Die WHO empfiehlt die Unterstützung des Stillbeginns innerhalb der ersten halben Stunde postnatal. Der Gemeinsame Bundesauschuss schreibt in seiner Richtlinie über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern die Durchführung der U1 innerhalb genau dieser ersten 30 Minuten nach Geburt eines Kindes vor. Gleichzeitig ist nachgewiesen, dass die ersten zwei Lebensstunden eines Neugeborenen eine kritische und irreversible Phase im Ankommen in der Außenwelt für das Neugeborene sind. Im Haut-zu-Haut-Kontakt durchlaufen Neugeborene in dieser Phase neun physiologische Phasen der postnatalen Adaptation: Geburtsschrei, Entspannung, Erwachen, Aktivität, Erholung, Robben zur mütterlichen Brust, sich mit der Brust vertraut machen, Saugen und schlussendlich Schlafen. Durchschnittlich benötigen sie für diesen Zyklus 1,5 bis 2 Stunden (Widström et al., 2019 a). Werden Neugeborene im Ablauf dieser Phasen durch zum Beispiel die Erhebung von Maßen und Gewicht oder die Durchführung der U1 unterbrochen, beginnen sie den Adaptationszyklus von vorn. Zwei Stunden postnatal fallen Neugeborene jedoch aufgrund ihres sinkenden Katecholaminspiegels in einen tiefen Schlaf (Karimi et al., 2019 b) – unabhängig davon, ob es zu einem ersten Andocken an der mütterlichen Brust kam oder nicht.
Neun Handlungsempfehlungen
Das Dilemma ist offenkundig: es bestehen Diskrepanzen zwischen aktuellem Forschungsstand, den Empfehlungen und Richtlinien sowie der tatsächlich gängigen Praxis der postpartalen Versorgungsroutine von Mutter und Kind in vielen Krankenhäusern. Aufgrund medizinisch (pathologisch) indizierter Handlungsstandards und dem Überwachungsprinzip wird der Mutter-Kind-Kontakt hintenangestellt.
Das Poster für den DHZCongress 2022 fasst die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Hautkontakts zwischen Mutter und Kind zusammen. Zentraler Inhalt sind neun Handlungsempfehlungen zur Integration des unmittelbaren oder frühen Haut-zu-Haut-Kontakts zwischen Mutter und Neugeborenem während der Erstversorgung im Kreißsaal. Die argumentative Grundlage dieser Handlungsempfehlungen bilden bei der Recherche in den Datenbanken Cochranelibrary und PubMed gefundene evidenzbasierte Vorteile des Haut-zu-Haut-Kontakts:
Die Haut ist ein zentrales Kommunikationsorgan. Mikroskopische Sinnesrezeptoren dienen der taktilen Exploration der Umgebung und nehmen mechanische sowie thermische Reize auf. Die Haut trennt die individuelle »Innenwelt« von der »Außenwelt«, wodurch gerade nach dem Übergang aus der uterinen Innenwelt in die extrauterine Außenwelt der Fokus auf der Haut als Explorationsorgan parabelhaft scheint.
Mehr als ein Vorteil
Im Haut-zu-Haut-Kontakt sinkt das neonatale Stresslevel signifikant und die allgemeine postnatale Adaptation wird positiv beeinflusst, so haben Neugeborene im Haut-zu-Haut-Kontakt beispielweise einen höheren Blutzuckerspiegel als Neugeborene, die eine Standardversorgung ohne Haut-zu-Haut-Kontakt erhalten (Moore et al., 2016). Haut-zu-Haut-Kontakt ermöglicht eine optimale Thermoregulation Neugeborener und fördert die initiale mikrobiologische Kolonisierung des Neugeborenen, was gerade nach einer Sectio caesarea von hoher Relevanz ist (Widström et al., 2019 a).
Der unmittelbare Haut-zu-Haut-Kontakt regt die Ausschüttung von Oxytocin bei der Mutter an, unterstützt damit eine schnellere Plazentageburt und dient somit als Blutungsprophylaxe. Frühzeitiger Haut-zu-Haut-Kontakt führt zu einem schnelleren (ersten) Stillerfolg und optimalem kindlichen Saugen, wodurch die Zufütterung mit PreHa im klinischen Wochenbett reduziert wird.
Dr. Elizabeth Moore et al. betonen in einem Systematic Review unter Einbezug von 38 Studien, die Evidenz unterstütze die Anwendung von unmittelbarem oder frühen Haut-zu-Haut-Kontakt zur Förderung des Stillens, was vor allem in Hinblick auf die gesundheitsfördernden Aspekte des Stillens für Mutter und Kind bedeutsam ist. Gleichzeitig befürwortet die Evidenz den Haut-zu-Haut-Kontakt als gängige Praxis sowohl bei Reifgeborenen (inklusive der per Sectio geborenen Kinder) als auch bei Frühgeborenen ab der 35. Schwangerschaftswoche (vgl. Moore et al., 2016). Dem schloss sich im November 2022 auch die WHO in ihrer Empfehlung an, dass zur Versorgung Frühgeborener und Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 2500g der unmittelbare Haut-zu-Haut-Kontakt der initialen Versorgung im Inkubator vorzuziehen sei.
Selbstwirksamkeit fördern
Damit wird der Kraft des direkten postnatalen Mutter-Kind-Kontakts Rechnung getragen. Bleibt abzuwarten, inwiefern medizinisch (pathologisch) indizierte Handlungsstandards zugunsten der Selbstwirksamkeit der Verbundenheit von Mutter und Kind in den kommenden Jahren nicht nur hinterfragt werden, sondern tatsächlich ein Wandel in der Erstversorgung im Kreißsaal stattfinden wird.