Die angeklagte Ärztin und Hebamme be­schreibt ihren beruflichen Weg. Zeichnung: © Nikolaus Baumgarten

Am 50. Verhandlungstag Ende Juni äußert sich die wegen Totschlags angeklagte praktische Ärztin und Hebamme zum ersten Mal zu den Vorwürfen im Schwurgerichtsprozess am Landgericht Dortmund: Sie schildert ihren Werdegang, ihre Arbeitsweise und Haltung als Geburtshelferin und auch ihre Erinnerungen an die Betreuung des Elternpaars in der Schwangerschaft und bei der außerklinischen Geburt am 30. Juni 2008. Dabei war das Kind aus Beckenendlage leblos zur Welt gekommen und hatte nicht reanimiert werden können. Das Urteil wurde erneut verschoben. 

Der 49. Verhandlungstag am Freitag, den 20. Juni, beginnt erst um 13 Uhr. Keiner der drei regulären Strafverteidiger konnte den Termin wahrnehmen, deshalb übernimmt Rechtsanwalt Tobias Reimann aus Dortmund die Verteidigung »in Untervollmacht«, wie der Vorsitzende Richter Wolfgang Meyer zu Protokoll gibt.

Reimann hatte bereits am vorherigen kurzen Verhandlungs­termin Anfang Juni die Verteidiger vertreten und in ihrem Na­men einen Befangenheitsantrag gegen den vom Gericht bestellten geburtshilflichen Gutachter Prof. Dr. Axel Feige verlesen: Es bestehe Anlass, an der Unvoreingenommenheit und Neutralität des Sachverständigen zu zweifeln. Auf dem 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin in Bonn habe am 15. Mai 2014 unter Vorsitz von Feige eine Podiumsdis­kussion zum Thema »Außerklinische Geburtshilfe – eine Alter­native zur Klinikgeburt?« stattgefunden. Feige habe sich dort eindeutig gegen jegliche Form der Hausgeburt ausgesprochen und auch den Dortmunder Prozess entsprechend kommentiert, was eine Teilnehmerin der Veranstaltung mit einer eidesstattlichen Erklärung bezeuge. Die Zeugin habe außerdem berichtet, dass Prof. Dr. Feige die Vertreterin des Medizinischen Dienstes des Spit­zenverbandes der Krankenkassen auf dem Podium gefragt habe, warum Hausgeburten überhaupt abgerechnet werden könnten, wenn sie doch bislang völlig unkontrolliert seien. Seiner Mei­nung nach müssten diese Geburten aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen werden und sollten nicht mehr mit den Kassen abgerechnet werden dürfen.

Diese ablehnende Einstellung gegenüber Hausgeburten liege auch dem Gutachten von Prof. Feige zugrunde und verletze be­sonders schwer das Prinzip gutachterlicher Neutralität. Eklatant sei dabei, dass der Sachverständige zu einer Folie »Beckenendla­ge – Zwillinge – Drillinge« kommentiert habe: »Tote Kinder, ge­schädigte Kinder«. Auch dies zeige, dass er sich im Hinblick auf außerklinische Beckenendlagengeburten eindeutig gegen die Art von Geburtshilfe positioniere, die die Angeklagte durchge­führt habe. Ohne den Ausgang des Verfah­rens abzuwarten, habe er eine Kausalität zwischen Hausgeburt und Tod behauptet. Er sei also nicht neutral, wie es für die Be­urteilung des konkreten Einzelfalles er­forderlich wäre.

Beckenendlagengeburt vor 13 Jahren

Am 20. Juni ist ein Zeuge geladen, des­sen Frau, von der er inzwischen geschie­den ist, 2001 von der angeklagten Geburts­helferin bei einer angestrebten Geburt in ihrer Praxis betreut und dann doch in eine Klink verlegt worden war. »Alles was man sagt, muss der eigenen Erinnerung entsprechen. Man muss auch sagen, was nicht gefragt worden ist«, beendet der Vor­sitzende Richter die ausführliche Aufklä­rung des Zeugen. Der 46-jährige KFZ-Meis­ter schildert nun die Geburt seines Sohnes vor 13 Jahren. Seine damalige Ehefrau sei bei dieser ersten Schwangerschaft zur Vorsorge beim Frauenarzt gewesen. Als die Diagnose Beckenendlage gestellt wor­den sei, habe der Chefarzt der örtlichen Klinik seiner Frau einen Kaiserschnitt na­hegelegt, mit dem diese jedoch nicht ein­verstanden gewesen sei. Eine Hebamme im Krankenhaus habe sie deshalb auf die hier angeklagte Geburtshelferin aufmerk­sam gemacht. Darüber sei der Klinikchef erbost gewesen und habe verärgert geäu­ßert: »Ich habe eine Private verloren!«

Das Paar habe dann die knapp 100 Kilo­meter entfernt wohnende Geburtshelferin aufgesucht. Er sei dabei gewesen, als seine Frau sich ausführlich mit der Ärztin und Hebamme unterhalten habe und habe da­bei nur eine Frage gestellt: Warum sie ein Risiko eingehen wolle, wenn der Arzt im Krankenhaus einen Kaiserschnitt durch­ führen wolle. »Ich gehe kein Risiko ein«, habe sie geantwortet. Nach diesem Besuch habe sich das Ehepaar für die Geburt in ihrer Praxis entschieden.

Zehn Tage nach dem voraussichtlichen Geburtstermin sei die Geburt dann losge­gangen und sie hätten einen halben Tag in der Praxis der Geburtshelferin verbracht. »Irgendwann, zu einem Zeitpunkt, wo ich nicht damit gerechnet hatte, hat sie ge­sagt: ›Wir gehen ins Krankenhaus.‹« »So haben Sie die Geburt in Erinnerung. Sie haben eine ganz normale frauenärztliche Betreuung gehabt, Sie wollten das schon richtig machen und dazu gehört das Auf­suchen des Gynäkologen«, kommentiert der Vorsitzende die Schilderungen des Va­ters. Ob irgendetwas riskant erschienen sei, möchte er weiter wissen. »Alles war in Ordnung«, antwortet der Zeuge. »Wir haben das Krankenhaus angeguckt und Schwangerschaftsgymnastik gemacht – wie man das macht beim ersten Kind.« Sie hätten zu Hause vorab auch Kontakt zu einer Hebamme für die Wochenbett­betreuung aufgenommen.

Der Vorsitzende erkundigt sich, warum ein Kaiserschnitt vorgeschlagen worden sei. »Die Begründung war: Beim ersten Kind macht man das niemals auf natürli­ chem Wege«, erklärt der Vater. »Warum?«, fragt Meyer. »Weil es offensichtlich zu schwierig ist«, erwidert der Zeuge. Seine Frau habe sich bei der Geburtshelferin gut aufgehoben gefühlt und er auch. Was sich ihm eingeprägt habe zum Thema Risiko, möchte der Vorsitzende wissen. »Was sie dazu sagte – sie wäre in der Lage, die richti­gen Handgriffe anzuwenden, beispielswei­se bei der Gefahr, wenn sich die Ärmchen neben dem Kopfbefinden. Es ist ja eigent­lich viel leichter, wenn der Körper wie ein Keil geboren wird, statt zuerst ein großer Kopf«, merkt der KFZ-Meister zur Geburts­mechanik an. »Hat sie gesagt, ob das zu­ lässig ist, die Betreuung einer Beckenend­ lage? Nach der Hebammendienstordnung nicht – außer in Notfällen, ab 2003 nur in Dringlichkeitsfällen«, fragt Meyer. Daran hat der Vater keine Erinnerung. Die Ver­nehmung geht weiter zu vielen Details im Vorfeld der Geburt.

»Am Ende waren alle stolz«

Zur Verlegung während der Wehen sagt der Zeuge: »Ich war überrascht, es war alles noch im Normalbereich, meine Frau konnte noch laufen.« »Ihre Frau ist auf eigenen Füßen ins Auto gegangen?«, fragt der Richter erstaunt, und dann: »Ist über Herztöne gesprochen worden?« »Ich weiß, dass sie die immer überprüft hat, aber wie sie waren, weiß ich nicht mehr«, berichtet der Zeuge. »Am Ende waren alle stolz«, schildert er die glückliche Geburt in der Klinik. »Auf natürlichem Wege?«, fragt Meyer nach. »Auf natürlichem Wege«, bestätigt der Vater.

Was der Grund für die Verlegung ge­wesen sei, möchte der Vorsitzende wissen. »Weil die Geburtshelferin gesagt hatte, ›Ich gehe kein Risiko ein.‹« Sie sei die drei Stun­den bis zur Geburt mit in der Klinik geblie­ben. Oberstaatsanwältin Susanne Ruland möchte wissen, ob er der Geburtshelferin keine Fragen gestellt habe, warum die Ver­legung nötig sei. »Ich weiß nicht. Ich habe jetzt in Erinnerung, dass ich ihr vertraut habe«, bekennt der Vater, der mit seinen ruhigen, klaren Aussagen sehr präsent wirkt. »Da haben Sie keine Fragen ge­stellt?«, insistiert Ruland. »Die ganze Zeit, als das Kind geboren wurde, hatte ich nie Angst«, antwortet er.

»Wann war der letzte Kontakt mit der Angeklagten?«,  erkundigt sich Ruland. »Ein halbes Jahr später. Der Duktus unseres Sohnes hatte sich nicht geschlossen – ich weiß nicht, ob Sie wissen was der Duktus ist«, schaut er fragend zum Richtertisch. Der Vorsitzende gibt zu erkennen, dass die Kammer im Bilde ist, dass dies ein Gefäß ist, das als Kurzschluss den Lungenkreis­lauf beim Ungeborenen umgeht, und fragt verbindlich zurück: »Sie kennen den Duk­tus arteriosus Botalli?« »Nein, ich kenne nur: ›Der Duktus hat sich nicht geschlos­sen.‹«, entgegnet der Zeuge. Die Geburtshel­ferin sei damals mit der Familie ins Kran­kenhaus gefahren und habe den Eltern zur Seite gestanden, während ihr Kind operiert worden sei. Ob er von diesem Gerichtsver­fahren gewusst habe, fragt die Oberstaatsanwältin. Ja, seine geschiedene Frau habe ihm davon berichtet. In letzter Zeit habe er keinen Kontakt zu der Ärztin und Heb­amme gehabt. Nach etwa einer Stunde der Befragung wird der Zeuge entlassen. An der Tür des Gerichtssaals wendet er sich wieder um, geht zu der Angeklagten und schüttelt ihr zum Abschied die Hand.

Befangenheitsantrag abgelehnt

Es geht anschließend um den Befangen­heitsantrag, die Stellungnahme dazu von Prof. Dr. Feige wird verlesen: Seine Äuße­rung, die Solidargemeinschaft solle nicht mit den Kosten für Hausgeburten belastet werden, beziehe sich auf Risikogeburten, stellt er darin klar. Oberstaatsanwältin Ruland ist der Auffassung: »Der Antrag ist zurückzuweisen.« Nebenklagevertreter Alexander Kurz schließt sich ihr an. Der Vorsitzende erwähnt noch, dass er im In­ternet recherchiert habe und es sich bei der Zeugin um eine Dr. phil., nicht um eine Ärztin handele. Zur weiteren Planung fragt er die Angeklagte, wie es mit ihrer »Einlas­sung« stehe, ihrer Aussage zu ihrer Sicht der Dinge, die ihre Anwälte neuerlich in Aussicht gestellt hätten – »im Anbetracht dass im Juni 2013 eine Einlassung ange­kündigt war« »Heute nicht«, antwortet die Geburtshelferin. »Es ist Ihre Entscheidung, Sie sind frei darin«, bemerkt der Richter: »Ich war sogar überrascht, weil ich nicht mehr damit gerechnet hatte.«

Der Verteidiger verteilt Kopien zweier Anträge, die er anschließend verliest. Die Ultraschallbilder, die bei der Schwange­renvorsorge der Mutter des verstorbenen Mädchens angefertigt worden waren, sol­len im Original von der Gynäkologin aus Riga angefordert werden – darin würden die diskreten Veränderungen von Herz und Leber zu erkennen sein und ein pa­thologischer Thoraxumfang, der auf die intrauterine Lungenhypoplasie hinweise. Außerdem solle ein weiterer gynäkologi­scher Sachverständiger gehört werden: Der Neuropathologe Prof. Dr. Michael Mittelbronn habe den Zeitpunkt einer möglichen Schädigung auf sechs bis acht Stunden vor der Geburt angenommen, also zwischen 14.14 und 16.14 Uhr. Die Ge­burtshelferin sei um 16.08 Uhr im Hotel angekommen. Es sei nicht klar, wann sich der Zeitpunkt der Schädigung realisiert habe. Die Einschätzungen von Prof. Mit­telbronn und Prof. Feige seien nicht zur Deckung zu bringen. Man könne nicht davon ausgehen, dass ein anderer Aus­gang bei Einweisung in die Klinik sicher gewesen wäre. Nebenklagevertreter Kurz widerspricht: Insbesondere zum zweiten Antrag gibt er zu bedenken, dass es darum gehe, wann das Geschehen unumkehrbar geworden sei, nicht wann es eingetreten sei. Bis 20 Uhr habe es nicht nur einen Herzschlag, sondern auch Kindsbewe­gungen gegeben. Er halte den Antrag für abwegig. »Wir werden nicht auf der Stelle entscheiden«, kündigt der Vorsitzende an. Die Kammer zieht sich zu einer zehnminütigen Pause zurück. Danach wird der Antrag gegen den Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit als unbe­gründet zurückgewiesen. Um 15 Uhr ist die Verhandlung beendet. Der Vorsitzende bittet, sich für die nächsten beiden Tage am 26. und 27. Juni für die Plädoyers be­reitzuhalten. Terminprobleme der Anwälte klingen an. »Die Kammer will das ihrige tun, das Verfahren abzuschließen«, endet der Vorsitzende.

Berufswunsch

»Es hat also geklappt mit dem Termin«, kommentiert der Vorsitzende das Erschei­nen von Pflichtverteidiger Hans Böhme zur Begrüßung am 26. Juni, der mit sei­nem Kollegen Mark Sendowski rechts und links neben der Angeklagten sitzt. Auf der Bank der Ankläger sitzt heute außer Ober­staatsanwältin Ruland und Nebenklage­vertreter Alexander Kurz auch der Vater des verstorbenen Mädchens, der kurzfris­tig aus Lettland gekommen ist. »Es ist in den Raum gestellt worden, dass Sie sich äußern wollen«, wendet sich der Vorsit­zende Richter Meyer an die angeklagte Geburtshelferin. »Ich würde gerne anfangen mit meinem Werdegang«, beginnt sie und verliest mit klarer ruhiger Stimme einen längeren Text zu Details aus ihrem persönlichen Leben, wie es dazu kam, dass sie Hebamme und praktische Ärz­tin wurde und mit welcher Einstellung sie Geburtshilfe betrieben habe. Manche Erläuterungen ergänzt sie frei sprechend. Alle im Saal hören konzentriert zu . Ihre ostpreußischen Eltern hätten sich nach dem Krieg im Ruhrgebiet kennengelernt, der Vater sei Gießer in einer Hütte und später bei der Polizei gewesen. Die Mutter habe nie die Wahl gehabt, einen anderen Beruf als den der Hausfrau zu ergreifen. Vier Jahre nach ihrer Geburt im Jahr 1953 sei ihr Bruder geboren worden. Durch eine Hirnhautentzündung mit einem halben Jahr erlitt er bleibende Schäden: schwerste Krampfanfälle, geistige und körperliche Entwicklungsverzögerungen. Weil er sich nicht mit Worten habe verständigen kön­nen, habe sie früh gelernt, sich in andere einzufühlen. Die Belastung der Mutter durch seine Pflege sei für sie prägend gewesen. Heute lebe er in einem Heim und sie betreue ihn.

Schon als achtjähriges Mädchen habe sie Ärztin werden wollen – der Hausarzt der Familie, ein praktischer Arzt und Ge­burtshelfer, sei ihr Vorbild gewesen. Es habe sie belastet, dass sie ihrem Bruder so wenig habe helfen können. Zur Über­brückung der Wartezeit bis zum Medi­zinstudium habe sie ein Pädagogik- und Psychologiestudium begonnen, wovon sie für ihren professionellen beziehungsorien­tierten Umgang mit Menschen profitiert habe. »Von Zuhause eher die Kommunika­tion ›von oben nach unten‹ gewohnt, hat mich die Möglichkeit überzeugt, mit an­deren auf gleicher Ebene zu kommunizie­ren, aktiv zuzuhören und nondirektiv zu beraten«, schildert sie.

Sie habe dann als Vorbereitung für das Fernziel »Hausärztin und Geburtshelfe­rin« von 1976 bis 1978 eine Ausbildung an der  Hebammenschule Bochum absolviert: »Dort lernte ich einen kasernenmäßigen Ton und eine streng geregelte Hierarchie kennen, in der die Hebammenschülerin­nen ganz am Ende eingeordnet waren«, erinnert sie sich. Auch die Frauen seien manchmal vom Personal angeschrien, be­droht und grob angefasst worden. Einer­seits sei es die Ära der Frauenemanzipation, andererseits die Zeit der »programmierten Geburt« gewesen. Sie habe dennoch eine handwerklich fundierte Ausbildung erhal­ten und »optische Einschätzung erlernt, Er­tasten, Erkennen von Gefährdungen, Ein­fühlen in die gebärende Frau, Helfen mit unschädlichen Mitteln, rigoroses Abwar­ten in Grenzsituationen, aber auch beherz­tes Eingreifen bei tatsächlicher Gefahr«. »Uns wurde von vornherein beigebracht, geistig und handwerklich flexibel zu re­agieren und vorausschauend zu agieren.«

Traditionelle Geburtshilfe

Von den Anfängen des Ultraschalls sei sie beeindruckt gewesen, habe auch die moderne kritische Wissenschaft geschätzt. Gleichzeitig habe sie ihr Wissen über die »manuelle Geburtshilfe« mit Lehrbüchern aus einer Zeit erweitert, in der Hebammen noch für die Hausgeburtshilfe ausgebildet worden seien, obwohl sie von der weiterhin bestehenden Möglichkeit einer Hausgeburt noch nichts gewusst habe. Erst nach ihrem Examen habe sie Kontakt zu drei alteinge­sessenen Kolleginnen und einem prakti­schen Arzt und Geburtshelfer gefunden, die sich auf Geburtshilfe im häuslichen Umfeld spezialisiert und sie unter ihre Fit­tiche genommen hätten. Sie habe viel von ihnen gelernt, indem sie zahllose Geburts­situationen mit ihnen reflektiert hätte. Der ärztliche Geburtshelfer habe auch Steißla­gengeburten betreut. Alle vier hätten ihr nahe gelegt, zunächst Erfahrungen in der Klinik zu sammeln. Sie übernahm deshalb Urlaubsvertretungen, um möglichst viele verschiedene Formen der Geburtshilfe ken­nenzulernen. Auch ihr Medizinstudium, das sie von 1978 bis 1985 absolvierte, habe sie mit Hebammenarbeit im Kreißsaal in Form von 12-Stunden-Diensten an Wochen­enden selbst finanziert .

Schwierige Erlebnisse aus dem Kreiß­saal hätte sie mit ihren außerklinischen Mentorinnen durchgesprochen. »Das wäre zu Hause nicht passiert«, habe sie dabei oft gehört. Denn den gefährlichen Situatio­nen seien meist Eingriffe vorausgegangen, wie das Eröffnen der Fruchtblase, Medi­kamentengaben, Wehen unterstützende Infusionen oder manuelle Dehnungen des Muttermundes. Auch die Haltung der Ge­burtshelferinnen den Frauen gegenüber und wie sie diese behandelten, habe offen­bar eine Rolle gespielt. Beispielsweise sei sie davon beeindruckt gewesen, wie ein erfahrener Chefarzt eine dramatische Si­tuation durch seine Gelassenheit sofort habe beruhigen und durch seine Zuwen­dung und seine Worte die Geburt wieder in normale Bahnen habe lenken können.
»Man muss viel wissen, um wenig zu tun«, habe sie damals gelernt.

Sie habe damals schon einen offenen Hebammenzirkel gegründet, um einmal im Monat mit Kolleginnen problemati­ sche Geburten aufzuarbeiten und daraus zu lernen. 1984 habe sie das »Zentrum für Geburtsvorbereitung und Elternschaft« in Unna mitgegründet, dessen Konzept war, vorrangig präventiv tätig zu sein. Die In­stitution habe später den renommierten Kübelpreis erhalten.

Nachdem ihr erster Sohn 1981 geboren sei, habe sie neben dem Studium mit Haus­geburtshilfe begonnen. Sie habe erlebt, dass Frauen – auch mit Risikofaktoren – in ihrem privaten Umfeld selbstsicherer gewesen seien und dass sie sich voll auf eine Gebärende habe einstellen können. Die Geburten seien problemloser verlau­fen als in der Klinik. »Ich leitete nicht die Geburt, sondern ich durfte daran teilneh­men. Es war mir immer eine Ehre, wenn mich Frauen als ihre Begleitung bei die­sem intimen Ereignis wählten.« Bei diesen Worten zeigt ihre Stimme eine innere Er­schütterung. »Wenn wir eine kurze Pause machen sollen?«, reagiert der Vorsitzende sofort. »Es geht schon«, setzt die Geburts­helferin ihre Schilderungen fort.

Während ihrer Zeit als Lehrhebamme in Duisburg von 1992 bis 2012 habe sie die WHO-Empfehlungen mit einer Kollegin in deutscher Übersetzung herausgebracht. Sie habe sich auch der zeitintensiven For­schung anhand von Einzelfallstudien gewidmet, wie es für autonom arbeiten­de Hebammen nicht anders möglich sei. Daraus habe sie Schlüsse abgeleitet »über das individuelle physiologische Geburts­geschehen und die Berechtigung der Ge­burtshelferin, nicht einzugreifen.« Nach der Frühgeburt ihres zweiten Sohnes, der 1985 mit 700 Gramm zur Welt gekommen sei und am sechsten Lebens­tag eine Hirnblutung erlitten habe, habe sie sich aufgrund ihrer eigenen leidvollen Erfahrungen über Jahre intensiv im Be­reich Perinatologie fortgebildet. Sie habe dadurch in ihrer ärztlichen Privatpraxis eine Vielzahl auffälliger Kinder frühzeitig an geeignete Förderstellen und Expertin­nen überwiesen.

Aufgrund des laufenden Prozesses sei ihre Praxis im März 2012 von der Bezirks­regierung geschlossen worden und habe seitdem fast keine Einkünfte mehr. »Bis 2008 – 30 Jahre lang – hatte ich keinen Todesfall bei einer selbstbetreuten Geburt zu beklagen«, schließt sie. Sie sei es den­noch gewohnt gewesen, von Kontrahen­tinnen, die nur den klinischen Standard gekannt hätten, als »potenzielle Kindsmör­derin« bezeichnet zu werden. Über ihre Art der Geburtshilfe, der vorsichtigsten, die ihr möglich erscheine, bestünden un­klare Vorstellungen. Das sechs Jahre lange Ermittlungs- und Strafverfahren wegen bedingtem Totschlag »bringt mich psy­chisch, physisch und finanziell an meine Grenzen«, schildert die angeklagte Ge­burtshelferin. Nie habe sie in einer wahr­nehmbaren Gefahrensituation Hilfe für Mutter oder Kind verweigert.

»Es tut mir leid«

Nach einer halben Stunde Pause geht es weiter. Sie sei froh, dass der Vater des klei­nen Mädchens da sei, beginnt sie direkt an den gegenüber sitzenden Nebenkläger gerichtet: »Nach dem Beziehungsabbruch war keine Gelegenheit mehr, miteinander zu sprechen. Es tut mir leid – es gibt nichts Schlimmeres als sein erstes Kind zu verlie­ren. Ich kann mir das sehr gut vorstellen.« Der Angesprochene schaut sie bei ihren Worten mit offenem Blick an.

Die Geburtshelferin schildert nun, wie sie die Eltern am 29. Mai 2008 nach deren ersten Anruf von der Uniklinik Frankfurt aus in ihrer Praxis kennengelernt habe. Noch am selben Tag habe sie einen aus­führlichen Gesprächstermin für sie ein­geschoben. Die Eltern hätten in Riga eine Hausgeburt geplant. Als das Ungeborene sich in Beckenendlage befunden habe, wo­mit ihre Hebamme nicht versiert gewesen sei, habe sie den Eltern den Namen einer Hebamme in Deutschland genannt, die damit erfahren sei. Diese habe die Eltern dann an sie verwiesen.

Die Angeklagte fährt fort, ausführ­lich  über  ihre  Schwangerenbetreuung in den letzten Wochen vor der Geburt zu berichten. Nach einer weiteren Pause schildert sie sehr ausführlich die Geburt und den tragischen Verlauf, als das Kind leblos geboren wird. Der Vater des klei­nen Mädchens macht sich fortwährend Notizen. Wenn er mit dem Kopf schüttelt oder missbilligend schaut, wendet sich die Aufmerksamkeit der Staatsanwältin und der Richter ihm zu, insbesondere der Nebenrichterin Martina Hülsebusch zur Rechten des Vorsitzenden. Nur der junge Nebenrichter Dr. Antonius Hüntemann, der links von Meyer sitzt, hört hochkon­zentriert den Ausführungen der Ärztin und Hebamme zu. Anschließend wird der Vater zu den Aussagen der Geburtshelferin vernommen, der seine Erinnerung damit abgleicht. In einer weiteren Fortsetzung des Prozessberichts wird von den Schilde­rungen im Zusammenhang mit der Ge­burt und dem Tod des neugeborenen Mäd­chens noch ausführlicher die Rede sein.

Urteil verschoben

Die Staatsanwältin fordert in ihrem Plädoyer am 3. Juli acht Jahre und drei Monate Haftstrafe sowie lebenslanges Be­rufsverbot wegen bedingten Totschlags. Am Tag darauf plädieren die drei Strafver­teidiger der Geburtshelferin dagegen auf Freispruch. Danach war eigentlich für den 28. Juli das »letzte Wort« der Angeklagten und für den 11. August die Verkündung des Urteils geplant. Doch die Kammer hat überraschend am 28. Juli die Beweisauf­nahme wieder eröffnet und einen neuen Zeugen vernommen. Weitere Untersu­chungen zum Fall sind geplant. Wenn al­les planmäßig verläuft soll das Urteil nun am 1. September verkündet werden. Fortsetzung folgt.

Zitiervorlage
Baumgarten K: Gerichtsreportage, Teil 13: Die Angeklagte sagt aus. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (9): 80–83
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