Die vaginale Untersuchung während der Geburt ist längst zur Routine geworden. Dabei stellt sie für die Gebärende oftmals eine Verletzung ihrer Intimsphäre dar. Die Evidenzen für ihren Nutzen sind dünn gesät.
Eine wesentliche Voraussetzung für die unkomplizierte Geburt ist die Kontinuität in der Betreuung, der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Gebärender und Hebamme. Foto: © Kerstin Pukall
Die vaginale Untersuchung während der Geburt ist längst zur Routine geworden. Dabei stellt sie für die Gebärende oftmals eine Verletzung ihrer Intimsphäre dar. Die Evidenzen für ihren Nutzen sind dünn gesät.
Die Glocke der Geburtsabteilung läutet. Eine wehende Frau steht vor der Tür, die diensthabende Hebamme holt sie ab und geleitet sie ins Untersuchungszimmer. Als die Hebamme wenig später zum Stützpunkt kommt, fragt die Kollegin: „Na, wie weit?“
Im Kreißzimmer ist währenddessen eine andere Geburt im Gange. Am Tönen der Gebärenden ist zu hören, dass sich das Köpfchen bereits tief im Becken befindet. Als die betreuende Hebamme kurz das Geburtszimmer verlässt, wird auch sie gefragt: „Wie weit ist sie denn?“
Diese Szenen sind uns vertraut. Für Hebammen und GeburtshelferInnen ist die vaginale Untersuchung Routine. Auch für die Gebärende ist es mitunter wichtig zu wissen, wie weit sie in ihrer Geburtsarbeit ist. Manchmal aber stellt die vaginale Untersuchung für die Gebärende eine empfindliche Intimitätsverletzung dar. Sie wird als unangenehm, schmerzhaft oder sogar traumatisierend erlebt. Es stellt sich die Frage: Muss das wirklich sein?
Mein Hebammenstudium in Innsbruck und die abschließende Masterthese waren die beste Gelegenheit, mich forschend mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Ziel meiner Arbeit war herauszufinden, wie die vaginale Untersuchung als Diagnoseinstrument zur Feststellung des Geburtsfortschritts in der Forschungsliteratur begründet ist und welche Evidenzen es dafür gibt. Darüber hinaus war es mir ein Anliegen zu erfahren, wie es Frauen mit der vaginalen Untersuchung während der Geburt tatsächlich geht.
Weil Hebammen die Grundkenntnisse ihres Berufs in der Ausbildung lernen und Fachbücher hierbei eine prägende Rolle spielen, wurde zunächst die Darstellung der vaginalen Untersuchung in deutschen und englischsprachigen Hebammenlehrbüchern verglichen. Eine Literaturrecherche in Datenbanken, wie Academic Search Elite, CINAHL, Cochrane, Medline, MIDIRS, Pubmed, Science Direct und Springer Link, sollte die Frage beantworten, ob die vaginale Untersuchung als geeignetes Instrument zur Dokumentation des Geburtsfortschritts betrachtet werden kann. Im empirischen Teil der Arbeit wurden mittels leitfadengestützter Interviews Frauen, deren letzte Geburt nicht länger als zwei Jahre zurücklag, zu ihren Erfahrungen mit der vaginalen Untersuchung befragt.
Über ein Expertinneninterview floss noch die Perspektive der forschenden Hebamme Dr. Mary Stewart mit ein. Sie hat ihre Dissertation der Frage gewidmet, wie es Hebammen damit geht, Frauen vaginal zu untersuchen (Stewart 2008).
In den gesichteten Lehrbüchern gilt die vaginale Untersuchung unbestritten als wesentliche Hebammenfertigkeit. Die routinemäßige Durchführung steht außer Zweifel, auch bei normal verlaufenden Geburten. Die Beschreibung der vaginalen Untersuchung ist besonders in deutschen Hebammenlehrbüchern verkürzt (Geist et al. 2007; Mändle & Opitz-Kreuter 2007; Martius 1990 und1995). Das betrifft die Begründung ebenso wie die Positionierung im Ablauf der Begleitung einer Geburt. Da nicht zwischen Latenzphase und aktiver Eröffnungsphase differenziert und pauschal für die Eröffnungsphase ein Untersuchungsabstand von etwa zwei Stunden empfohlen wird, ergibt sich eine hohe Untersuchungsfrequenz im Vergleich zur englischen Literatur. In England hat das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE 2007) eine Richtlinie herausgegeben, die für die aktive Eröffnungsphase ein vierstündliches Untersuchungsintervall vorschlägt, aber nicht verbindlich vorgibt.
Auch was die Intimität der vaginalen Untersuchung betrifft, sind die deutschsprachigen Fachbücher undifferenzierter als die englischen. Die konkrete Durchführung von vaginalen Untersuchungen und die kommunikativen und psychosozialen Fähigkeiten, die es dafür braucht, sind knapp abgehandelt. Ein Aspekt, der in keinem Lehrbuch erwähnt wird, ist die von Stewart (2008) wahrgenommene innere Barriere von Hebammen bei einem so intimen Eingriff. Im Interview bestätigte Stewart, dass sich die von ihr befragten Hebammen für die Kommunikation mit der Frau im Rahmen einer vaginalen Untersuchung als schlecht ausgebildet erlebten.
Unter dem Paradigma des Geburtsfortschritts ist die wiederholte vaginale Untersuchung zur Routinemaßnahme geworden. Doch laut dem kanadischen Geburtshelfer und Epidemiologen Murray Enkin et al. (2006) gibt es dafür keine ausreichenden Evidenzen. Durch die Einführung des Partogramms und die damit verbundenen zeitlichen Limits für jede Phase der Geburt ist man von der Beobachtung des Geburtsverlaufs zu dessen Kontrolle übergegangen. Damit konnten laut Tina Lavender, Professorin für Midwifery, und ihren KollegInnen an der Universität von Manchester (2008) jedoch weder die Kaiserschnittrate noch andere geburtshilflich relevante Parameter wie Geburtsdauer, Oxytocingabe oder Apgar-Score positiv beeinflusst werden. Die Zeit ist zum wichtigsten Indikator für das geburtshilfliche Handeln geworden, so Denis Walsh, Professor für Midwifery an der Universität Nottingham (2010). Ashley Sheperd und Helen Cheyne, Professorinnen für Midwifery an der britischen University of Stirling, haben herausgefunden, dass Frauen häufig mehr vaginale Untersuchungen erhalten als die Leitlinien vorsehen (2012). Auch wird in der Praxis öfter untersucht als dokumentiert ist. Die Angst vor der protrahierten Geburt hat den ganzheitlichen Blick auf das individuelle Gebären und Geborenwerden nachhaltig verstellt. Sie hat zu einer Geburtshilfe geführt, die interventionsreicher ist denn je (Schwarz & Schücking 2004).
Ein Review von Ellen Hodnett, Professorin an der Universität von Toronto, und ihren KollegInnen zeigt jedoch, dass die wesentliche Voraussetzung für die unkomplizierte Geburt nicht deren engmaschige Überwachung ist (2011). Vielmehr sind dies die Kontinuität in der Betreuung einer Gebärenden, die physische und psychische Anwesenheit der Hebamme, der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Gebärender und Hebamme und eine offene Kommunikation. Das relativiert die Notwendigkeit regelmäßiger vaginaler Untersuchungen und stellt insbesondere das Untersuchen nach zeitlichen Kriterien in Frage.
Vaginalbefunde sind außerdem nicht immer eindeutig. Es gibt auch andere, nicht invasive Möglichkeiten, eine Geburt beobachtend zu begleiten (Burville 2002). Diese vorwiegend beobachtenden Methoden hat Margaret Duff, Hebamme und Professorin an der University of Western Sydney, ausführlich dargelegt (Duff 2005). Das Verhalten der Gebärenden, ihr Kontakt zu ihrem Umfeld, die Art wie sie atmet, tönt und auf äußere Reize reagiert, ihr Hunger- oder Durstgefühl, ihr Rhythmus, ihre Bewegungsmuster, die Form und Frequenz ihrer Wehen – all das lässt drauf schließen, in welchem Stadium der Geburt sie sich befindet.
Vaginale Untersuchungen können eine empfindliche Verletzung der Intimsphäre bedeuten und Stress und Schmerzen erzeugen (Bertgström et al. 1992; Lewin et al. 2004). Die Entwicklung von posttraumatischen Belastungsstörungen wurde besonders in Fällen von gewaltbetroffenen Frauen wiederholt beobachtet (Menage 1993; Coles 2009). Laut Bericht des Deutschen Bundesgesundheitsministeriums (2004) erleidet in Deutschland „jede zweite bis dritte Frau körperliche Übergriffe in ihrem Erwachsenenleben und etwa jede siebte Frau sexuelle Gewalt“. So ist die potenzielle Gefahr, durch eine vaginale Untersuchung eine Retraumatisierung zu erleben, nicht zu unterschätzen. Eine solche kann auch ohne vorherige Gewalterfahrungen als traumatisch erlebt werden (Swahnberg et al. 2011).
Ihre Aufgabe erfüllt die vaginale Untersuchung dort, wo ein konkretes geburtshilfliches Problem zu diagnostizieren ist, um entsprechend darauf reagieren zu können. Wird eine vaginale Untersuchung als Intervention betrachtet, die nur nach Indikation und mit dem Einverständnis der Frau durchgeführt wird, spielt sie als geburtshilfliches Diagnoseinstrument insbesondere bei der Vermeidung von Komplikationen eine wichtige Rolle (Sheperd & Cheyne 2012). Hebammen setzen laut einer Umfrage vaginale Untersuchungen zur routinemäßigen Kontrolle des Geburtsfortschritts ohnehin nur ungern ein. Sie bevorzugen es, diese nur nach klinischer Indikation durchzuführen (Davies 2011).
In der Praxis durchaus geläufig, in der Literatur aber nicht zu finden, sind zusätzliche zumindest in Österreich und Deutschland weit verbreitete Manipulationen, die im Zuge einer vaginalen Untersuchung ausgeführt werden. Sie sollen der Geburtserleichterung oder der Beschleunigung des Geburtsfortschritts dienen und werden von Hebammen, die aus der Ausbildung kommen, auf Basis des lernenden Beobachtens im Kreißsaal oft unkritisch übernommen. Da in den Interviews gerade diese Eingriffe immer wieder zur Sprache kamen, ist es angebracht, diese näher auszuführen:
Alle interviewten Frauen akzeptierten die vaginalen Untersuchungen als notwendige Maßnahmen während der Geburt. Gleichzeitig empfanden sie diese als unangenehm, manchmal als störend und in einzelnen Fällen sogar als traumatisch. In keinem Interview erzählte die Frau, dass sie vor die Wahl gestellt worden sei, einer vaginalen Untersuchung zuzustimmen oder diese abzulehnen. Manipulationen wie das Muttermunddehnen wurden überwiegend als schmerzhaft erlebt.
Die Beziehung zur Hebamme beeinflusst die Toleranz gegenüber vaginalen Untersuchungen ebenso wie die psychische Konstitution der Gebärenden. Hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt, nimmt die Gebärende vaginale Untersuchungen und auch andere Maßnahmen leichter an, als wenn das nicht der Fall ist.
Besonders dann, wenn vaginale Untersuchungen schmerzhaft sind, sehr häufig oder unangekündigt durchgeführt werden, wirken sie sich prägend auf das Geburtserlebnis aus. Indirekt haben auch die am Zwei-Stunden-Schema orientierten Untersuchungen eine Auswirkung auf das Erleben der Geburt, weil sie ein Gefühl von Zeitdruck erzeugen. Auch über die häufig folgenden geburtshilflichen Interventionen hat die vaginale Untersuchung Einfluss auf das Geburtserleben. Sie ist Entscheidungsgrundlage für geburtsbeschleunigende Maßnahmen ebenso wie für eine Schmerzmedikation und operative Geburtsbeendigung – Interventionen, die ihrerseits oft unangenehme Erinnerungen an die Geburt erzeugen.
Von den zehn interviewten Frauen wurde bei fünf Erstgebärenden ein protrahierter Geburtsverlauf diagnostiziert. Fünf der zehn interviewten Frauen hatten bei ihrem ersten Kind eine Periduralanästhesie. Bei vier Frauen wurde die Geburt mittels Oxytocin beschleunigt. Zwei Erstgebärende hatten eine sekundäre Sectio, zwei eine Vakuumextraktion. Bei einer wurde die Spontangeburt in Sectiobereitschaft und bei einer weiteren in Vakuumbereitschaft durchgeführt. Dass diese Maßnahmen das Geburtserlebnis stark beeinflussen und wenig Raum lasssen für Intimität, ist leicht nachvollziehbar.
Die vaginale Untersuchung hat, wie auch Mary Stewart im Interview anmerkte, ihren wichtigen Platz in der Hebammenarbeit. Dort, wo sie dazu beiträgt, ein geburtshilfliches Problem zu diagnostizieren und zu lösen, ist sie angezeigt. Dort, wo sie wiederholt und ohne medizinische Indikation zur routinemäßigen Kontrolle des Geburtsfortschritts eingesetzt wird, wirkt sie kontraproduktiv und sollte daher vermieden werden.
Meine wissenschaftliche Recherche hat meine Praxis verändert. Immer öfter und mit wachsender Sicherheit betreue ich Geburten, ohne eine einzige vaginale Untersuchung durchzuführen. Wenn ich untersuche, dann am ehesten am Anfang der Geburt, um einen Ausgangsbefund zu haben, und dann nur mehr mit einer Indikation, die sich aus dem weiteren Geburtsverlauf ergibt. Niemals vernachlässige ich die Information der Frau über eine geplante vaginale Untersuchung, niemals führe ich eine solche ohne deutliches Einverständnis der Gebärenden durch. Ich mache nichts, was ich nicht vorher angekündigt habe. Ich untersuche auch in der Austreibungsperiode nicht „mal schnell ganz vorsichtig zwischendurch“. Wenn meine Untersuchung Schmerzen verursacht, breche ich ab, auch wenn ich noch keinen gesicherten Befund habe.
Als Hebamme geht es mir damit viel besser. Das Allerbeste aber ist, dass ich meine Vorgangsweise auch begründen kann: Ich weiß, was ich tue. Ich habe es erforscht.
Hinweis: Der Artikel basiert auf der Masterthesis der Autorin unter dem Titel „Die vaginale Untersuchung während der Geburt. Ein Eingriff zwischen Routinemaßnahme und Intimitätsverletzung“.
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