Renate Mitterhuber: „Für den Trauerprozess ist es oft schwierig, sich zu sozialisieren. Das Umfeld ist sehr klein, in dem man darüber reden kann.“ Foto: Julia Grandegger
Katja Baumgarten: Sie betreuen Frauen nach einem späten Schwangerschaftsabbruch im Wochenbett zu Hause. Wie oft haben Sie das bislang erlebt?
Renate Mitterhuber: Ich betreue neben den Frauen mit gesunden Kindern auch Wöchnerinnen nach Schwangerschaftsabbrüchen aus embryopathischer Indikation – bislang etwa 40 Frauen, vielleicht auch mehr. In Österreich ist ein Schwangerschaftsabbruch aus embryopathischer Indikation juristisch möglich, wenn aufgrund der Pränatalen Diagnostik „eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde“. In Deutschland fällt dies unter die „medizinische Indikation“.
Diese speziellen Betreuungen haben sich von selbst ergeben, ohne dass ich aktiv geworden bin. Nachdem ich von meiner Ausbildung her Hebamme, Trauerbegleiterin und Psychotherapeuten bin, habe ich seit 1986 immer wieder auch Frauen nach Totgeburten betreut, um sie im Trauerprozess zu unterstützen – bislang etwa 30 Frauen nach Totgeburten und etwa 10 bis 15 Frauen nach Fehlgeburten. Irgendwann sind dann auch die Betreuungen der Frauen dazugekommen, die einen späten Schwangerschaftsabbruch hinter sich hatten, manchmal auch mit Fetozid. Diese Frauen verlassen meistens schnell die Klinik, weil sie hier in Wien in den Krankenhäusern auf der Geburtshilfestation untergebracht sind – sie werden im Kreißsaal betreut – und wollen dann sehr schnell heimgehen.
Katja Baumgarten: Seit wann betreuen Sie diese besonderen Wöchnerinnen?
Renate Mitterhuber: Seitdem es die Pränataldiagnostik mit den Konsequenzen dazu gibt. Die Betreuung nach Fetozid mache ich seit 2003. Ich wusste damals zwar, dass es den Fetozid gibt, hatte mir aber noch keine Gedanken gemacht, wie das genau vor sich geht und wie es von den Frauen beziehungsweise den Paaren erlebt wird.
Dann hatte ich plötzlich eine Frau zur Betreuung, die gerade einen Fetozid hinter sich hatte. Es war der bisher späteste Schwangerschaftsabbruch bei einer Frau, die ich betreut habe. Sie war in der 33. Woche schwanger. Ich erinnere mich noch genau, wie sie angerufen hat: „Ich hatte eine Geburt nach einem Fetozid und gehe jetzt nach Hause. Ich suche eine Hebamme, die mich betreut.“ Erst nach dem Telefonat und meiner Zusage habe ich realisiert, dass sie Fetozid gesagt hatte. Sofort habe ich in der Fachliteratur recherchiert und gelesen, was mich erwartet. Ich habe gleich gemerkt: Das ist noch einmal eine ganz andere Dimension. Ich hatte bis dahin öfter Frauen nach Totgeburten betreut. Ich sage immer Totgeburt, auch wenn das Kind noch sehr klein ist, denn es ist ja eine Geburt und keine „Fehl“-geburt. „Kann ich das überhaupt?“, habe ich mich gefragt.
Katja Baumgarten: Wie ging es dieser Wöchnerin?
Renate Mitterhuber: Als ich diese Frau besucht habe, ging es ihr psychisch sehr schlecht. Die Entscheidung zum Abbruch ihrer Schwangerschaft war aufgrund einer embryopathischen Indikation getroffen worden. Ihr Kind hatte einen angeborenen Herzfehler, der nicht mit dem Leben vereinbar war. Ich habe mir erzählen lassen, wie sich der Fetozid abgespielt hat: Durch einen Herzstich war das Kind vor der Geburt getötet worden – unter Ultraschallsicht – und sie hatte auch zugeschaut. Nur während die Spritze in das Herz ihres Kindes eingedrungen war, hatte sie nicht hingeschaut. Ihr Mann hatte sich auch das angeschaut.
Ihr war gesagt worden, die Geburt werde danach eingeleitet und dann käme das Kind. Was sie nicht wusste: Sie war drei Tage im Kreißzimmer mit einer Einleitung. Das hat nicht gleich funktioniert, es hat einfach gedauert und das war traumatisch für sie. Sie wusste vorher nicht, dass sie dann rundherum alle Geburten mitkriegt von den Kindern, die leben.
Ich habe sie gefragt: „Warum haben Sie Ihr Kind nicht ausgetragen? Wenn man weiß, das Kind hat einen Herzfehler, mit dem es nicht überleben kann, dann wird es sowieso versterben.“ Diese Alternative hatte nicht zur Debatte gestanden, sondern ihr war eher gesagt worden: „Sie werden doch jetzt nicht noch acht Wochen schwanger sein? Das hat doch keinen Sinn, das kann man beenden.“ Auch vom Pränataldiagnostiker ist ihr das so gesagt worden. Es war auch der Wunsch ihres Vaters und ihres Ehemannes, hat sie zu mir gesagt. Sie ist von den drei Männern bei der Entscheidung bestimmt worden. Sie sagte: „Ich bin gar nicht zum Denken gekommen – das war für die ganz klar.“
Katja Baumgarten: Wie konnten Sie dieser Frau helfen?
Renate Mitterhuber: Ich habe viel mit ihr gesprochen, weil ich das Gefühl hatte, dass sie emotional gar nicht nachvollzogen hatte, was passiert war. Der Schwangerschaftsabbruch war eine rationale Entscheidung der anderen gewesen und sie hatte zugestimmt. Als ich am dritten Tag bei ihr war, hat sie während sie erzählte, was sie erlebt hatte, eine Panikattacke bekommen – mit Atemnot, Luft anhalten und Schütteln. Ich fragte sie, ob sie so etwas schon einmal erlebt habe, und sie erwiderte, ja, das kenne sie von einer früheren psychischen Erkrankung. Wir haben dann ein Notfallprogramm entwickelt, was zu tun ist, wenn sie wieder Angstzustände bekommt.
Katja Baumgarten: War die seelische Verfassung der Frau bei der Entscheidung und der Behandlung berücksichtigt worden?
Renate Mitterhuber: Ich habe sie gefragt: „Wurden Sie nach Ihren früheren psychischen Problemen gefragt? Ist dahingehend eine Anamnese gemacht worden? War klar, dass die Panikattacken wieder auftauchen könnten, wenn Sie so ein dramatisches Erlebnis haben – was ein später Schwangerschaftsabbruch ja ist?“ Sie sagte: „Nein.“
Jetzt hätte ich gerne ihren Pränataldiagnostiker hier, habe ich gedacht, damit er sieht, wie es dieser Frau geht. Diese Entscheidung war wenig reflektiert worden, es gab nur ein One-way-Ticket. Das Kind hatte einen Herzfehler, mit dem es nicht hätte überleben können. Es schien selbstverständlich zu sein, dass man dann die Schwangerschaft abbricht – man braucht doch mit einem Kind, das ohnehin dem Tod geweiht ist, nicht mehr schwanger sein. Eine andere Möglichkeit war kein Thema gewesen.
Katja Baumgarten: Hatte die Frau die Entscheidung der anderen denn zweifelsfrei akzeptiert?
Renate Mitterhuber: Ich hatte den Eindruck, Zweifel sind für sie dann doch aufgetaucht – sicher auch durch diese drei Tage im Kreißsaal. Sie hatte angenommen, die Geburt leitet man ein, fünf Stunden später ist das Kind geboren und dann geht sie wieder nach Hause. Dass sie damit so lange zu tun haben würde, wusste sie nicht.
Das war meine erste Erfahrung mit einem Fetozid. Zugleich war es die dramatischste Geschichte, auch weil die Schwangerschaft schon so weit vorangeschritten war. Die Frau hatte in der 28. Woche von dem schweren Herzfehler ihres Kindes erfahren. Die Diagnose war in einem Pränataldiagnostikzentrum in Wien gestellt worden. Daraufhin war sie zu einem Pränataldiagnostikzentrum nach Linz überwiesen worden, dort sind die Herzspezialisten. Die Ärzte haben die Diagnose bestätigt und gleich angeboten, sie würden den Abbruch durchführen. Dann ist sie noch in ein anderes Pränataldiagnostikzentrum in Wien gegangen, wo die Diagnose ebenfalls bestätigt wurde. Schließlich ist der Fall vor eine Ethikkommission gebracht worden. Die Frau ist von der 28. bis zur 33. Schwangerschaftswoche gegangen, bis die Entscheidung getroffen worden ist. Sie und auch ihr Partner hatten das Gefühl, dass jedes dieser drei Häuser daran interessiert war, dass der Schwangerschaftsabbruch bei ihnen gemacht wird. Ihnen sei sehr großzügig in allen drei Kliniken angeboten worden, dass sie gleich dortbleiben könnten.
Katja Baumgarten: Wie haben die anderen Frauen den Fetozid erlebt?
Renate Mitterhuber: Die anderen Frauen, die ich nach einem Fetozid betreut habe, hatten kürzere Schwangerschaften gehabt. Manche Frauen haben gesagt, sie hätten bei dem Fetozid nicht hingeschaut. Eine Frau wusste, ihr Kind hatte drei Herzstiche gebraucht. Es war nicht gleich gestorben, es hatte ziemlich lange gedauert, bis ihr Kind nicht mehr gelebt hat. Sie hatte sich das ganz leicht vorgestellt – sie hatte gedacht, ein Stich und dann ist es vorbei. Das war aber nicht so.
Eine Frau hat mir erzählt, ihr Pränataldiagnostiker, eigentlich ein routinierter Spezialist, hatte während des Fetozids geweint. Das hat sie sehr berührt und ihr auch geholfen, das hat es ihr leichter gemacht. Er hat geweint und sie hat auch geweint. Ich war erstaunt, wie ist das möglich? Ich mache etwas, das mich sehr bewegt, entgegen meinem Herzen, und ich mache es dennoch? Ich habe bislang etwa zehn Frauen nach einem Fetozid im Wochenbett betreut. Sie waren in der 23. oder 24. Schwangerschaftswoche oder darüber. Bei jüngeren Schwangerschaften, wenn man davon ausgehen kann, dass das Kind ohnehin nicht überleben wird, findet ja kein Fetozid statt. Ich bitte die Frauen, wenn ich komme: „Erzählen Sie mir, was ist bisher alles geschehen, wann und von wem wurde diagnostiziert, wie sind Sie schwanger geworden, wie ist das alles abgelaufen?“ Ich lasse sie reden, um mir ein Bild zu machen.
Katja Baumgarten: Wie unterscheidet sich die Betreuung von Frauen nach einem späten Schwangerschaftsabbruch von der Betreuung nach einer schicksalhaften Totgeburt?
Renate Mitterhuber: Mir fällt ein Unterschied auf: Frauen, die selbst entscheiden, die Geburt einzuleiten und über die Geburt ihr Kind versterben zu lassen, weil es eine schwere Behinderung oder eine für sie oder für das Kind nicht lebensmögliche Einschränkung mitbringen würde, fragen mich, wenn sie mir ihre Erlebnisse erzählt haben: „Was hätten Sie gemacht?“ Da merke ich, es geht um die Schuldfrage. Sie bestätigen mir zwar in jedem zweiten Satz, sie würden es wieder tun. Trotzdem habe ich das Gefühl, da ist einerseits der Kopf und die rationale Entscheidung: „Ich will kein behindertes Kind“. Das argumentieren sie dann auch. Andererseits gibt es vielleicht auch noch eine andere unausgesprochene Seite …
Katja Baumgarten: Können Sie den Entscheidungen der Frauen immer innerlich folgen?
Renate Mitterhuber: Eine Frau hat mir einmal gesagt: „Wissen Sie, ich bin eine Perfektionistin und ich will ein perfektes Kind. Ein Kind mit Down-Syndrom kommt für mich nicht in Frage.“ Das konnte ich nicht nachvollziehen. Ich habe meine Zweifel, ob einem das Leben bei solch einem Anspruch nicht einmal einen Strich durch die Rechnung macht. Aber meist kann man nachempfinden, dass sich die Frauen in großer Not befinden, dass sie allein sind oder einen Partner haben, der sie nicht unterstützt. Oft hatten sie auch zu wenig Zeit, sich zu informieren: Was bedeutet diese Form der Behinderung genau, wie lebt es sich damit? Es sind meist sehr schnelle Entscheidungen, innerhalb von ein paar Tagen. Die Frauen kennen meine Einstellung zu dem Thema nicht. Ich habe das Gefühl, sie rechtfertigen sich. Ich sage immer: „Wissen Sie, für mich ist das alles in Ordnung. Ich bin da, um Sie zu begleiten.“ Das spüren sie ohnehin. Trotzdem gibt es diese unbewusste oder bewusste Schuld: „Ich habe das entschieden.“
Katja Baumgarten: Die Entscheidung zu treffen, ist die eine Seite – sie dann wirklich zu vollziehen noch ein ganz anderer Schritt …
Renate Mitterhuber: Bei einer Frau, die ich betreut habe, wurde der Schwangerschaftsabbruch medikamentös mit Mifegyne eingeleitet. Bei ihrem Kind war eine Spina bifida diagnostiziert worden. Eine Gynäkologin sei gekommen, erzählte sie mir, habe ihr die Tablette gegeben und gesagt: „Die nehmen Sie jetzt gleich. Ich bleibe hier so lange stehen, bis Sie sie eingenommen haben.“ Die Frau fühlte sich unter Druck gesetzt: Sie habe sich überrumpelt gefühlt. Das sei sehr dramatisch für sie gewesen, weil sie eigentlich das Gefühl gehabt habe, sie brauche noch Zeit. Klar, hatte sie entschieden, dass sie diesen Weg geht. Sie hat zu mir gesagt: „Ich war mir bewusst, mit dem Schlucken der Tablette bringe ich dieses Kind um. Dafür hätte ich einfach Zeit gebraucht.“ Ich habe mit der betreffenden Gynäkologin guten Kontakt und habe ihr damals Rückmeldung gegeben: „Warum machst du das so? Warum legst du die Tablette der Patientin nicht hin? Was könnte die Frau denn tun mit dieser Tablette? Wenn sie sie wegschmeißt, ist es auch eine Entscheidung.“ Der Ärztin war es gar nicht bewusst gewesen. Es gibt noch sehr viel Unbewusstes auch auf Seiten des Personals.
Katja Baumgarten: Trauern die Frauen nach einem späten Abbruch anders als Frauen nach einer Totgeburt?
Renate Mitterhuber: Oft erlebe ich einen großen Schmerz. Die Frauen weinen viel, wenn sie mir von ihrem Abbruch erzählen. Es ist ein Unterschied gegenüber den schicksalhaften Totgeburten, es ist nicht die leichtere Variante. Ich frage die Frauen: „Wer weiß noch davon?“ Bei den meisten ist es außer dem Partner niemand. Es ist die Ausnahme, dass eine Frau sagt: „Die Verwandtschaft und die KollegInnen am Arbeitsplatz wissen es auch, dass ich diese Entscheidung getroffen habe.“ Für den Trauerprozess ist es dann oft schwierig, sich zu sozialisieren. Das Umfeld ist dann sehr klein, in dem man darüber reden und auch traurig sein kann. Auch ein solcher Verlust braucht einen Trauerprozess.
Ich ermutige alle Paare, ihr Kind zu bestatten – zum Beispiel im Familiengrab oder in einem Gemeinschaftsgrab. All die Trauerrituale, die ich auch bei Kindern empfehle und unterstütze, die sich in der Schwangerschaft von selbst verabschiedet haben, können auch nach einem Abbruch wichtig sein.
Auch als Hebammenlehrerin habe ich versucht, in der Ausbildung zu vermitteln, wie wichtig es ist, diesen Trauerprozess schon bei der Betreuung der vorzeitig eingeleiteten Geburt zu unterstützen: Die Frauen sollten ihre verstorbenen Kinder sehen und sich verabschieden können. Die Kinder sollten möglichst lange bei ihnen bleiben können, sie sollten ein Bild haben und einen Fußabdruck. Darauf wird heute wirklich gut geachtet. In den Pränataldiagnostikzentren gibt es auch eine große Achtsamkeit von Seiten der Hebammen. Die Gynäkologen gehen teilweise noch nicht so gut damit um: Sie sind entweder abwesend oder halten es schlecht aus, wenn das Baby nach der Geburt noch einige Stunden bei den Eltern bleibt und sie ihr Baby berühren, anfassen und genau anschauen und bei sich haben, so lange sie es wollen.
Katja Baumgarten: Wo werden die Kinder normalerweise bestattet?
Renate Mitterhuber: Es gibt in Wien die Möglichkeit, die Kinder in einem gemeinschaftlichen Grab mit anderen zusammen in einem Sarg zu bestatten. Es kostet nichts und die Familien können dabei sein. Diese Beisetzungen finden alle paar Monate statt. Manche Eltern haben ein eigenes Grab. Ich motiviere sie, ein eigenes Begräbnis für ihr Kind zu gestalten. Meistens findet es ungefähr zwei bis vier Wochen nach der Geburt statt. Ich bereite die Eltern auf die Bestattung vor, auf die Rituale, die man im Vorfeld machen kann. Auch darauf, wie die Geschwisterkinder mit einbezogen und auf das Begräbnis vorbereitet werden können.
Katja Baumgarten: Wie geht es den Frauen längerfristig?
Renate Mitterhuber: Ich betreue die Frauen meistens so lange, bis das Begräbnis stattgefunden hat. Danach komme ich noch einmal, um zu sehen, wie es ihnen geht. Ich empfehle ihnen, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, um das Erlebnis zu verarbeiten. Ein halbes Jahr später rufe ich noch einmal an. Den meisten Frauen geht es dann noch nicht gut.
Manche versuchen, gleich wieder schwanger zu werden, um das Erlebte zu verdrängen. Bei einer Frau beispielsweise hatte ich diesen Eindruck. Ihr Mann weinte immer, wenn ich dort war, sie niemals. Sie war sehr hart zu sich selbst. Dieser Frau hatte ich Psychotherapie empfohlen. Mir schien, sie lässt gar nichts in sich hinein. Nach einem halben Jahr habe ich sie getroffen: Da war sie schon wieder schwanger. Als ich fragte, wie es ihr geht, erzählte sie mir, dass sie in der Nacht wach wird, weil sie von dem Kind träumt, das sie beim Abbruch verloren hatte. Wie sie dann aufspringt und mit dem Kopf an die Wand schlägt, bis die Stirn blutig ist. Sie war auch verletzt, als ich sie sah. Ich habe zu ihr gesagt: „Ein Schwangerschaftsabbruch mit einem Fetozid ist sehr traumatisch. Das macht etwas in der Seele, dann kann es zu solchen Panikattacken kommen. Jetzt sind Sie schwanger und noch sensibler dafür. Bitte gehen Sie in Psychotherapie. Das andere Kind sollte erst einmal verabschiedet werden mit allem, was dazugehört, bevor das neue Kind kommt.“ Ich weiß nicht, ob sie meinen Rat angenommen hat. Ich habe ihr – wie schon nach der Geburt – wieder eine Telefonnummer gegeben, wo sie psychotherapeutische Hilfe bekommen kann.
Katja Baumgarten: Wie wichtig ist professionelle Trauerbegleitung?
Renate Mitterhuber: Die Trauer ist ein Prozess, auf den man sich einlassen kann oder auch nicht. Ich empfehle allen Frauen Psychotherapie und erkläre ihnen, wie wichtig es ist, für die psychische und körperliche Gesundheit in dieser schweren Zeit therapeutische Begleitung zu haben. Der Verstand verarbeitet schnell, aber die Seele braucht viel Zeit, sie braucht Seelenhygiene: das viele darüber Reden und Weinen und auch Niederschreiben – alles, was auch sonst bei Trauerprozessen hilfreich ist.
Ich komme zu den Frauen nach Hause: Der Hebammenteil ist, über die Schwangerschaft und die Geburt zu reden, wie alles verlaufen ist, und sie bei den guten Erinnerungen an die Schwangerschaft und Geburt zu stärken. Ich schaue mir die Brust, die Rückbildung und Wundheilung an, berate und informiere und empfehle den Frauen Schonung, weil ja auch Zeit für die körperliche Heilung nötig ist. Alles andere ist Trauerbegleitung, dass die Frauen darüber reden können, dass ich sie unterstütze, diesen Weg zu gehen, indem ich Dinge anspreche, die ihnen vielleicht gar nicht so bewusst sind.
Viele haben die Möglichkeit, in der Klinik, wo sie ihr Kind geboren haben, Gespräche mit Psychologinnen in Anspruch zu nehmen: ein beratendes Gespräch vor der Geburt und ein weiteres Gespräch sechs Wochen nach der Geburt. Dieses Angebot nehmen manche Frauen an. Andere sagen: „Nein, ich möchte nicht wieder zurück an diesen Ort.“
Es ist ein Tabu, über den Abbruch zu sprechen – beispielsweise auch in Erfahrungsaustausch mit anderen betroffenen Eltern zu gehen. Mann und Frau sind auch dadurch alleine, weil es nur wenige Menschen gibt, die die Entscheidung und den Schwangerschaftsabbruch begleitet haben – Verbündete. Ich besuche die Frauen im Wochenbett, aber ich betreue die Geburt der Frau nicht. Ich erlebe oft, dass die Frauen sehr gerne mit der Hebamme, die bei der Geburt dabei war, reden oder in Kontakt bleiben würden. Sie ist eine der wenigen Menschen, die ihr Kind gesehen und die diesen Prozess begleitet hat. Aber diese Kolleginnen machen keine Nachbetreuung bei diesen Frauen. Warum, weiß ich nicht.
Ich erinnere mich an eine Frau, die immer wieder gesagt hat, dass sie mit der Hebamme, die bei der Geburt dabei war, so zufrieden war und sie gerne noch einmal wiedersehen möchte. Meine Kollegin hatte davor große Angst. Ich sagte ihr: „Da wird nichts Schlimmes kommen, ich bin dabei. Es würde der Frau für ihren Heilungsprozess helfen.“ Sie ist dann mitgefahren. Es war sehr rührend, sie haben beide geweint, das war wirklich sehr gut. Ich habe versucht, sie zu motivieren, diese Frauen selbst im Wochenbett zu betreuen.
Katja Baumgarten: Ist es in Wien prinzipiell nicht vorgesehen, dass die Klinikhebammen auch ambulante Wochenbettbetreuung anbieten?
Renate Mitterhuber: Doch, das könnten sie tun. Aber sie machen es nicht, weil es eine belastende Arbeit ist. Das ist schon bei den Totgeburten so und bei Abbrüchen erst recht. Ich habe diese Hebammenkollegin später einmal gefragt, ob sie noch öfter Frauen im Wochenbett betreut hat und sie sagte: „Nein, das habe ich nur einmal gemacht und auch nur, weil du mit dabei warst. Alleine würde ich mir das nicht zutrauen.“ Da gibt es eine große Angst und Unsicherheit. Von vielen Hebammenkolleginnen weiß ich, sie machen diese Betreuungen generell nicht. Es hat noch einmal eine andere Qualität als bei Totgeburten. Bei Totgeburten ist der Schmerz einfach präsent. Es wird geweint, geflucht, gestöhnt und gejammert und dann auch wieder gelacht. Der normale Trauerprozess.
Bei diesen Frauen ist es sehr viel schwieriger. Sie fangen an zu weinen und dann kommt ein „aber“. Es wird immer gleich wieder auf der rationalen Ebene erklärt. Das Weinen, der Schmerz, das darf nicht sein, denn „ich hab es ja selbst entschieden“. Das ist bei Frauen nach Totgeburten nicht so. Da hat sich etwas schicksalhaft vollzogen, die Schmerzen gehören dazu. Da musst du durchgehen. Die Frauen nach Fetozid ermutige ich: „Bleiben Sie einmal bei diesem Gefühl. Sie haben eine Entscheidung treffen müssen, die man als Mensch schwer treffen kann. Das geht natürlich ins Herz.“