Hebammen haben per se einen verantwortungsvollen Beruf. Trotzdem fällt es einigen schwer, im Hebammenkreißsaal die volle Verantwortung für die Geburtshilfe zu übernehmen. Wo liegen die Probleme? Welche Bedenken sind unbegründet? Wie sollte die Vorbereitung aussehen?
Bevor ein Team mit dem Projekt startet, einen Hebammenkreißsaal zu implementieren, müssen viele offene Fragen geklärt werden. Hilfreich ist bis dato immer noch das »Handbuch Hebammenkreißsaal – Von der Idee zur Umsetzung« (Verbund Hebammenforschung, 2007). Allerdings findet sich wenig bis gar nichts in der vorhandenen Literatur zur Frage: Kann ich als Hebamme die Verantwortung tragen? Deshalb ist eine intensive Auseinandersetzung zum Thema Verantwortung im gesamten Team notwendig.
Verantwortung bedeutet:
»Mit einer bestimmten Aufgabe, einer bestimmten Stellung verbundene Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass (innerhalb eines bestimmten Rahmens) alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, dass jeweils das Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht.« (Definition von Oxford Languages)
Im Hebammengesetz (HebG) wird die Übernahme von Verantwortung durch die Hebamme genau benannt. So heißt es in § 1:
»Der Hebammenberuf umfasst insbesondere die selbstständige und umfassende Beratung, Betreuung und Beobachtung von Frauen während der Schwangerschaft, bei der Geburt, während des Wochenbetts und während der Stillzeit, die selbstständige Leitung von physiologischen Geburten sowie die Untersuchung, Pflege und Überwachung von Neugeborenen und Säuglingen.«
Hebammen besitzen durch ihre Ausbildung die Kompetenz, eigenverantwortlich Geburtshilfe bei physiologisch verlaufenden Geburten zu leisten. Das besagen auch die EU-Richtlinien, die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung sowie die Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen.
Laut Hebammengesetz § 9 (4), 1f. gehört es zur Verantwortung der Hebamme:
»Anzeichen von Regelwidrigkeiten, die eine ärztliche Behandlung erforderlich machen, in der Schwangerschaft, bei der Geburt, während des Wochenbetts und während der Stillzeit zu erkennen und die in dem jeweiligen Fall angemessenen Maßnahmen für eine ärztliche Behandlung zu ergreifen.«
Das Hebammengesetz (HebG §4) sowie die Berufsordnungen der Länder und die EU-Richtlinien regeln eindeutig, dass Hebammen die regelrechte Geburt ohne Hinzuziehung von Ärzt:innen begleiten können.
Zusammengefasst kann man sagen, dass Hebammen immer in der Verantwortung sind, wenn sie tätig werden.
Gelernte Hierarchie
Über die mehr als 35 Jahre, die ich als Hebamme tätig war, habe ich beobachtet, dass sich gerade Menschen mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein für den Beruf der Hebamme entscheiden. Im Widerspruch dazu hat sich in Deutschland über die Jahrzehnte der klinischen Geburtshilfe eine Hierarchie durchgesetzt, in der die Geburtshilfe von Ärzt:innen geleitet wird. Hebammen, die primär klinisch sozialisiert wurden, sind es zunächst nicht gewohnt, eine Geburt zu leiten, ohne dass eine Ärztin oder ein Arzt in die gesamte Geburt involviert ist.
In den klinischen Standards ist hinterlegt, wann eine Ärztin oder ein Arzt zu informieren ist, auch bei einem physiologischen Geburtsverlauf. Spätestens in der Austrittsphase betritt dann die Ärztin oder ein Arzt den Kreißsaal und übernimmt manchmal auch die Anleitung der Gebärenden oder wirft einen kritischen Blick auf das CTG.
Deshalb werden sich alle geburtshilflichen Teams weit vor der Eröffnung eines Hebammenkreißsaales darüber Gedanken machen, ob Hebammen die volle Verantwortung für eine Geburt übernehmen wollen und können. Außerdem werden Ärzt:innen sich mit der Frage auseinandersetzten müssen: Kann und will ich Verantwortung abgeben?
Je nach interdisziplinärer Ausrichtung und vorhandenen Hierarchien sind die Vorgaben für Hebammen im klassischen klinischen Setting sehr streng. Das heißt, dass Hebammen alle Entscheidungen rund um die Geburt mit Ärzt:innen absprechen müssen. Oder sie sind in ihrem Arbeitsfeld frei in der Gestaltung und Betreuung der Gebärenden im Rahmen des Berufsrechts, je nach Philosophie der geburtshilflichen Abteilung.
Autonomie und Arbeitszufriedenheit
Das Konzept Hebammenkreißsaal ist Ende der 1990er Jahre entstanden, weil damals Hebammen, die in der Klinik gearbeitet haben, sehr unzufrieden mit ihrer Arbeitssituation waren (siehe Seite 42ff.). Die zunehmende Medikalisierung und Pathologisierung der physiologischen Lebensphase von Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit hat dazu geführt (siehe »Handbuch Hebammenkreißsaal, S. 7). Der Deutsche Hebammenverband (DHV) schreibt:
» Das Konzept des Hebammenkreißsaals zielt unter anderem darauf ab, Hebammen eine erfüllende und zufriedenstellende Arbeitsumgebung zu bieten, in der sie ihre Erkenntnisse und Fähigkeiten optimal einsetzten können. Durch die wiedererlangte Autonomie steigt die Arbeitszufriedenheit, was sich wiederum positiv auf die Betreuung der Frauen im interprofessionellen Kreißsaal auswirkt.« (DHV, siehe Link)
Der Wunsch nach eigenverantwortlicher Arbeit ist unter Hebammen verbreitet. Viele sind aus diesem Grund auch in die Ausbildung zur Hebamme gegangen. Und trotzdem betreten die meisten bei der Implementierung des Hebammenkreißsaals Neuland, obwohl sie primär dafür ausgebildet wurden.
Deshalb muss allen, die in einem Hebammenkreißsaal arbeiten werden, die Gelegenheit für einen offenen und ehrlichen Austausch gegeben werden zum Thema »Verantwortung übernehmen«. Wahrscheinlich werden sich die Kolleginnen öfter absprechen und miteinander klären, ob der Geburtsverlauf weiterhin physiologisch ist.
Leitende Hebammen sollten in der Vorbereitungszeit zum Hebammenkreißsaal Vier-Augen-Gespräche führen. So können sich auch Kolleginnen frei äußern, die ihre Sorgen und Bedenken nicht in einer Gruppe besprechen mögen. Dann können Lösungen für diese Kolleginnen gefunden werden: Was kann unternommen werden, damit sich diese Kolleginnen eine Hebammenkreißsaal-Geburt zutrauen? Das wären zum Beispiel Geburten, bei denen sie zunächst nur als zweite Hebamme tätig werden. Eine weitere Möglichkeit ist, dass Hebammen, die sich mit der neuen Rolle nicht wohl fühlen, sich primär um die Frauen kümmern, die im interdisziplinären Kreißsaal gebären.
Grundsätzlich muss klar sein, dass Hebammen mit wenig oder auch viel Berufserfahrung immer in der Verantwortung sind. Hebammen sind in allen Settings verpflichtet zu remonstrieren, wenn sie einen Fehler wahrnehmen. Sie müssen also auf den Fehler hinweisen und gegebenenfalls weitere Fachpersonen hinzuziehen. Das gilt zum Beispiel, wenn die Indikation zu einem Kaiserschnitt nicht gestellt wird, obwohl Mutter oder Kind gerade akut gefährdet sind.
Die ersten Hebammenkreißsaal-Geburten werden sich anders anfühlen. Gedanken schießen durch den Kopf wie: Jetzt habe ich hier die alleinige Verantwortung. Vielleicht ist man anfangs in der Beurteilung des Geburtsverlaufes vorsichtiger und sichert sich häufiger ab. Bis sich dann auch fürs Verantwortung-Übernehmen eine gewisse Routine einstellt. Hebammenkreißsaal-Geburten sind dann sehr beglückende Momente.
Empfehlungen
Damit wir in einem Hebammenkreißsaal sicher und auf einem hohen Qualitätsniveau arbeiten können, gelten verschiedene Empfehlungen:
- Geregelter fachlicher Austausch unter den diensthabenden Hebammen. Beschrieben ist dies bisher nur für den Hebammenkreißsaal. Grundsätzlich ist dieser Austausch auch für die interdisziplinären Geburten wertvoll.
- Eine zweite Hebamme kommt zur Geburt dazu.
- Ein sinnvolles Qualitätskriterium im Hebammenkreißsaal ist es, dass während einer Hebammenkreißsaal-Geburt alle zwei Stunden ein fachlicher Austausch zwischen zwei Hebammen stattfindet (Köbke, 2024, S. 27).
Das heißt, die Hebamme, die die Gebärende im Hebammenkreißsaal betreut, berät sich entweder gemeinsam mit der Gebärenden und einer zweiten Kollegin oder außerhalb des Geburtsraumes mit einer Kollegin und gleicht die Einschätzung über den Geburtsverlauf mit ihr ab.
In der aktiven Austrittsphase kommt dann die zweite Hebamme zur Geburt dazu. Es ist immer ein gutes Gefühl, zwei helfende Hände zur Seite zu haben und eine Kollegin, die die Geburt und den Geburtsverlauf eher von außen betrachtet.
In vielerlei Hinsicht ist das Vier-Augen-Prinzip sehr wertvoll. Grundlage sind aktuelle klinische Leitlinien, Kriterien der außerklinischen Geburtshilfe sowie die Einhaltung sicherer Prozesse (DHV, 2024).
Man möchte damit vermeiden, dass die betreuende Hebamme eventuell ein Kriterium übersieht. Manchmal sieht man »den Wald vor lauter Bäumen nicht«: Das hat damit zu tun, dass sich unser Gehirn auf etwas fokussiert hat und daher andere Dinge nicht wahrgenommen werden.
Allerdings haben wir damit die Herausforderung, dass im Vorfeld ganz genau besprochen und schriftlich festgehalten werden muss, wer welche Rolle im Geburtsteam hat. Welche der beiden Hebammen kümmert sich zum Beispiel im Falle einer Atonie um die Mutter und um die Hinzuziehung der ärztlichen Kolleg:innen? Und wer kümmert ich dann um das Kind? Leicht neigt man dazu, die Kollegin zu unterstützen und das Befinden des Neugeborenen gerät aus dem Fokus.
In der Beurteilung des Geburtsverlaufes oder der fetalen Herzfrequenz können Hebammen aber auch unterschiedlicher Meinung sein. Hebammen im Hebammenkreißsaal brauchen auch für diesen Fall eine Regelung.
Als hilfreich hat sich erwiesen, immer dann, wenn eine Kollegin die Überleitung oder ein ärztliches Konsil für erforderlich hält, dies dann auch umzusetzen und in der Situation zunächst nicht weiter zu diskutieren. In Fallbesprechungen und Supervisionstreffen werden dann diese Situationen gemeinsam besprochen und geklärt.
Jede Hebamme ist in der Verantwortung und muss ihre Bedenken ohne Zurückhaltung äußern können. Die Plattform Patient:innensicherheit nennt dies »Speak up! Wenn schweigen gefährlich wird« und meint damit eine Form der Kommunikation unter Kolleg:innen – über Berufsgruppen und Hierarchiestufen hinweg:
»Es geht darum, zu reagieren und sich gegenseitig anzusprechen, wenn die Sicherheit von Patient:innen und/oder Mitarbeiter:innen gefährdet ist oder gefährdet scheint.« (siehe Link) Es ist unerlässlich, dass die Rollen der beiden Hebammen im Geburtsgeschehen vorab geklärt und definiert sind.
Wichtig ist anzuerkennen, dass auch die Kollegin mit viel Berufserfahrung nicht immer richtig liegt und die unerfahrene Hebamme eine kritische Situation eventuell schneller erkennt. In Standards oder Arbeitsanleitungen werden die Absprachen für das Hebammenkreißsaal-Team hinterlegt und natürlich auch allen Kolleginnen vermittelt.
Ärztliche Vorbehalte?
Hartnäckig hält sich die Meinung, dass Ärzt:innen immer in der Verantwortung für eine Geburt stehen würden. Auch diese Ängste und Sorgen müssen im Vorfeld besprochen und geklärt werden.
Vor über 20 Jahren ist der erste Hebammenkreißsaal in Deutschland gestartet. Seitdem kamen wenige Hebammenkreißsäle dazu. Dies hat sich zuletzt aufgrund der politischen Unterstützung nach hartnäckiger Arbeit des DHV geändert (siehe »Nationale Gesundheitsziele« 2018, Hrsg. Bundesministerium für Gesundheit).
Die Gründe für die langsame Entwicklung der Hebammenkreißsäle sind vielfältig. Zum Beispiel ist eine Sorge, dass sich das Arbeitsverhältnis zwischen Hebammen und Ärzt:innen verschlechtern würde. Oder dass Gebärende im interdisziplinären Kreißsaal schlechter betreut würden. All das hat sich nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil, die Situation verbessert sich.
» Hauptargumente für den Hebammenkreißsaal von dort arbeitenden Hebammen sehen in dem Konzept eine Chance zur Wiedererlangung ihrer originären Hebammentätigkeit. Dies meint insbesondere eine größere Autonomie bezüglich der Betreuung sowie eine engere Bindung zur Gebärenden. Die beteiligten Ärzte sehen eine Geburt im Hebammenkreißsaal dann nicht in Widerspruch zu ihrer professionellen Integrität, wenn die Anwendung des Kriterienkatalogs sowie die Weiterleitung in das ärztliche Betreuungsmodell bei Auftreten einer Besonderheit gesichert ist. Beide Berufsgruppen sehen das Modell als Möglichkeit, die Individualität der Entbindenden zu respektieren und eine physiologische Geburt zu unterstützen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit empfinden beide Berufsgruppen nicht nur als unproblematisch, sondern beide Seiten berichteten von einem Team-Effekt, der die interprofessionelle Zusammenarbeit stärkt. Der positive Effekt in der interdisziplinären Zusammenarbeit resultiert darüber hinaus in einem ›Spill-over‹ in das ärztlich geleitete Modell.« (GESscHIck-Studie, 2024)
Viele Ärzt:innen haben auch die Sorge, dass sie keine physiologische Geburt mehr zu sehen bekommen. Das ist nicht der Fall. Auch Gebärende mit einem geburtshilflichen Risiko werden im interdisziplinären Kreißsaal physiologische Geburten erleben.
Ein Hebammenkreißsaal gelingt nur, wenn alle Berufsgruppen auf Augenhöhe tätig sind und sich gegenseitig vertrauen. Die gemeinsame Arbeit am Kriterienkatalog, an den Überleitungsgründen, am Notfallmanagement wie auch die gemeinsamen Fortbildungen fördern die Zusammenarbeit von Hebammen und Ärzt:innen.
Fazit
Wenn im Vorfeld die Themen Verantwortung und Rollenübernahme gut geklärt sind, werden Hebammen sich in ihrer Rolle als eigenverantwortliche tätige Kreißsaalhebamme sehr wohl fühlen. Die Arbeitszufriedenheit wird sich verbessern.
Wir Hebammen klagen seit Jahrzehnten darüber, dass wir in der Klinik unserer originären Hebammenarbeit nicht nachgehen können. Im Hebammenkreißsaal können wir das. Wir sind in einer Eins-zu-eins-Betreuung, können dem physiologischen Verlauf Zeit lassen und den gebärenden Frauen ihren geschützten, wertschätzenden Raum geben.
Aus vielen Gesprächen mit Kolleginnen, die im Hebammenkreißsaal arbeiten, wird deutlich, wie wohltuend Hebammen-Kreißsaalgeburten sind. Die Mütter und Familien melden uns zurück, wie aufgehoben und sicher sie sich gefühlt haben, selbst wenn eine Überleitung in den interprofessionellen Kreißsaal erforderlich war.
Also: Verantwortung zu übernehmen, kann sehr erfüllend sein und die Hebammenarbeit bereichern.