuell von FGM/C bedroht ist (siehe Kasten Hotline)? Wie und wann spreche ich das Thema an, wenn ich Schwangere betreue, die in Kulturen beheimatet sind, in denen FGM/C praktiziert wird? Wann kläre ich über den Schutzbrief auf?

Hinweis:  Der Schutzbrief ist auf Deutsch und in elf weiteren Sprachen erhältlich: Amharisch, Arabisch, Englisch, Dari, Farsi, Französisch, Kurmandschi, Portugiesisch, Russisch, Somali, Tigrinya, Zazaki und bis zum-Jahres­ende auch in leichter Sprache: > https://bit.ly/3xakhaR


Zitiervorlage
Klimmer, M. M. (2021). Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung: Aufklärung und Dialog. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (5), 84–87.
Literatur
Bundesfamilienministerium (bmfsfj): Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung. 5.2.2021. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/165678/8b9fe30f5248dd30f08d909d315be324/20210204-schutzbrief-genitalverstuemmelung-data.pdf (letzter Zugriff: 20.3.2021)

stop mutilation e.V.: Folgen der Beschneidung, http://stop-mutilation.org/informationen.asp#folgen (letzter Zugriff: 20.3.2021)

Terre des femmes: Dunkelzifferstatistik zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland. Mai 2020. https://www.frauenrechte.de/images/downloads/fgm/TDF_Dunkelzifferstatistik-2020-mit-Bundeslaender.pdf (letzter Zugriff: 20.3.2021)

Dearden L: »Girls being pressured into FGM in UK playgrounds’, survivor warns amid international crackdown«. The Independent. 7 Sept 2018. https://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/fgm-uk-female-genital-mutilation-police-prosecutions-operation-airport-us-proclamation-a8526386.html (letzter Zugriff: 22.3.2021)

Tran M: »Female genital mutilation increase in England ‹only tip of iceberg’«. The Guardian. 30 Apr 2015. https://www.theguardian.com/society/2015/apr/30/female-genital-mutilation-england-fgm-girls (letzter Zugriff: 22.3.2021)

Grundmann M: »Beschnitten zu sein ist wie in einem toten Körper zu leben«. Deutsche Welle. 6.2.2021. https://dw.com/de/beschnitten-zu-sein-ist-wie-in-einem-toten-koerper-leben-zu-leben/a-52256370 (letzter Zugriff: 22.3.2021)

Equality Now: Prevalence of FGM in England and Wales. May 29, 2018. https://www.equalitynow.org/prevalence_of_fgm_in_england_and_wales. (letzter Zugriff: 23.3.2021)

BBC: Female genital mutilation: Woman arrested at Heathrow. 9 May 2014. https://www.bbc.com/news/uk-england-london-27348776. (letzter Zugriff: 23.3.2021)

https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png