Befragung der ExpertInnen
Anhand eines Leitfadeninterviews (Bortz & Döring 2008) befragten die Studentinnen verschiedene ExpertInnen aus unterschiedlichen Fachbereichen zu Ursachen, Auswirkungen, Handlungsspielräumen sowie Lösungsansätzen zur Haftpflichtproblematik. Eine Vertreterin des Deutschen Hebammenverbandes (DHV), eine Professorin der Hebammenwissenschaften, eine Hebamme des Hebammengremiums in Österreich und eine in den Niederlanden tätige Hebamme wurden interviewt. Zudem wurden ein Vertreter der Versicherungsbranche, eine Redakteurin einer Fachzeitschrift für Hebammenwesen sowie ein Redakteur der Mitgliederzeitschrift einer Krankenkasse befragt.
Die Ursachen
Die befragten ExpertInnen erklären unter anderem die Politik der letzten 20 bis 30 Jahre verantwortlich für die Situation der Hebammen. Sie betonen, die Situation hätte sich „nie so zugespitzt”, wenn die gesetzlichen Krankenversicherungen die Anpassung der Bezahlung der Hebammen nicht über Jahrzehnte vernachlässigt hätten. Ebenso nennen sie die kurze Amtszeit der PolitikerInnen als Problem. Die Entlassung der Hebammen in die Selbstverwaltung im Jahr 2007 sehen die ExpertInnen für die in Verhandlungen noch ungeübten Hebammenverbände als Grund für die momentane Vergütungssituation. Vermutlich lasse sich die Asymmetrie der Verhandlungsmacht auch auf die Situation zwischen den Hebammenverbänden und Versicherungskonzernen übertragen.
Für die hohen Haftpflichtsummen sei die Schadensinflation verantwortlich, die unter anderem aufgrund der hohen Regressforderungen der Sozialkassen entstehe. Die Tendenz, auf „Risikosuche” zu gehen, sowie die „Medikalisierung” der Geburtshilfe seien eng mit der Forensik und Rechtsprechung verknüpft. Ebenso beeinflussten die Interessen der Privatwirtschaft, wie beispielsweise Gewinninteressen Dritter in Aktiengesellschaften, den Anstieg der Versicherungssummen.
Die Auswirkungen
Zu den Folgen der Haftpflichtproblematik zählten die ExpertInnen, dass für Frauen und Familien niedrigschwellige Betreuungsangebote durch Hebammen mit einem präventiven und salutogenetischen Ansatz verloren gehen würden. Der Wegfall der Wahlmöglichkeit des Geburtsortes und weiterer Betreuungsangebote durch Hebammen hätten große Auswirkungen auf die Betreuungsintensität, das Wohlbefinden und das Selbstvertrauen der Frauen. Die Arbeit der Hebammen setze vor allem darauf, die geistigen und körperlichen Ressourcen der Frau zu stärken, was letztlich eine gesunderhaltende Funktion habe.
Handlungsspielräume
Die ExpertInnen führen verschiedene Lösungsansätze an: Positiv sehen sie, dass das Berufsbild der Hebamme, das Thema Geburtshilfe und die Versicherungsproblematik zum Gesprächsthema in der Öffentlichkeit geworden sind. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Problematik und die Aktualität des Themas als Chance genutzt werden sollten, um mit Hilfe der Öffentlichkeit den Druck auf die Politik zu erhöhen. Die Berufsgruppe der Hebammen müsste durch weitere Öffentlichkeitsarbeit – mit Hilfe von großen und langfristigen (Aufklärungs-)Kampagnen – die Bevölkerung über Bedeutung und Tätigkeitsbereiche von Hebammen sowie über den „normalen” Prozess des Elternwerdens aufklären.
Die Hebammenverbände sollten ihre Forderungen noch deutlicher in die Öffentlichkeit tragen und vor der Politik vertreten. Kennzeichnend für deren Unterlegenheit und mangelnde Durchsetzungskraft seien die bisher erzielten Vergütungsergebnisse. Diese Ergebnisse rührten aber auch daher, dass die Verhandlungsposition der Verbände dadurch geschwächt gewesen sei, dass meist keine Einigung der Parteien erreicht werden konnte und die fachfremde Schiedsstelle dann im Sinne der Krankenkassen entschied.
Auch die Möglichkeit der Regressminderung durch die Krankenkassen nennen die ExpertInnen als Lösung sowie die Regressverkürzung von 30 auf 10 Jahre. Sie sprechen auch den Regressverzicht der Sozialversicherungsträger an, da die steigende Schadenslast die hohen Prämien bedingt. Ein fester Regressbetrag bei der Sozialversicherung würde die Schadensbelastung der Haftpflichtversicherung stabilisieren. Auf der Angebotsseite der Versicherer würden im Umkehrschluss mehr Unternehmen zur Verfügung stehen, die das „Risiko” versichern würden. Auch sollte die berufliche Haftpflichtversicherung nach Meinung einer Expertin ein staatliches Angebot werden, so dass die Beitragshöhe nicht mehr von der Privatwirtschaft bestimmt würde.
Als langfristige und nachhaltige Lösung heben vor allem die beiden ausländischen Vertreterinnen sowie die Redakteurin einer Fachzeitschrift die Umstrukturierung des deutschen Gesundheitssystems hervor. Der Blick solle allgemein auf einen salutogenetischen Ansatz gerichtet werden. Die Professorin der Hebammenwissenschaft fordert als Voraussetzung für Veränderungen im System eine steuerfinanzierte Leitlinienerstellung mit evidenzbasierten Studien sowie nutzerinnenorientierten Analysen.
Auch der Wunsch nach mehr Struktur des Hebammenwesens wurde geäußert. Dies könne zum Beispiel in Form eines Hebammenregisters oder einer Kammer mit festen Verantwortlichkeiten geschehen. So entstehe eine einheitliche Vertretung nach außen, die eine bessere Lobbyarbeit und eine politische Ansprechbarkeit mit geklärten Zuständigkeiten ermögliche.
Konsens unter den ExpertInnen ist, dass die PolitikerInnen die Verantwortung für die Lösung der Haftpflichtversicherungssituation übernehmen sollten. Es sei ihre Pflicht, zügig Lösungsansätze umzusetzen.
Bei einer staatlichen Verantwortlichkeit in der Haftpflichtsituation wäre die Versorgung der Geschädigten gesichert, da der Staat im Gegensatz zu der einzelnen Hebamme über die finanziellen Mittel verfüge.
Diskussion der Ergebnisse
Von der Versicherungsproblematik fühlen sich rund drei Viertel der befragten Hebammen existenziell bedroht. Im Widerspruch dazu geben sie jedoch eine hohe Arbeitszufriedenheit an. Dieses Maß an Arbeitszufriedenheit wird ebenfalls für angestellte Hebammen beschrieben (Kabakis et al. 2012: 61). Die Ergebnisse der Hebammenbefragung sind mit Einschränkungen zu betrachten. Zum einen wurde nur eine geringe Rücklaufquote erzielt und zum anderen haben die Befragten die Möglichkeit der freien schriftlichen Begründung der subjektiven Empfindungen nicht wahrgenommen.
Die ExpertInnen werten die Aktualität der Problematik als Chance, die politischen Ziele zu erreichen. Die Stellungnahmen und Lösungsansätze sind in dem Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe beschrieben (BMG 2014). Diesen könnte die Politik als Grundlage für Lösungsstrategien nutzen.
Das breite Spektrum der Hebammentätigkeiten und die unterschiedlichen Betreuungsformen sind komplex und scheinen für Außenstehende schwer nachvollziehbar. Dies bestätigt die Befragung der Bevölkerung, die die Hebammenbetreuung als wichtig erachtet, jedoch nicht das umfassende Tätigkeitsfeld benennen kann. Auf dieser Grundlage fordern die ExpertInnen, durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärungskampagnen Hebammenleistungen klar zu deklarieren und deren Relevanz für die Nutzerinnen zu verdeutlichen. Dies könnte zum Beispiel durch Werbespots im Fernsehen oder Radiointerviews erreicht werden. Schließlich ergibt diese Situationsanalyse, dass der Fortbestand von Hebammenleistungen für die Nutzerinnen und auch von Seiten der Gesellschaft erwünscht ist und einen hohen Stellenwert hat.
Es sei jedoch notwendig, dass die Verbände gemeinsam einheitliche Zielsetzungen formulierten, die geschlossen vertreten werden. Um dies langfristig zu erreichen, sei eine Verkammerung zu erwägen. Ebenso forderten die ExpertInnen von den Hebammen, sich selbstbewusst und professionell der Öffentlichkeit zu präsentieren. So seien laut einer Expertin Demonstrationen in Storchenkostümen wenig geeignet, ein professionelles Selbstverständnis in der Öffentlichkeit zu vertreten.
Der Klapperstorch werde den Berufsstand der Hebammen nicht zu einer Lösung führen. Alternativen stellten Streiks oder Selbstanzeigen dar. Für einen Streik müsste die generelle Bereitschaft aller Hebammen bestehen. Nur so könne daraus ein politisches Signal erwachsen. Ziel einer Selbstanzeige wäre das Aufzeigen von Konsequenzen für Geburten, die ohne eine Haftpflichtversicherung durchgeführt werden. Ob eine Hebamme sich selbst anzeigt, sollte sie zuvor kritisch abwägen und diskutieren. Auf das Vorgehen bei einer solchen Selbstanzeige wurde nicht genauer eingegangen.
Die Ergebnisse der Forschungsübung sind eingeschränkt zu betrachten, da sie keine repräsentative Aussage zulassen und deswegen lediglich deskriptiv beschrieben sind. Die Ergebnisse können durch die Haltung der Forscherinnen, die ebenfalls Hebammen sind, beeinflusst sein.
Resümee
Die Komplexität des Themas Haftpflichtproblematik wird durch die Vielschichtigkeit der Ergebnisse deutlich. Auch zeigt sich die Notwendigkeit, auf kurz- und langfristiger Ebene Lösungen zu erzielen.
Kurzfristig könnten Streiks ein politisches Signal nach außen senden, wenn sich viele Hebammen beteiligen. Da die freiberuflichen Hebammen nicht gewerkschaftlich und somit nicht in einer Solidargemeinschaft organisiert sind, ist ein verbindlicher Streik nicht umsetzbar. Der zwischen Politik und den Hebammenverbänden ausgehandelte Sicherstellungszuschlag stellt eine weitere kurzfristige Entlastung für die Hebammen dar. Die genaue Umsetzung muss noch erarbeitet werden.
Eine Absicherung durch einen Fonds könnte die Versorgung mit Hebammenbetreuung mittelfristig sichern, indem sie die Haftung der einzelnen Hebamme begrenzt, aber auch eine angemessene medizinische und finanzielle Versorgung der Geschädigten sicherstellt.
Die ExpertInnen fordern einheitliche Ziele sowie ein gemeinschaftliches Auftreten der Hebammenverbände. Dies würde langfristig die Möglichkeit des Aufbaus einer eigenen Kammer für den Berufsstand bedeuten. Zudem sollte die Politik die Verantwortung für die Sicherstellung der Hebammenversorgung erkennen und eine baldige, nachhaltige Lösung erarbeiten, da dem Bundesministerium für Gesundheit die Macht obliegt, gesundheitspolitische Reformen zu beschließen (Käuper 2012: 26).
Die Ergebnisse der Hebammenbefragung zeigen, dass die Berufsgruppe an ihrem professionellen Auftreten arbeiten sollte, um politisch erfolgreich agieren zu können. Auch müssen die wissenschaftlichen Grundlagen und das Qualitätsmanagement weiter ausgebaut werden, um das professionelle Handeln zu optimieren. Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit der Verbände sind ebenso wichtig wie die Entwicklung von politischem Bewusstsein und politischer Verantwortung der einzelnen Hebamme.