Die ersten Worte der Hebamme können prägend sein: zunächst für die Eltern, die ihr Kind in diesem Licht sehen und mit ihm umgehen. Später auch für dessen Selbstbild und Verhalten. Gedanken über eine erste “verbale Intervention”
»Einige Eltern lassen die Worte, die die Hebamme über das Kind spricht, an einen besonders sensiblen Ort ihres Herzens gelangen, und dort bleiben sie ein Leben lang.« Foto: © Katharina Bau
Die ersten Worte der Hebamme können prägend sein: zunächst für die Eltern, die ihr Kind in diesem Licht sehen und mit ihm umgehen. Später auch für dessen Selbstbild und Verhalten. Gedanken über eine erste “verbale Intervention”
Meine Großmutter sagt über eine ihrer Töchter, knapp 60 Jahre nach der Geburt: “Die Hebamme hat schon bei ihrer Geburt gesagt, dass sie ein Unruhegeist ist. Und das ist sie immer geblieben, bis heute.”
Die Erinnerungen der Frauen meiner Familie an die Worte ihrer Hebammen sind beeindruckend. Manche Worte werden jahrzehntelang zitiert, mindestens am jeweiligen Geburtstag. So wie kürzlich auch wieder an meinem Geburtstag: »Du warst ja viel zu früh und ich habe mir solche Sorgen gemacht. Aber die Hebamme hat zu dir gesagt: Ja, du bist zwar viel zu klein, aber dafür ganz, ganz stark. Und so ist das auch mit dir. Um dich machen wir uns keine Sorgen.«
Nach meinem vorigen Geburtstag habe ich mich gefragt, warum das eigentlich so ist. Warum sind alle Menschen in meiner Familie davon überzeugt, dass man sich um mich nicht sorgen muss, inklusive mir selbst? Warum ist der Unruhegeist ausgewandert und wird immer noch von allen als Unruhegeist gesehen? Warum ist aus dem Kind, von dem schon die Hebamme gesagt hat, dass es »Klavierfinger« habe, ein Musiker geworden? Und warum ist aus dem Kind, zu dem die Hebamme direkt nach der Geburt sagte, dass es verfressen sei und allen noch die Haare vom Kopf essen werde, eine übergewichtige Frau mit einem Diabetes Typ 2 geworden? Was ist da passiert?
Während ich mich mit einer Hebammenkollegin darüber unterhielt, fiel mir das Märchen »Dornröschen« ein. Als Kinder haben wir gesungen: »Dornröschen schlafe hundert Jahr«, und es schien uns selbstverständlich, dass diese Worte – von einer weisen Frau zu einem neugeborenen Kind gesprochen – in Erfüllung gehen müssen. Es hat uns überhaupt nicht gewundert, dass Dornröschen sich genau so entwickelte, wie die 13 weisen Frauen es ihr gewünscht hatten.
Entsprechend der ersten elf über das Kind gesprochenen Worte wurde aus dem Neugeborenen ein besonders hübsches, kluges und freundliches Kind. Die Worte der vorletzten weisen Frau ließen uns erschauern. Sie sprach den Todesfluch. Und wir wussten: Was diese Frau zum Kind sagt, wird Wahrheit. Glücklicherweise gab es da noch die letzte weise Frau. Auf ihre Worte kam es nun an. Sie konnte durch ihren Zauberspruch den vernichtenden Fluch auffangen und das Mädchen vor dem frühen Tod bewahren. Wir Kinder verstanden sofort, dass die gute weise Frau »den bösen Spruch nicht aufheben, sondern ihn nur mildern« konnte – so ist es jedenfalls in einem Märchen der Brüder Grimm. Was einmal gesagt ist, ist in der Welt und wirkt. Insbesondere, wenn es zu einem neugeborenen Menschen gesagt wird.
Das Wissen um die Macht der Worte gehört nicht nur den Kindern und (Volks-)Dichtern. Wir finden es auch in der Religion und in der Psychologie. Die Sozialpsychologie kennt ein interessantes Phänomen, das die Macht von Zaubersprüchen erklären könnte, wie wir sie aus Dornröschen kennen und wie ich sie in meiner Familie erfahre: den sogenannten Andorra-Effekt. Es ist eine Form der sogenannten selbsterfüllenden Prophezeiungen. Der Name wurde dem Drama »Andorra« von Max Frisch entliehen. Frisch hatte mit diesem Werk die Absicht, den Blick für gesellschaftliche Phänomene zu schärfen, die den Antisemitismus begleiten. Wenn heute vom Andorra-Effekt die Rede ist, geht es um ein Phänomen, das wesentlich später, insbesondere durch Entwicklungen in der Personalführung, herausgearbeitet wurde.
Im Drama »Andorra« wird der Protagonist Andri von seinem Vater als jüdischer Pflegesohn ausgegeben, obwohl er nicht jüdischer Abstammung ist. So kommt es, dass seine Umwelt ihn für einen Juden hält und an ihm vermeintlich typisch jüdische Eigenschaften entdeckt. Obwohl er selbst sich anfangs sträubt, entwickelt Andri nach und nach diese Eigenschaften und hält sich selbst für den Menschen, den seine Umwelt in ihm sieht.
Im Managementwesen wird genau dieser Effekt untersucht und beschrieben: Ob eine Person möchte oder nicht, sie wird in ihrer Entwicklung von den Erwartungen der Umwelt geprägt. Wird einem Menschen in der Familie, in der Schule oder am Arbeitsplatz viel zugetraut, so wird er viel leisten können, sich entfalten und der Andorra-Effekt verstärkt sich aus sich selbst heraus. »Denn wer da hat, dem wird gegeben.« Und damit wären wir schon beim Matthäus-Effekt angekommen, also in der Religion: Hat eine Person etwas erreicht, so ist das der Nährboden für weitere Erfolge. Umgekehrt gilt dasselbe: Ein Misserfolg wächst auf dem anderen.
Der Andorra-Effekt aber beschreibt weit mehr als nur den Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg eines Menschen. Das gesamte Verhalten eines Menschen kann beeinflusst werden durch die Haltung und Erwartung, die seine Umwelt ihm entgegenbringt. Wird von einem Kind erwartet, dass es ein Unruhegeist ist, so wird es sich selbst bald auch für einen solchen halten und sich entsprechend verhalten. Daraufhin verstärkt sich in der Familie das bereits bestehende Bild von diesem Kind. Verhält sich ein Geschwister einmal ähnlich, wird sein Verhalten unter Umständen übersehen oder anders gedeutet. Ob sich ein solcher Unruhegeist ohne die Zuschreibung der Umwelt auch zu einer rastlosen Erwachsenen entwickelt hätte, ist fraglich.
Wir wissen, wie offen und empfänglich Frauen – und auch Männer – rund um die Geburt ihrer Kinder sind. Einige Eltern lassen die Worte, die die Hebamme über das Kind spricht, an einen besonders sensiblen Ort ihres Herzens gelangen, und dort bleiben sie ein Leben lang.
Die Worte, die die Hebamme über das Kind spricht, können so das Gefühl prägen, das die Eltern für ihr Kind haben, das Gefühl für die Eigenarten, den Charakter des Kindes. Sie prägen damit auch die Haltung der Geschwister zueinander, die Rolle, die die heranwachsende Person in der Familie und in der Gesellschaft einnimmt, und auch ihr eigenes Selbstbild und Selbstverständnis. Manche dieser Worte wirken also wie Zaubersprüche: Sie gehen in Erfüllung.
Wir wissen nicht genug darüber, bei welchen Frauen und Familien unsere Worte über die Kinder auf so fruchtbaren Boden fallen. Zumindest vermuten könnte man, dass dies bei ganz besonders vulnerablen Personen der Fall sein könnte, wie zum Beispiel Frauen, die sehr lange auf die Geburt eines lebenden Kindes gewartet haben, Frauen nach Migrationserfahrung, Frauen mit zu früh oder krank geborenen Kindern. Um mehr darüber zu erfahren, brauchen wir interdisziplinäre Forschung, die Hebammen beispielsweise gemeinsam mit PsychologInnen und SoziologInnen betreiben.
Auch wenn – und gerade weil – wir zurzeit noch nicht viel Wissen zur Wirkung der Worte haben, die im Beisein der Eltern über ein Neugeborenes gesprochen werden, sollten wir uns über dieses Thema unterhalten. An Hebammenschulen, in Hebammenstudiengängen und in Hebammenfortbildungen beschäftigen wir uns mit gewaltfreier Kommunikation, transkultureller Kommunikation, nonverbaler Kommunikation – warum nicht mit dem Andorra-Effekt? Jede werdende Hebamme und jede erfahrene Kollegin werden Erlebnisse beisteuern können. Alle haben schon Zaubersprüche gehört, wie: »Na, du bist aber ein ganz schöner Moppel, du!«, oder: »Ach wie süß, so ein zartes Püppchen«, und: »Na, du hast aber ein Stimmchen, du wirst deinen Geschwistern schon zeigen, wo es lang geht«. Hand aufs Herz, wem ist so etwas noch nicht über die Lippen gerutscht?
Wir könnten uns fragen, inwieweit unsere Worte zu den Neugeborenen als Interventionen zu betrachten sind. Wenn ich an meine Mutter denke, die durch den einfachen Zauberspruch ihrer Hebamme im Umgang mit ihrem Frühgeborenen nachhaltig gestärkt wurde, komme ich zu dem Schluss, dass Zaubersprüche in jedem Fall eine wirkungsvolle Intervention sein können. Die potenziellen Nebenwirkungen der Intervention Zauberspruch sollten wir diskutieren.
Die Autorin ist der Redaktion bekannt.