Zeit des Umbruchs
Als »Kopernikanische Wende« in der Geburtshilfe bezeichnete Prof. Dr. Marita Metz-Becker, Philipps-Universität Marburg, das Ergebnis der Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert, als das Handwerk der Hebamme ebenso wie zahlreiche weitere medizinische Berufe verwissenschaftlicht und zur universitär gelehrten Disziplin wurden. Geburtshilfe wurde fortan nicht nur von Hebammen, sondern auch von Ärzten ausgeübt, die gleichzeitig die Ausbildung von Hebammen in sogenannten »Acchouchieranstalten« übernahmen und deren Wissen reglementierten.
In ihrem Vortrag »Zeit des Umbruchs. Von der Geburtshilfe zur Geburtsmedizin im Kontext der Aufklärung« schaute Metz-Becker auf diese folgenschwere Umstrukturierung, den Verlust der Autonomie der Hebamme und ihre Degradierung zur Weisungsempfängerin des Arztes in der Entbindungsanstalt unter männlicher Leitung. Zielgruppe in diesen Anstalten waren arme Schwangere, die ihre Körper als Übungsobjekte den Studenten zur Verfügung stellen mussten – mit verheerenden Folgen für die Müttersterblichkeit.
Ebenso wie Labouvie verwies auch Metz-Becker auf den Widerstand sowohl auf Seiten der Hebammen als auch der Schwangeren und Gebärenden. So führte die Gründung von Entbindungsanstalten nicht, wie häufig dargestellt, zur Verdrängung der Hebammen. Bis in die 1880er Jahre waren in Deutschland Hebammen in der häuslichen Geburtshilfe dominant, es herrschte großes Misstrauen gegen die Acchouchieranstalten und später auch gegen Kliniken. So habe zum Beispiel 1914 nur 1 % der Geburten in Kliniken stattgefunden. Auf dem Land habe sich eine große Ambivalenz gegenüber der Klinik als Geburtsort sehr lange erhalten. So ging beispielsweise in Hessen eine auf dem Land lebende Frau bis in die 1960er Jahre nur in die Klinik, wenn die Hebamme eine Indikation stellte. Dies habe sich erst 1968 mit dem Mutterschutzgesetz geändert, als die Klinikgeburt für alle Frauen ohne Indikation von der Krankenkasse bezahlt wurde.
Übergang von der Haus- zur Klinikgeburt
Um den Übergang von der Haus- zur Klinikgeburt und die Reglementierung und Strukturierung des ländlichen Hebammenwesens ging es auch im Vortrag »Von Hebammen, Chyrurgis, Medicis und dem Frauenvolke – ein sich seit dem 18. Jahrhundert veränderndes Beziehungsgeflecht um die Gebärenden im Fricktal/Schweiz« von Sophie Fäs, Universität Basel. Eindrucksvoll zeigte sie, wie die Institutionalisierung des Hebammenwesens das Beziehungsgefüge um die Gebärende und insbesondere die Beziehung zwischen Hebamme und Gebärender veränderte – eine Entwicklung, die in großen Teilen von Europa, in Neuseeland und auch in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten gewesen sei.
Physiologie als Wissensrepertoire
Hebammenspezifisches Wissen und Handeln im Unterschied zu geburtsmedizinischer Versorgung standen im Fokus des Vortrags »Die Physiologie als Hebammenkunst. Eine praxeologische Untersuchung hebammenspezifischer Wissensformen« von Prof. Dr. Annekatrin Skeide, Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Unter der Forschungsfrage »Wie wird die Unterscheidung zwischen Physiologie und Pathologie überhaupt getroffen?« führte sie Interviews mit Hebammen und erforschte die »Physiologie als Wissensrepertoire«.
Ihr Ergebnis: Das Herstellen von Physiologie – das Anpassen von Verläufen an Normen und umgekehrt – ist eine gemeinschaftliche Arbeit, die als »Nichtintervention« verstanden wird. Um diese Praktiken zu untersuchen, brauche es neue Konzepte wie beispielsweise das der Physiologie nicht als einer Tatsache (»matter of fact«), sondern einer Dimension der Fürsorge (»matter of care«).
Wer steht im Mittelpunkt?
Im abschließenden Vortrag »Die reproduktive Lebensphase von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in der Gegenwart: Wer steht im Mittelpunkt?« richtete Prof. Dr. Nicola H. Bauer, Universität zu Köln, den Blick auf die derzeitige Situation rund um Geburten, Geburtsorte und Hebammenarbeit sowie die Akademisierung. In ihrem Überblick, der zugleich Analyse und Ausblick war, stellte sie Daten und Fakten sowie Faktoren des Wandels in der Versorgung vor.
Von dort aus schaute sie auf derzeitige Brennpunkte und Machtverhältnisse. Der notwendige Wandel brauche ausreichend Fachpersonen, hebammengeleitete Versorgungsmodelle, Akademisierung, Evidenzbasierung und interprofessionelle Zusammenarbeit.
Verkörperte Prozesse
Die Abschlussdiskussion der Tagung wurde eingeleitet durch einen Kommentar von Michèle Kretschel-Kratz, Doktorandin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin. Sie verwies auf die Bedeutung des trans- und des interdisziplinären Blicks auf Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett als verkörperte Prozesse in ihren Konstanten und Brüchen – auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Erwartungen. »Wer ist mit wem, wann und wie geboren worden« und »Was entsteht noch, während geboren wird?« Ihr Fazit: »Gute Geburten müssen gemeinsam mit anderen sozialen Bewegungen politisch erkämpft werden«, wurde von den Teilnehmenden und den Veranstalterinnen bestärkt. Es brauche mehr Interdisziplinarität in der Forschung und im kulturellen Wandel.
»Es ist viel passiert und es gibt noch viel Luft nach oben«, so Dr. Tina Jung, und Prof. Dr. Eva Labouvie fügte hinzu: »Dieser Anfang, den wir hier gemacht haben, muss fortgesetzt werden«.