Vor 100 Jahren begrüßte Olga Gebauer, Begründerin und Schriftleiterin der Allgemeinen Deutschen Hebammen-Zeitung, ihre LeserInnen zum Neuen Jahr 1907: „Das alte Jahr hat alte Sorgen, altes Leid und alten Verdruß mit sich genommen, es gehört zur Vergangenheit und kann uns nichts mehr anhaben, wenn wir entschlossen mit dem neuen Jahre ein neues Leben beginnen.” Mir hat der Enthusiasmus imponiert, mit dem Olga Gebauer ihre LeserInnen ermuntert. Sie schreibt weiter in ihrer Begrüßung: „Überall, wo Hebammenvereine sind und die Hebammen-Zeitung gelesen wird, besitzen die Hebammen umfassendere Kenntnisse für ihren Beruf …” Wissen zu aktualisieren, zu vertiefen und anwendbar zu machen, ist uns auch heute noch ein zentrales Anliegen! Heute leben wir mehr denn je in einer globalisierten Welt. Europa wächst. Sieht man sich die Rolle der Hebammen in anderen Ländern an, bietet sich ein buntes Bild. Wir möchten Ihnen in diesem Jahr in einer Folge von Artikeln einen „Blick über den Tellerrand” gewähren. Wie wird in Tschechien, Italien oder den baltischen Ländern Geburtshilfe geleistet? Was können Hebammen aus diesem erweiterten Blick lernen? Wir erhoffen uns für Sie Denkanstöße, das eigene „System” zu reflektieren.

Denkanstöße bietet auch unser Titelthema „Beckenboden”: Die italienische Hebamme Verena Schmid, Gründerin und Leiterin der „Scuola Elementale di Arte Ostetrica” aus Florenz, führt in dieses komplexe Thema ein. Ihre Vorstellung vom offenen und geschlossenen Beckenboden hat mich berührt: Sie beschreibt einen dynamischen Wechsel zwischen beiden Zuständen – und sieht in ihm den Schlüssel zum Ausdruck des Selbstwertgefühls. Das Bild der Lotusblüte spricht dabei für sich: Öffnen und Schließen, beides hat seine ureigene Berechtigung – und spiegelt sich in unserer äußeren und inneren Haltung wider. Die Episiotomie erscheint im Verhältnis zu dieser zarten Idee als etwas Radikales. Zur Frage, ob und wann die Epi durchgeführt werden sollte, argumentiert Dr. Michael Scheele engagiert aus seiner Praxis als Chefarzt der Geburtshilfe gegen den oftmals – für die meisten traditionellen Indikationen –
heute wissenschaftlich ungerechtfertigten Schnitt. Er sieht in einem konstruktiven Dialog zwischen Hebammen und ÄrztInnen den Schlüssel zur Senkung der Epi-Rate. Sandra Tomaselli zitiert, nachdem sie das breite Spektrum an Studien zu „Geburt und Beckenboden” gründlich gesichtet hat, ebenfalls ein faszinierendes Ergebnis: Die Hebamme kann vor allem durch bewusstes Zurücknehmen ihrer Präsenz die Atmosphäre optimal für möglichst geringe Geburtsverletzungen schaffen!

Wissen und Wahrheit klaffen wohl oftmals auseinander. So denke ich: Hebammen brauchen auch heute noch die Entschlossenheit zur Veränderung. In diesem Sinne schließe ich mich den ermunternden Worten Olga Gebauers an: „Glück auf zu neuer, gedeihlicher Jahresarbeit!”

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