Meine große Tochter nennt mich »Mama«, meine kleine Tochter hat außer mir zwei weitere Mütter. Wenn ich von meiner Familie erzähle, muss ich viel erklären. Wir sorgen für Irritationen. Viele haben noch immer das Bild einer Mama-Papa-Kind-Kleinfamilie im Kopf. Oder genauer: Das Bild eines heterosexuellen Ehepaars mit ein bis drei eigenen leiblichen Kindern. Die Realität ist aber schon längst vielfältiger.
Das bürgerliche Ideal
Es ist noch nicht so lange her, da war der Druck um einiges größer, einem einzigen Familienbild zu entsprechen. Vor nicht einmal 50 Jahren war fast ausschließlich die heterosexuelle Mama-Papa-Kind-Kleinfamilie denkbar. Dazu gehörte dann auch noch eine eindeutige Aufgabenteilung zwischen den Eltern anhand ihres Geschlechts. Abweichungen waren nicht akzeptiert und wurden von der Gesellschaft sanktioniert. Wer unverheirateten Paaren das Zusammenleben ermöglichte, konnte wegen »Kuppelei« bestraft werden. Paare heirateten oftmals nicht aus Liebe, sondern weil ein Kind unterwegs war. Menschen blieben teilweise ein Leben lang in einer unglücklichen und oft auch gewaltvollen Ehe, weil eine Trennung das soziale Aus und ein Leben in Armut bedeutet hätte. Homosexualität war unter Strafe gestellt.
All das erscheint aus heutiger Sicht weit weg. Es macht aber auch deutlich, dass es eine »gute alte Zeit« eigentlich nie gegeben hat, in der familiäres Zusammenleben, wie von manchen behauptet, noch in Ordnung war.
Dabei konnte sich das bürgerliche Mama-Papa-Kind-Kleinfamilienideal überhaupt nur durch diesen großen Konformitätsdruck flächendeckend durchsetzen. Es handelt sich keineswegs um eine natürliche oder traditionelle Familienkonstellation, denn diese Vorstellung des familiären Zusammenlebens war erst mit dem Bürgertum und der Industrialisierung kaum 200 Jahre zuvor entstanden. Zwar stellt man sich Familien im Mittelalter, in der Antike oder gar in der Steinzeit oft genau anhand dieses bürgerlichen Familienbildes vor. Mit der tatsächlichen Realität in den jeweiligen Zeiten hat das jedoch recht wenig zu tun. Eine einheitliche und über einen längeren Zeitraum andauernde konstante Vorstellung von familiärem Zusammenleben hat es auf der Welt nie gegeben.
Familie im Wandel
Trotz großer Liberalisierungstendenzen in den letzten Jahrzehnten sind die Auswirkungen des gewaltvollen Drucks, Menschen eine Vorstellung von Familie aufzuzwingen, noch immer spürbar. Elisabeth, die alleine mit ihrer sechsjährigen Tochter in Berlin lebt, muss sich auch im Jahr 2017 noch bei jedem Besuch zu Hause von ihrer Mutter anhören: »Na, dann nimm doch wenigstens irgendwen.« So als ginge es im Leben nicht darum, glücklich zu sein, sondern vor allem darum, möglichst schnell immer wieder das Mama-Papa-Kind-Ideal herzustellen und den vermeintlichen Makel des Alleinerziehens zu beseitigen.
Martin sagt, er möchte nie eine eigene Familie gründen, weil er Familie in seinem Leben nur mit großem Konformitätsdruck erlebt habe. Mit seiner Homosexualität sei er in seiner eigenen Familie nie akzeptiert worden. Er habe erst viele hundert Kilometer wegziehen und den Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie abbrechen müssen, um so leben zu können, wie es für ihn passt.
Familie war schon immer im Wandel. Auch vor 50 Jahren gab es unterschiedliche Konstellationen, jedoch vielfach abseits öffentlicher Wahrnehmung und mit der ständigen Angst, entdeckt und abgewertet zu werden. Es ist ein großes Glück, dass der Druck seit einiger Zeit spürbar abnimmt. Dadurch haben Menschen mehr Möglichkeiten, das zu finden, was sie wirklich glücklich macht. Und immer mehr nutzen heute diese Möglichkeiten.
Immer mehr Ein-Eltern-Familien
Die Alleinerziehenden haben es als erste Gruppe in eine breitere öffentliche Wahrnehmung geschafft. Aufgrund ihrer schieren Menge sind sie mittlerweile nicht mehr zu übersehen. Jede fünfte Familie in Deutschland ist eine Ein-Eltern-Familie. In der überwiegenden Mehrzahl lebt eine Mutter alleine mit ihren Kindern. In nur etwas mehr als einem Zehntel der Ein-Eltern-Familien lebt ein Vater alleine mit minderjährigen Kindern. Die konkreten Lebensrealitäten unterscheiden sich innerhalb der großen Gruppe teilweise stark voneinander. Beispielsweise kann die Rolle des anderen Elternteils sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Das andere Elternteil kann eine große Rolle im Leben der Kinder spielen und diese eventuell sogar hälftig mitbetreuen oder gänzlich aus dem Leben der Kinder verschwunden sein.
Eine spannende Entwicklung innerhalb der Gruppe der Ein-Eltern-Familien ist, dass sich Frauen auch von vorneherein bewusst dafür entscheiden, alleine ein Kind zu bekommen. Es gibt immer mehr Singles: In Deutschland sind es mittlerweile 40 % aller Haushalte. Daher ist es keine gewagte Prognose, dass die Zahl der Menschen in Zukunft wachsen wird, die sich auch alleine dafür entscheiden, eine Familie zu gründen. »Meine Tochter ist ein echtes Wunschkind«, sagt Natalie, die sich ihren Kinderwunsch über eine Samenspende aus dem Freundeskreis erfüllt hat. Und sie fügt hinzu, dass sie sich freue, mit niemandem diskutieren zu müssen, wenn es um ihre Tochter geht.
Spannend ist diese Entwicklung auch deshalb, weil sie den Blick auf Ein-Eltern-Familien verändert: Bisher werden diese Familien noch immer meistens als defizitär betrachtet. Aber die Entscheidung für diese Familienkonstellation zeigt, dass Ein-Eltern-Familien nicht immer Resultat eines Scheiterns sein müssen.
Wenn es möglich ist, Lösungen für die spezifischen Probleme von Alleinerziehenden zu finden, wie beispielsweise das erhöhte Armutsrisiko, und es darüber hinaus gelingt, weitere Bezugspersonen wie Mitbewohnerinnen, Freunde oder Großeltern für ein Kind verbindlich einzubinden, spricht vieles für diese Familienkonstellation. Dann kann eine Ein-Eltern-Familie für manche nicht nur Notlösung, sondern vielleicht genau die richtige Entscheidung sein.
Patchwork und Regenbogen
Weit verbreitet sind auch Patchworkfamilien, in denen Kinder zusammenleben, die nicht alle dieselben Eltern haben. Kam es früher eher aufgrund einer geringeren Lebenserwartung und verwitweten Elternteilen zu Patchworkfamilien, bringen heute getrennte Mütter und Väter ihre Kinder aus früheren Partnerschaften in neue Beziehungen ein. Manchmal entstehen in der neuen Partnerschaft dann weitere Kinder. Die Beziehungsdynamiken zwischen altem und neuem Partner oder der unterschiedliche Umgang mit leiblichen Kindern und hinzugekommenen Patchwork-Kindern stellen diese Familien manchmal vor Herausforderungen.
Die Liberalisierung von Familienkonstellationen zeigt sich deutlich am Beispiel der Regenbogenfamilien. Als Regenbogenfamilien werden üblicherweise Familien bezeichnet, in denen sich mindestens ein gleichgeschlechtliches Paar zusammen um Kinder kümmert. Dabei gibt es kein Standardmodell. In vielen Familien sind zusätzliche Personen beteiligt, manchmal nur als Samenspender, in anderen Fällen als dritter Elternteil. Manchmal tut sich ein lesbisches Paar mit einem schwulen Paar zusammen. Einige schwule Paare entscheiden sich für die Aufnahme eines Pflegekindes, weil es für sie kaum andere Optionen zur Familiengründung gibt. Wieder andere Regenbogenfamilien bestehen aus zwei alleinstehenden Singles, manche aus nur einer alleinstehen Person, beispielsweise einer lesbischen Frau, die sich alleine für ein Kind entscheidet.
Prekäre Lage
Oftmals zur Gruppe der Regenbogenfamilien hinzu gezählt, aber doch eine eigene Erwähnung wert, sind Trans-Eltern. Als Trans werden Personen bezeichnet, deren Geschlecht nicht mit dem übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Männer gebären Kinder, Frauen sind mit ihren Samenzellen an der Zeugung eines Kindes beteiligt.
Die Lage dieser Familien ist teilweise besonders prekär. Gewalt gegen Trans-Personen ist ein großes gesellschaftliches Problem und auch auf rechtlicher Ebene gibt es einige Diskriminierungen. Bei vielen dieser Familien scheitern die Behörden bereits bei der Ausstellung einer Geburtsurkunde für ein Kind. Ein gebärender Vater ist bisher rechtlich nicht vorgesehen.
Mit ein paar einzelnen Gesetzesänderungen ist es hier nicht getan. Vielmehr stellen Trans-Personen und Trans-Eltern auf vielen Ebenen in Frage, was rechtlich und auch gesellschaftlich unter den Begriffen »Mutter« oder »Vater« zu verstehen ist.
Und schließlich gibt es Co-Eltern-Familien. Das sind Familien, in denen die Eltern eines oder mehrerer Kinder keine Liebesbeziehung miteinander führen. Doch die bisher genannten sind nur grobe Kategorien, die eine Realität in keinem Fall adäquat wiedergeben. Dass sich Familien innerhalb dieser Kategorien teilweise deutlich unterscheiden, ist am Beispiel der Ein-Eltern-Familien bereits zu sehen. Doch auch zwischen den Kategorien kann es große Überschneidungen geben.
Freie Entscheidungen
Wenn man so will, erfüllt meine Familie die Kriterien fast aller bisher genannten Modelle: Meine große Tochter lebt seit ihrer Geburt überwiegend bei mir. Mit ihrer Mutter habe ich nie zusammen gewohnt. Meine Tochter nennt mich deshalb »Mama«, so wie alle ihre Freundinnen und Freunde ebenfalls diejenigen Personen bezeichnen, die sie meistens aus dem Kindergarten abholen, trösten und ins Bett bringen.
Ihre Schwester, meine zweite Tochter, hat andere Mütter. Ich habe mich dazu entschlossen, ein Kind mit einer Freundin zu bekommen, die nicht meine Partnerin ist, die jedoch ihrerseits in einer Beziehung mit einer anderen Frau lebt. Zusammen verstehen wir uns mittlerweile als drei gleichberechtigte Elternteile.
Aktuell leben meine beiden Töchter jeweils zur Hälfte bei mir und zur Hälfte bei ihren jeweiligen Müttern. Meine Familie enthält somit Aspekte einer Ein-Eltern-Familie, einer Patchworkfamilie, einer Regenbogenfamilie sowie einer Co-Eltern-Familie.
Es geht mir nicht darum, die Mama-Papa-Kind-Kleinfamilie abzuschaffen, wie mir hin und wieder vorgeworfen wird und wie ich immer wieder klarstellen muss. Es geht vielmehr darum, Diskriminierungen zu beseitigen für diejenigen, die den gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen. Es geht darum, den normativen Druck zu verringern. Und um den Druck zu verringern, muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass es nicht nur ein einziges Familienmodell gibt. Es gibt viele Möglichkeiten. Und jede Person hat das Recht, für sich selbst zu wählen, was passt.
Spezielle Bedürfnisse
»Egal ob lesbisch, schwul oder trans, ihr erwartet ein Baby und sucht einen Geburtsvorbereitungskurs, in dem ihr euch nicht mehr erklären müsst? Dann seid ihr genau richtig bei uns«, schreibt das Berliner Regenbogenfamilienzentrum zur Ankündigung eines Geburtsvorbereitungskurses (siehe Kasten). Dort haben auch die Mütter meiner kleinen Tochter teilgenommen. In einer Situation vor der Geburt eines Kindes, in der vieles neu und ungewohnt ist, ist es manchmal wichtig, sich mit Menschen austauschen zu können, die in ähnlichen Konstellationen leben und deshalb vor ähnlichen Fragen und Problemen stehen. Und gleichzeitig kann es erleichternd sein, die eigene Familie nicht immer wieder mühsam erklären zu müssen.
Der Verband für alleinerziehende Mütter und Väter bietet eigene Geburtsvorbereitungskurse für »Single-Schwangere« an. Alle Familien gleich zu behandeln und aufgrund der Konstellation, in der sie leben, keine grundsätzlichen Unterschiede zu machen, bedeutet nicht, dass bestimmte Familien nicht trotzdem auch spezielle Bedürfnisse haben können. Genauso wie sich werdende Regenbogenfamilien nicht in jeder Situation immer wieder erklären wollen, möchten sich werdende Single-Eltern vielleicht in einem Geburtsvorbereitungskurs nicht mehrfach anhören müssen, wie schön es sei, wenn der Partner während der Geburt die Hand hält und danach das erste Wickeln übernimmt.
Josefine, die als Hebamme schon viele Regenbogenfamilien begleitet hat und selbst gerade mit ihrer Partnerin eine Familie gründet, berichtet von vielen speziellen Fragen der von ihr betreuten Familien. Dabei geht es um die Einbindung der zweiten Mutter und wie diese eine Bindung zum Kind aufbauen kann oder um das Verhältnis zum Samenspender. Es geht um eine eventuell bevorstehende Stiefkindadoption durch die zweite Mutter, die sich teilweise sehr kräftezehrend und langwierig gestalten kann.
Wenn mehr als zwei Personen beteiligt sind, geht es um die spezifischen Aushandlungsprozesse und die Ängste, ob alle Beteiligten bei ihren ursprünglich gemeinsam festgelegten Positionen bleiben. Und wie in allen anderen Familien geht es darum, trotz aller Fragen und Unsicherheiten entspannt zu bleiben und sich gemeinsam zu freuen auf das, was kommt.
Selbstbewusst und offen
Familien sind vielfältig. Letztlich gibt es so viele Konstellationen wie es Familien gibt. Alle, die mit Familien arbeiten, sind dazu aufgerufen, nicht mit vorgefertigten Schablonen auf die Menschen zu schauen, sondern mit großer Offenheit für die jeweils individuellen Geschichten, Hintergründe, Bedürfnisse und Pläne.
Und was sagen die Kinder dazu? »Bei allen Familien war das höchste Gebot, den Kindern vom Wickeltisch an zu erzählen, wo sie herkommen und wie ihre Geschichte ist«, berichtet Josefine von ihren Erfahrungen mit Regenbogenfamilien. Wenn die Eltern selbstbewusst mit der eigenen Familie umgehen, dann sind die unterschiedlichen Konstellationen und individuellen Besonderheiten für die Kinder meist das geringste Problem.
Verunsichert und orientierungslos sind lediglich diejenigen, die jahrelang dachten, es gäbe nur ein mögliches oder nur ein gewünschtes Familienmodell und die dann beispielsweise im Fall einer Trennung der Eltern plötzlich feststellen müssen, dass ihre eigene Familie diesem Bild nicht mehr entsprechen kann.
Meinen Kindern hingegen kann niemand erzählen, dass es nicht möglich oder nicht normal sei, zwei Mütter zu haben. Sie wissen es besser. Es ist ihr selbstverständlicher Alltag. Als ein anderes Kind meiner Tochter auf dem Spielplatz erzählt, dass seine Eltern noch zusammenleben, freut sie sich mit ihm und entgegnet dann stolz: »Dafür gibt es in meiner Familie mehr Mütter als in deiner.«