Die angeklagte Ärztin und Hebamme beschreibt ihren beruflichen Weg. Zeichnung: © Nikolaus Baumgarten
Der 49. Verhandlungstag am Freitag, den 20. Juni, beginnt erst um 13 Uhr. Keiner der drei regulären Strafverteidiger konnte den Termin wahrnehmen, deshalb übernimmt Rechtsanwalt Tobias Reimann aus Dortmund die Verteidigung »in Untervollmacht«, wie der Vorsitzende Richter Wolfgang Meyer zu Protokoll gibt.
Reimann hatte bereits am vorherigen kurzen Verhandlungstermin Anfang Juni die Verteidiger vertreten und in ihrem Namen einen Befangenheitsantrag gegen den vom Gericht bestellten geburtshilflichen Gutachter Prof. Dr. Axel Feige verlesen: Es bestehe Anlass, an der Unvoreingenommenheit und Neutralität des Sachverständigen zu zweifeln. Auf dem 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin in Bonn habe am 15. Mai 2014 unter Vorsitz von Feige eine Podiumsdiskussion zum Thema »Außerklinische Geburtshilfe – eine Alternative zur Klinikgeburt?« stattgefunden. Feige habe sich dort eindeutig gegen jegliche Form der Hausgeburt ausgesprochen und auch den Dortmunder Prozess entsprechend kommentiert, was eine Teilnehmerin der Veranstaltung mit einer eidesstattlichen Erklärung bezeuge. Die Zeugin habe außerdem berichtet, dass Prof. Dr. Feige die Vertreterin des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes der Krankenkassen auf dem Podium gefragt habe, warum Hausgeburten überhaupt abgerechnet werden könnten, wenn sie doch bislang völlig unkontrolliert seien. Seiner Meinung nach müssten diese Geburten aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen werden und sollten nicht mehr mit den Kassen abgerechnet werden dürfen.
Diese ablehnende Einstellung gegenüber Hausgeburten liege auch dem Gutachten von Prof. Feige zugrunde und verletze besonders schwer das Prinzip gutachterlicher Neutralität. Eklatant sei dabei, dass der Sachverständige zu einer Folie »Beckenendlage – Zwillinge – Drillinge« kommentiert habe: »Tote Kinder, geschädigte Kinder«. Auch dies zeige, dass er sich im Hinblick auf außerklinische Beckenendlagengeburten eindeutig gegen die Art von Geburtshilfe positioniere, die die Angeklagte durchgeführt habe. Ohne den Ausgang des Verfahrens abzuwarten, habe er eine Kausalität zwischen Hausgeburt und Tod behauptet. Er sei also nicht neutral, wie es für die Beurteilung des konkreten Einzelfalles erforderlich wäre.
Am 20. Juni ist ein Zeuge geladen, dessen Frau, von der er inzwischen geschieden ist, 2001 von der angeklagten Geburtshelferin bei einer angestrebten Geburt in ihrer Praxis betreut und dann doch in eine Klink verlegt worden war. »Alles was man sagt, muss der eigenen Erinnerung entsprechen. Man muss auch sagen, was nicht gefragt worden ist«, beendet der Vorsitzende Richter die ausführliche Aufklärung des Zeugen. Der 46-jährige KFZ-Meister schildert nun die Geburt seines Sohnes vor 13 Jahren. Seine damalige Ehefrau sei bei dieser ersten Schwangerschaft zur Vorsorge beim Frauenarzt gewesen. Als die Diagnose Beckenendlage gestellt worden sei, habe der Chefarzt der örtlichen Klinik seiner Frau einen Kaiserschnitt nahegelegt, mit dem diese jedoch nicht einverstanden gewesen sei. Eine Hebamme im Krankenhaus habe sie deshalb auf die hier angeklagte Geburtshelferin aufmerksam gemacht. Darüber sei der Klinikchef erbost gewesen und habe verärgert geäußert: »Ich habe eine Private verloren!«
Das Paar habe dann die knapp 100 Kilometer entfernt wohnende Geburtshelferin aufgesucht. Er sei dabei gewesen, als seine Frau sich ausführlich mit der Ärztin und Hebamme unterhalten habe und habe dabei nur eine Frage gestellt: Warum sie ein Risiko eingehen wolle, wenn der Arzt im Krankenhaus einen Kaiserschnitt durch führen wolle. »Ich gehe kein Risiko ein«, habe sie geantwortet. Nach diesem Besuch habe sich das Ehepaar für die Geburt in ihrer Praxis entschieden.
Zehn Tage nach dem voraussichtlichen Geburtstermin sei die Geburt dann losgegangen und sie hätten einen halben Tag in der Praxis der Geburtshelferin verbracht. »Irgendwann, zu einem Zeitpunkt, wo ich nicht damit gerechnet hatte, hat sie gesagt: ›Wir gehen ins Krankenhaus.‹« »So haben Sie die Geburt in Erinnerung. Sie haben eine ganz normale frauenärztliche Betreuung gehabt, Sie wollten das schon richtig machen und dazu gehört das Aufsuchen des Gynäkologen«, kommentiert der Vorsitzende die Schilderungen des Vaters. Ob irgendetwas riskant erschienen sei, möchte er weiter wissen. »Alles war in Ordnung«, antwortet der Zeuge. »Wir haben das Krankenhaus angeguckt und Schwangerschaftsgymnastik gemacht – wie man das macht beim ersten Kind.« Sie hätten zu Hause vorab auch Kontakt zu einer Hebamme für die Wochenbettbetreuung aufgenommen.
Der Vorsitzende erkundigt sich, warum ein Kaiserschnitt vorgeschlagen worden sei. »Die Begründung war: Beim ersten Kind macht man das niemals auf natürli chem Wege«, erklärt der Vater. »Warum?«, fragt Meyer. »Weil es offensichtlich zu schwierig ist«, erwidert der Zeuge. Seine Frau habe sich bei der Geburtshelferin gut aufgehoben gefühlt und er auch. Was sich ihm eingeprägt habe zum Thema Risiko, möchte der Vorsitzende wissen. »Was sie dazu sagte – sie wäre in der Lage, die richtigen Handgriffe anzuwenden, beispielsweise bei der Gefahr, wenn sich die Ärmchen neben dem Kopfbefinden. Es ist ja eigentlich viel leichter, wenn der Körper wie ein Keil geboren wird, statt zuerst ein großer Kopf«, merkt der KFZ-Meister zur Geburtsmechanik an. »Hat sie gesagt, ob das zu lässig ist, die Betreuung einer Beckenend lage? Nach der Hebammendienstordnung nicht – außer in Notfällen, ab 2003 nur in Dringlichkeitsfällen«, fragt Meyer. Daran hat der Vater keine Erinnerung. Die Vernehmung geht weiter zu vielen Details im Vorfeld der Geburt.
Zur Verlegung während der Wehen sagt der Zeuge: »Ich war überrascht, es war alles noch im Normalbereich, meine Frau konnte noch laufen.« »Ihre Frau ist auf eigenen Füßen ins Auto gegangen?«, fragt der Richter erstaunt, und dann: »Ist über Herztöne gesprochen worden?« »Ich weiß, dass sie die immer überprüft hat, aber wie sie waren, weiß ich nicht mehr«, berichtet der Zeuge. »Am Ende waren alle stolz«, schildert er die glückliche Geburt in der Klinik. »Auf natürlichem Wege?«, fragt Meyer nach. »Auf natürlichem Wege«, bestätigt der Vater.
Was der Grund für die Verlegung gewesen sei, möchte der Vorsitzende wissen. »Weil die Geburtshelferin gesagt hatte, ›Ich gehe kein Risiko ein.‹« Sie sei die drei Stunden bis zur Geburt mit in der Klinik geblieben. Oberstaatsanwältin Susanne Ruland möchte wissen, ob er der Geburtshelferin keine Fragen gestellt habe, warum die Verlegung nötig sei. »Ich weiß nicht. Ich habe jetzt in Erinnerung, dass ich ihr vertraut habe«, bekennt der Vater, der mit seinen ruhigen, klaren Aussagen sehr präsent wirkt. »Da haben Sie keine Fragen gestellt?«, insistiert Ruland. »Die ganze Zeit, als das Kind geboren wurde, hatte ich nie Angst«, antwortet er.
»Wann war der letzte Kontakt mit der Angeklagten?«, erkundigt sich Ruland. »Ein halbes Jahr später. Der Duktus unseres Sohnes hatte sich nicht geschlossen – ich weiß nicht, ob Sie wissen was der Duktus ist«, schaut er fragend zum Richtertisch. Der Vorsitzende gibt zu erkennen, dass die Kammer im Bilde ist, dass dies ein Gefäß ist, das als Kurzschluss den Lungenkreislauf beim Ungeborenen umgeht, und fragt verbindlich zurück: »Sie kennen den Duktus arteriosus Botalli?« »Nein, ich kenne nur: ›Der Duktus hat sich nicht geschlossen.‹«, entgegnet der Zeuge. Die Geburtshelferin sei damals mit der Familie ins Krankenhaus gefahren und habe den Eltern zur Seite gestanden, während ihr Kind operiert worden sei. Ob er von diesem Gerichtsverfahren gewusst habe, fragt die Oberstaatsanwältin. Ja, seine geschiedene Frau habe ihm davon berichtet. In letzter Zeit habe er keinen Kontakt zu der Ärztin und Hebamme gehabt. Nach etwa einer Stunde der Befragung wird der Zeuge entlassen. An der Tür des Gerichtssaals wendet er sich wieder um, geht zu der Angeklagten und schüttelt ihr zum Abschied die Hand.
Es geht anschließend um den Befangenheitsantrag, die Stellungnahme dazu von Prof. Dr. Feige wird verlesen: Seine Äußerung, die Solidargemeinschaft solle nicht mit den Kosten für Hausgeburten belastet werden, beziehe sich auf Risikogeburten, stellt er darin klar. Oberstaatsanwältin Ruland ist der Auffassung: »Der Antrag ist zurückzuweisen.« Nebenklagevertreter Alexander Kurz schließt sich ihr an. Der Vorsitzende erwähnt noch, dass er im Internet recherchiert habe und es sich bei der Zeugin um eine Dr. phil., nicht um eine Ärztin handele. Zur weiteren Planung fragt er die Angeklagte, wie es mit ihrer »Einlassung« stehe, ihrer Aussage zu ihrer Sicht der Dinge, die ihre Anwälte neuerlich in Aussicht gestellt hätten – »im Anbetracht dass im Juni 2013 eine Einlassung angekündigt war« »Heute nicht«, antwortet die Geburtshelferin. »Es ist Ihre Entscheidung, Sie sind frei darin«, bemerkt der Richter: »Ich war sogar überrascht, weil ich nicht mehr damit gerechnet hatte.«
Der Verteidiger verteilt Kopien zweier Anträge, die er anschließend verliest. Die Ultraschallbilder, die bei der Schwangerenvorsorge der Mutter des verstorbenen Mädchens angefertigt worden waren, sollen im Original von der Gynäkologin aus Riga angefordert werden – darin würden die diskreten Veränderungen von Herz und Leber zu erkennen sein und ein pathologischer Thoraxumfang, der auf die intrauterine Lungenhypoplasie hinweise. Außerdem solle ein weiterer gynäkologischer Sachverständiger gehört werden: Der Neuropathologe Prof. Dr. Michael Mittelbronn habe den Zeitpunkt einer möglichen Schädigung auf sechs bis acht Stunden vor der Geburt angenommen, also zwischen 14.14 und 16.14 Uhr. Die Geburtshelferin sei um 16.08 Uhr im Hotel angekommen. Es sei nicht klar, wann sich der Zeitpunkt der Schädigung realisiert habe. Die Einschätzungen von Prof. Mittelbronn und Prof. Feige seien nicht zur Deckung zu bringen. Man könne nicht davon ausgehen, dass ein anderer Ausgang bei Einweisung in die Klinik sicher gewesen wäre. Nebenklagevertreter Kurz widerspricht: Insbesondere zum zweiten Antrag gibt er zu bedenken, dass es darum gehe, wann das Geschehen unumkehrbar geworden sei, nicht wann es eingetreten sei. Bis 20 Uhr habe es nicht nur einen Herzschlag, sondern auch Kindsbewegungen gegeben. Er halte den Antrag für abwegig. »Wir werden nicht auf der Stelle entscheiden«, kündigt der Vorsitzende an. Die Kammer zieht sich zu einer zehnminütigen Pause zurück. Danach wird der Antrag gegen den Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit als unbegründet zurückgewiesen. Um 15 Uhr ist die Verhandlung beendet. Der Vorsitzende bittet, sich für die nächsten beiden Tage am 26. und 27. Juni für die Plädoyers bereitzuhalten. Terminprobleme der Anwälte klingen an. »Die Kammer will das ihrige tun, das Verfahren abzuschließen«, endet der Vorsitzende.
»Es hat also geklappt mit dem Termin«, kommentiert der Vorsitzende das Erscheinen von Pflichtverteidiger Hans Böhme zur Begrüßung am 26. Juni, der mit seinem Kollegen Mark Sendowski rechts und links neben der Angeklagten sitzt. Auf der Bank der Ankläger sitzt heute außer Oberstaatsanwältin Ruland und Nebenklagevertreter Alexander Kurz auch der Vater des verstorbenen Mädchens, der kurzfristig aus Lettland gekommen ist. »Es ist in den Raum gestellt worden, dass Sie sich äußern wollen«, wendet sich der Vorsitzende Richter Meyer an die angeklagte Geburtshelferin. »Ich würde gerne anfangen mit meinem Werdegang«, beginnt sie und verliest mit klarer ruhiger Stimme einen längeren Text zu Details aus ihrem persönlichen Leben, wie es dazu kam, dass sie Hebamme und praktische Ärztin wurde und mit welcher Einstellung sie Geburtshilfe betrieben habe. Manche Erläuterungen ergänzt sie frei sprechend. Alle im Saal hören konzentriert zu . Ihre ostpreußischen Eltern hätten sich nach dem Krieg im Ruhrgebiet kennengelernt, der Vater sei Gießer in einer Hütte und später bei der Polizei gewesen. Die Mutter habe nie die Wahl gehabt, einen anderen Beruf als den der Hausfrau zu ergreifen. Vier Jahre nach ihrer Geburt im Jahr 1953 sei ihr Bruder geboren worden. Durch eine Hirnhautentzündung mit einem halben Jahr erlitt er bleibende Schäden: schwerste Krampfanfälle, geistige und körperliche Entwicklungsverzögerungen. Weil er sich nicht mit Worten habe verständigen können, habe sie früh gelernt, sich in andere einzufühlen. Die Belastung der Mutter durch seine Pflege sei für sie prägend gewesen. Heute lebe er in einem Heim und sie betreue ihn.
Schon als achtjähriges Mädchen habe sie Ärztin werden wollen – der Hausarzt der Familie, ein praktischer Arzt und Geburtshelfer, sei ihr Vorbild gewesen. Es habe sie belastet, dass sie ihrem Bruder so wenig habe helfen können. Zur Überbrückung der Wartezeit bis zum Medizinstudium habe sie ein Pädagogik- und Psychologiestudium begonnen, wovon sie für ihren professionellen beziehungsorientierten Umgang mit Menschen profitiert habe. »Von Zuhause eher die Kommunikation ›von oben nach unten‹ gewohnt, hat mich die Möglichkeit überzeugt, mit anderen auf gleicher Ebene zu kommunizieren, aktiv zuzuhören und nondirektiv zu beraten«, schildert sie.
Sie habe dann als Vorbereitung für das Fernziel »Hausärztin und Geburtshelferin« von 1976 bis 1978 eine Ausbildung an der Hebammenschule Bochum absolviert: »Dort lernte ich einen kasernenmäßigen Ton und eine streng geregelte Hierarchie kennen, in der die Hebammenschülerinnen ganz am Ende eingeordnet waren«, erinnert sie sich. Auch die Frauen seien manchmal vom Personal angeschrien, bedroht und grob angefasst worden. Einerseits sei es die Ära der Frauenemanzipation, andererseits die Zeit der »programmierten Geburt« gewesen. Sie habe dennoch eine handwerklich fundierte Ausbildung erhalten und »optische Einschätzung erlernt, Ertasten, Erkennen von Gefährdungen, Einfühlen in die gebärende Frau, Helfen mit unschädlichen Mitteln, rigoroses Abwarten in Grenzsituationen, aber auch beherztes Eingreifen bei tatsächlicher Gefahr«. »Uns wurde von vornherein beigebracht, geistig und handwerklich flexibel zu reagieren und vorausschauend zu agieren.«
Von den Anfängen des Ultraschalls sei sie beeindruckt gewesen, habe auch die moderne kritische Wissenschaft geschätzt. Gleichzeitig habe sie ihr Wissen über die »manuelle Geburtshilfe« mit Lehrbüchern aus einer Zeit erweitert, in der Hebammen noch für die Hausgeburtshilfe ausgebildet worden seien, obwohl sie von der weiterhin bestehenden Möglichkeit einer Hausgeburt noch nichts gewusst habe. Erst nach ihrem Examen habe sie Kontakt zu drei alteingesessenen Kolleginnen und einem praktischen Arzt und Geburtshelfer gefunden, die sich auf Geburtshilfe im häuslichen Umfeld spezialisiert und sie unter ihre Fittiche genommen hätten. Sie habe viel von ihnen gelernt, indem sie zahllose Geburtssituationen mit ihnen reflektiert hätte. Der ärztliche Geburtshelfer habe auch Steißlagengeburten betreut. Alle vier hätten ihr nahe gelegt, zunächst Erfahrungen in der Klinik zu sammeln. Sie übernahm deshalb Urlaubsvertretungen, um möglichst viele verschiedene Formen der Geburtshilfe kennenzulernen. Auch ihr Medizinstudium, das sie von 1978 bis 1985 absolvierte, habe sie mit Hebammenarbeit im Kreißsaal in Form von 12-Stunden-Diensten an Wochenenden selbst finanziert .
Schwierige Erlebnisse aus dem Kreißsaal hätte sie mit ihren außerklinischen Mentorinnen durchgesprochen. »Das wäre zu Hause nicht passiert«, habe sie dabei oft gehört. Denn den gefährlichen Situationen seien meist Eingriffe vorausgegangen, wie das Eröffnen der Fruchtblase, Medikamentengaben, Wehen unterstützende Infusionen oder manuelle Dehnungen des Muttermundes. Auch die Haltung der Geburtshelferinnen den Frauen gegenüber und wie sie diese behandelten, habe offenbar eine Rolle gespielt. Beispielsweise sei sie davon beeindruckt gewesen, wie ein erfahrener Chefarzt eine dramatische Situation durch seine Gelassenheit sofort habe beruhigen und durch seine Zuwendung und seine Worte die Geburt wieder in normale Bahnen habe lenken können.
»Man muss viel wissen, um wenig zu tun«, habe sie damals gelernt.
Sie habe damals schon einen offenen Hebammenzirkel gegründet, um einmal im Monat mit Kolleginnen problemati sche Geburten aufzuarbeiten und daraus zu lernen. 1984 habe sie das »Zentrum für Geburtsvorbereitung und Elternschaft« in Unna mitgegründet, dessen Konzept war, vorrangig präventiv tätig zu sein. Die Institution habe später den renommierten Kübelpreis erhalten.
Nachdem ihr erster Sohn 1981 geboren sei, habe sie neben dem Studium mit Hausgeburtshilfe begonnen. Sie habe erlebt, dass Frauen – auch mit Risikofaktoren – in ihrem privaten Umfeld selbstsicherer gewesen seien und dass sie sich voll auf eine Gebärende habe einstellen können. Die Geburten seien problemloser verlaufen als in der Klinik. »Ich leitete nicht die Geburt, sondern ich durfte daran teilnehmen. Es war mir immer eine Ehre, wenn mich Frauen als ihre Begleitung bei diesem intimen Ereignis wählten.« Bei diesen Worten zeigt ihre Stimme eine innere Erschütterung. »Wenn wir eine kurze Pause machen sollen?«, reagiert der Vorsitzende sofort. »Es geht schon«, setzt die Geburtshelferin ihre Schilderungen fort.
Während ihrer Zeit als Lehrhebamme in Duisburg von 1992 bis 2012 habe sie die WHO-Empfehlungen mit einer Kollegin in deutscher Übersetzung herausgebracht. Sie habe sich auch der zeitintensiven Forschung anhand von Einzelfallstudien gewidmet, wie es für autonom arbeitende Hebammen nicht anders möglich sei. Daraus habe sie Schlüsse abgeleitet »über das individuelle physiologische Geburtsgeschehen und die Berechtigung der Geburtshelferin, nicht einzugreifen.« Nach der Frühgeburt ihres zweiten Sohnes, der 1985 mit 700 Gramm zur Welt gekommen sei und am sechsten Lebenstag eine Hirnblutung erlitten habe, habe sie sich aufgrund ihrer eigenen leidvollen Erfahrungen über Jahre intensiv im Bereich Perinatologie fortgebildet. Sie habe dadurch in ihrer ärztlichen Privatpraxis eine Vielzahl auffälliger Kinder frühzeitig an geeignete Förderstellen und Expertinnen überwiesen.
Aufgrund des laufenden Prozesses sei ihre Praxis im März 2012 von der Bezirksregierung geschlossen worden und habe seitdem fast keine Einkünfte mehr. »Bis 2008 – 30 Jahre lang – hatte ich keinen Todesfall bei einer selbstbetreuten Geburt zu beklagen«, schließt sie. Sie sei es dennoch gewohnt gewesen, von Kontrahentinnen, die nur den klinischen Standard gekannt hätten, als »potenzielle Kindsmörderin« bezeichnet zu werden. Über ihre Art der Geburtshilfe, der vorsichtigsten, die ihr möglich erscheine, bestünden unklare Vorstellungen. Das sechs Jahre lange Ermittlungs- und Strafverfahren wegen bedingtem Totschlag »bringt mich psychisch, physisch und finanziell an meine Grenzen«, schildert die angeklagte Geburtshelferin. Nie habe sie in einer wahrnehmbaren Gefahrensituation Hilfe für Mutter oder Kind verweigert.
Nach einer halben Stunde Pause geht es weiter. Sie sei froh, dass der Vater des kleinen Mädchens da sei, beginnt sie direkt an den gegenüber sitzenden Nebenkläger gerichtet: »Nach dem Beziehungsabbruch war keine Gelegenheit mehr, miteinander zu sprechen. Es tut mir leid – es gibt nichts Schlimmeres als sein erstes Kind zu verlieren. Ich kann mir das sehr gut vorstellen.« Der Angesprochene schaut sie bei ihren Worten mit offenem Blick an.
Die Geburtshelferin schildert nun, wie sie die Eltern am 29. Mai 2008 nach deren ersten Anruf von der Uniklinik Frankfurt aus in ihrer Praxis kennengelernt habe. Noch am selben Tag habe sie einen ausführlichen Gesprächstermin für sie eingeschoben. Die Eltern hätten in Riga eine Hausgeburt geplant. Als das Ungeborene sich in Beckenendlage befunden habe, womit ihre Hebamme nicht versiert gewesen sei, habe sie den Eltern den Namen einer Hebamme in Deutschland genannt, die damit erfahren sei. Diese habe die Eltern dann an sie verwiesen.
Die Angeklagte fährt fort, ausführlich über ihre Schwangerenbetreuung in den letzten Wochen vor der Geburt zu berichten. Nach einer weiteren Pause schildert sie sehr ausführlich die Geburt und den tragischen Verlauf, als das Kind leblos geboren wird. Der Vater des kleinen Mädchens macht sich fortwährend Notizen. Wenn er mit dem Kopf schüttelt oder missbilligend schaut, wendet sich die Aufmerksamkeit der Staatsanwältin und der Richter ihm zu, insbesondere der Nebenrichterin Martina Hülsebusch zur Rechten des Vorsitzenden. Nur der junge Nebenrichter Dr. Antonius Hüntemann, der links von Meyer sitzt, hört hochkonzentriert den Ausführungen der Ärztin und Hebamme zu. Anschließend wird der Vater zu den Aussagen der Geburtshelferin vernommen, der seine Erinnerung damit abgleicht. In einer weiteren Fortsetzung des Prozessberichts wird von den Schilderungen im Zusammenhang mit der Geburt und dem Tod des neugeborenen Mädchens noch ausführlicher die Rede sein.
Die Staatsanwältin fordert in ihrem Plädoyer am 3. Juli acht Jahre und drei Monate Haftstrafe sowie lebenslanges Berufsverbot wegen bedingten Totschlags. Am Tag darauf plädieren die drei Strafverteidiger der Geburtshelferin dagegen auf Freispruch. Danach war eigentlich für den 28. Juli das »letzte Wort« der Angeklagten und für den 11. August die Verkündung des Urteils geplant. Doch die Kammer hat überraschend am 28. Juli die Beweisaufnahme wieder eröffnet und einen neuen Zeugen vernommen. Weitere Untersuchungen zum Fall sind geplant. Wenn alles planmäßig verläuft soll das Urteil nun am 1. September verkündet werden. Fortsetzung folgt.