Foto: © Paula Janka Photographie – dokumentarische Familienphotographin

Eine Hebamme aus Gelsenkirchen berichtet von einer Vierlingsgeburt und erzählt die Geschichte der Familie: Die Eltern Ali Hazim und Lozan sind aus dem Irak geflohen, kamen über Umwege nach Deutschland. Die vier Kinder sind gesund und haben kürzlich ihren ersten Geburtstag gefeiert.

Ali Hazim und Lozan stammen aus Sheikhan, einer Stadt nördlich von Mossul. Die Familie gehört zu den jesidischen Kurden und damit zu einer verfolgten Minderheit. Die Region im Nordwesten des Iraks ist ein Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden.

Bereits als Jugendlicher verließ Ali Hazim den Irak, auf der Flucht vor den Schergen Saddam Husseins. Sein Weg führte ihn über die Türkei nach Bulgarien und schließlich über Deutschland nach Norwegen. Dort lernte er im Asylbewerberheim Lozan kennen. Sie wurden ein Paar und lebten einige Jahre in Norwegen. Als Lozan im siebten Monat schwanger war, kehrten sie in den Irak zurück, da sie sich eine Besserung der Verhältnisse nach dem Sturz von Saddam Hussein erhofft hatten. Dort kam 2010 die erste Tochter Ranin zur Welt. Da die politische Lage allerdings noch schlechter geworden war als zu Zeiten Husseins, verließen sie bereits nach fünf Monaten erneut ihre Heimat. Getrennt reisten sie über die Türkei nach Griechenland und weiter nach Deutschland. Ali lebte zunächst in Stuttgart, Lozan im westfälischen Warendorf. 2013 wurde die zweite Tochter Rana in Ahlen geboren, wo die Familie zunächst zusammenlebte. Im gleichen Jahr kamen sie nach Gelsenkirchen, wo sie bis heute leben.

Anfang 2018 wird Lozan erneut schwanger. Die Eheleute wünschen sich ein weiteres Kind, gerne einen Sohn. Bei der ersten Untersuchung ist von einem Kind die Rede, bei der nächsten sind es schon zwei. Als die Ärztin bei einer weiteren Ultraschalluntersuchung von drei Kindern spricht, meint Ali: »Wir machen jetzt keinen Ultraschall mehr, es werden ja immer mehr.« Die Ärztin überweist sie ins Perinatalzentrum des Marienhospitals Gelsenkirchen zur endgültigen Feststellung, um wie viele Mehrlinge es sich handelt. Der leitende Oberarzt diagnostiziert schließlich eine intakte Vierlingsgravidität, entstanden nach spontaner Konzeption.

Diese Nachricht muss erst einmal verdaut werden, vier Kinder auf einen Schlag. Mehrlinge gab es schon häufiger auf beiden Seiten der Familie: Lozans Schwester hat Zwillinge, eine Tante Drillinge und ihre Mutter ist selbst ein Zwilling. Bei Alis Familie gibt es ebenfalls mehrfach Zwillinge.

Die ersten Wochen sind damit ausgefüllt, Milch abzupumpen und bei den Kindern zu sein. Foto: © Paula Janka Photographie – dokumentarische Familienphotographin

Lozan kommt ins Marienhospital

In der 22. Schwangerschaftswoche erfolgt die stationäre Aufnahme im Marienhospital Gelsenkirchen aufgrund einer Zervixinsuffizienz, Lozan muss liegen und Bettruhe einhalten. Sie erträgt alles mit großer Geduld und hofft, dass alle Kinder gesund sind. Im Verlauf ihres stationären Aufenthaltes lerne ich Lozan kennen. Durch den Oberarzt erfahren wir Kreißsaalhebammen von einer Schwangeren, die Vierlinge erwartet. Da sie auf der gynäkologischen Station in der achten Etage liegt und sich der Kreißsaal im zweiten Stockwerk befindet, lernen wir Hebammen sie vorerst nicht kennen.

Das Marienhospital ist ein Perinatalzentrum Level 1 mit 1.800 Geburten pro Jahr. Der Anteil an ausländischen Frauen ist mit deutlich über 50 % überdurchschnittlich hoch. Der überwiegende Teil kommt aus dem arabischen Raum (Syrien, Irak, Iran, Libanon), aus Westafrika, den Maghreb-Staaten, dem Balkan und Osteuropa. In den letzten Jahren kommen auch zunehmend Roma aus Rumänien und Bulgarien. Unabhängig von der Herkunft, spricht ein großer Teil dieser Frauen kein Deutsch. Viele haben eine unzureichende Vorsorge, teilweise überhaupt keine. Manche sind durch Krieg und Flucht traumatisiert und haben aufgrund ihrer ethnischen Herkunft viel Ausgrenzung erfahren. Die deutschen Frauen kommen oft aus sozial schwachen oder prekären Verhältnissen.

Die Geburtshilfe ist trotz dieser erschwerten Bedingungen von Geduld geprägt, was in einer Epirate von 1 % und dem Unterlassen von Kristellern zum Ausdruck kommt. Die Sectiorate liegt bei 35 %. So viel zur Geburtsklinik, in der Lozan nun landet.

In einem Spätdienst, in dem es ausnahmsweise mal ruhig ist, beschließe ich, sie zu besuchen. Ich erkläre ihr, dass ich Hebamme bin und mich erkundigen will, wie es ihr geht. Leider spricht Lozan nur wenig Deutsch, aber sie freut sich über den Besuch. Ich versuche herauszubekommen, wie ich ihr helfen kann und was sie dringend benötigt. Im Verlauf der nächsten Wochen besuche ich sie noch ein paarmal und lerne dabei auch ihren Mann und ihre beiden Töchter kennen. Finanzielle Hilfe durch die Caritas ist bereits organisiert, ebenso eine Familienhebamme. Ich fange an, Babykleidung zu besorgen. Nach einem Aushang im Schaukasten der Kirchengemeinde gibt es viele Anrufe und es kommt viel Ausstattung für vier kleine Kinder zusammen.

Hektische, aber glückliche Geburt

Am 3. September 2018 bekommt Lozan nachmittags Schmerzen, sie klingelt nach der Schwester und bekommt eine Tablette Paracetamol. Sie ist jetzt in der 30+0 SSW. Die Schmerzen bleiben weiter bestehen. Im Kreißsaal ist an diesem Nachmittag viel zu tun: Alle Entbindungsräume sind belegt und es gibt keine Meldung von der Station, dass die Vierlingsgravida Schmerzen hat. Die Schmerzen werden weiter mit Paracetamol therapiert.

Gegen 21.15 Uhr wird Lozan in den Kreißsaal gebracht. Ich erkenne sofort, was hier im Gange ist. Bei der vaginalen Untersuchung ist der Muttermund vollständig, der führende Fetus in Schädellage, die Fruchtblase steht. Trotz der aufkommenden Hektik geht am Ende alles gut und gegen 23.30 Uhr werden die Vierlinge per sekundärer Sectio in Spinalanästhesie geboren: Der Junge Roni wiegt 1.080 g, das Mädchen Ronia 985 g, ihre Schwester Razin 1.420 g und dann folgt noch der Bruder Rezan mit 1.365 g.

Da Ali noch eine Betreuung für seine großen Töchter organisieren muss, verpasst er die Geburt seiner Vierlinge. Als er aufgeregt im Kreißsaal erscheint, sind sie bereits auf der Neo-Intensivstation. Ich beruhige ihn und erkläre ihm, dass es Lozan und den Kindern gut geht. Nach der ersten Versorgung nach etwa zwei Stunden darf er sie auf der Neo-Intensivstation besuchen.

Lozan erholt sich schnell und gut von der Sectio. Die nächsten Wochen sind damit ausgefüllt, Milch abzupumpen und bei den Kindern zu sein. Die Vier entwickeln sich sehr gut, bis auf eine kurzfristige Atemhilfe bei Ronia brauchen sie keine Unterstützung.

Der Vater Ali Hazim verpasste die schnelle Geburt – doch anschließend ist er unersetzlich. Foto: © Paula Janka Photographie – dokumentarische Familienphotographin

Mehr Unterstützung gefragt

Ende Oktober werden die Kinder nach Hause entlassen. Die Betreuung daheim wird von der Familienhebamme übernommen, die Lozan bereits in der Schwangerschaft begleitet hatte. Sie besucht die Familie einmal wöchentlich. Ich bleibe mit der Familie in Kontakt und besuche sie sporadisch, quasi ehrenamtlich.

Da es keine Verwandtschaft in Gelsenkirchen gibt, sieht es mit Unterstützung nicht gut aus. Lozans Mutter kommt für ein paar Wochen aus Köln, sonst gibt es nur noch Verwandte in Hannover. Stressbedingt lässt die Milchproduktion schnell nach und Lozan findet auch kaum Zeit, um Milch abzupumpen.

Der Antrag auf eine Haushaltshilfe wird von der Krankenkasse abgelehnt. Begründung: Der Vater sei ja zu Hause. Im Entlassungsbrief der Klinik wird eine häusliche Unterstützung dringend empfohlen, wegen des erhöhten Bedarfs an Pflege und der Fütterung von vier Frühgeborenen. Die Familienhebamme kann trotz mehrerer Telefonate die Krankenkasse nicht umstimmen.

Leider muss ich feststellen, dass Familien, die sich aufgrund von Sprachschwierigkeiten nicht wehren können oder kein selbstbewusstes Auftreten haben, oft übergangen werden. Diese Familie hätte definitiv mehr Hilfe benötigt. Auch die Wohnsituation ist problematisch und bis heute nicht gelöst: Die Familie wohnt in der Innenstadt, im vierten Stock ohne Aufzug. Alle Bemühungen, diese Situation zu verändern, sind bisher ohne Erfolg geblieben. Die Folge ist, dass die Kinder nicht täglich ans Tageslicht kommen, was für ihre gesundheitliche Entwicklung wichtig wäre.

Allen Widrigkeiten zum Trotz hat die Familie diese enorme Herausforderung ohne die notwendige Hilfe gemeistert. Die Vierlinge haben inzwischen den ersten Geburtstag gefeiert, sind gesund und auf einem normalen Entwicklungsstand.

Zitiervorlage
Fichtner F: Vierlinge in der Fremde. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2019. 71 (12): 20–22
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