»Bei dem durch Hebammen und Trageschulen sicherzustellenden richtigen Gebrauch bestehen gegen Tragehilfen keine medizinischen Bedenken.« Foto: © imagebroker/imago-images

Wird ein Säugling getragen, ist das heutzutage die Gelegenheit, ihn aus der Horizontale in eine aufrechte Lage zu bringen. Das hat viele Vorteile: für den Kopf, die Hüfte, die neurologische Entwicklung und auch für eine sichere Bindung. Ein Überblick über die Chancen und Möglichkeiten des frühen Daseins als »Tragling«. 

Die evolutionäre Verhaltensforschung klassifiziert Menschenkinder als »Traglinge«. Dass Kinder viel getragen wurden, ergibt sich auch aus der ursprünglichen nomadischen Lebensweise, die über 99 % der menschlichen Stammesgeschichte geprägt hat. Tatsächlich ist der Säugling von seiner anatomischen Ausstattung her auf den Hüftsitz »vorbereitet« – noch heute ziehen Säuglinge unwillkürlich die Beinchen an, wenn sie hochgehoben werden, und bereiten so aktiv das Anhocken der Beinchen im Hüftsitz vor. Bis heute werden Säuglinge in der überwiegenden Mehrzahl der Kulturen von Erwachsenen oder älteren Kindern getragen. Beim Tragekonzept handelt es sich damit nicht um eine moderne Erfindung, sondern um ein in der menschlichen Stammesgeschichte verwurzeltes Verhalten (Hassenstein, 2007).

Lagerungsbedingter Schiefkopf

Bis zu 22 % der Säuglinge weisen eine lagerungsbedingte Plagiocephalie auf, also eine durch das Liegen auf dem Hinterkopf bedingte Abplattung des Schädels. Sie entsteht dadurch, dass der weiche Schädel des Säuglings länger und einseitiger von der Schwerkraft belastet wird als evolutionär vorgesehen (Renz-Polster & de Bock, 2018). Die Plagiocephalie wird deshalb vor allem bei Säuglingen beobachtet, die nicht gestillt werden und im Einzelbett schlafen. Denn beim Stillen sowie beim co-regulierten Schlaf im Elternbett wird das Köpfchen häufiger umpositioniert (de Bock et al., 2017). Zudem wird die Horizontallage in unserem Kulturraum nicht nur im Schlaf, sondern häufig auch bei der Gesicht-zu-Gesicht-Kommunikation in den Wachphasen und insbesondere beim Säuglingstransport in Kinderwagen oder Babyschale eingenommen (van Vlimmeren et al., 2007). Der Schiefkopf hat durch die heute zur Vorbeugung des Plötzlichen Kindstods empfohlene Rückenlagerung in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen (Argenta et al., 1996).

Die lagerungsbedingte Plagiocephalie beschäftigt den Kinderarzt deshalb, weil die schwereren Formen sich im Erscheinungsbild mit anderen Störungen des Schädelwachstums überlappen – insbesondere mit den durch einen vorzeitigen Verschluss der Schädelnähte bedingten Craniosynostosen. Für die sichere Abgrenzung ist bisweilen eine aufwendige fachärztliche und radiologische Diagnostik erforderlich.

Schwerere Formen der lagerungsbedingten Plagiocephalie sind nicht nur kosmetisch störend. Sie gehen nicht selten auch mit einer Fehlhaltung des Kopfes einher, die ihrerseits die sensomotorische Entwicklung des Kindes beeinträchtigen kann (de Chalain & Park, 2005). Die Abplattung des Säuglingskopfes wird deshalb heute vielfach durch Physiotherapie, spezielle Lagerungs­hilfen sowie Kopforthesen (»Helme«) behandelt, wobei letztere Therapieformen umstritten sind (van Wijk et al., 2014).

Als vorbeugende Maßnahmen gegen die Abplattung wird der häufigere Lagewechsel beim Schlafen sowie die Positionierung auf dem Bauch in den Wachphasen empfohlen (Bialocerkowski et al., 2008).

Dem automatisch mit einer geringen Schwerkraftbelastung des Schädels verbundenen Tragen kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zur Prävention zu. In der Tat stellt das Tragen des Säuglings eine der wenigen Gelegenheiten dar, in der ein Säugling heute seine Horizontalposition verlassen kann. Dieser präventiven Rolle tragen inzwischen auch internationale Richtlinien Rechnung, wie etwa die vom australischen Wissenschaftsrat herausgegebenen Empfehlungen (NSAG, 2009).

Frühe Säuglingsunruhe

Schon seit längerem ist durch wissenschaftliche Beobachtungen gut dokumentiert, dass eine verlässliche Antwort auf das Weinen eines Säuglings die Schreifrequenz insgesamt vermindert (Bell & Ainsworth, 1972). Da beim Tragen eine niederschwellige Kommunikation zwischen Mutter und Kind möglich ist, vermuteten Forscher:innen schon länger, dass getragene Babys insgesamt weniger schreien. Die beiden Forscher Urs A. Hunziker und Ronald G. Barr von der Universität von British Columbia, Kanada, untersuchten 1986 diese Hypothese bei Säuglingen in den ersten drei Lebensmonaten in einem Trage-Experiment.

Tatsächlich weinten die Säuglinge der zu regelmäßigem Tragen angehaltenen Mütter über den Tag verteilt um 43 % weniger als die Säuglinge der Kontrollgruppe (Hunziker & Barr, 1986). Es ist anzunehmen, dass eine geringere Schreifrequenz auch positive Auswirkungen für die Eltern hat. So ist bekannt, dass Eltern, die ihre Säuglinge nicht effektiv trösten können, ein geringeres Vertrauen in die eigene elterliche Kompetenz haben (Meijer & van den Wittenboer, 2007). Dass getragene Babys insgesamt weniger Unruhe zeigen, zeigen inzwischen auch Interventionsstudien an frühgeborenen Säuglingen (Anderson, 1991).

Intuitive Elternkommunikation

Mit dem Tragen ist eine unmittelbare, multisensorische Wahrnehmung der kindlichen Signale verbunden: Die Mutter hört nicht nur aus der Distanz, wie es ihrem Kind geht, sondern nimmt dessen emotionalen Zustand ganzheitlich wahr, etwa über dessen Bewegungen und niederschwellige Lautäußerungen. So wird Unruhe frühzeitiger erkannt, und die Kommunikation zwischen Mutter und Kind läuft effektiver ab.

Tatsächlich konnten die Bindungsforscherin Elisabeth Anisfeld und ihr Team in einem klassischen Experiment nachweisen, dass Tragen die elterliche Feinfühligkeit fördert und dies positive Auswirkungen auf die Bindungssicherheit der Mutter-Kind-Dyade hat (Anisfeld et al., 1990):

Die Forscher:innen untersuchten zwei Gruppen von sozial belasteten Müttern und deren Säuglinge ab der Geburt. Die eine Gruppe erhielt gängige Kindersitze, die andere Tragesäcke, die sie täglich verwenden sollten. Das ganze erste Lebensjahr über wurden die Kinder regelmäßig untersucht und auch die Mutter-Kind-Interaktionen beobachtet. Dabei zeigte sich, dass die Mütter, die ihre Säuglinge trugen, schon nach wenigen Monaten sensibler mit ihren Kindern umgingen. Nach einem Jahr wurde bei 83 % der »Tragekinder« eine sichere Bindung zur Mutter festgestellt – unter den Nicht-Getragenen wiesen nur 38 % eine sichere Bindung auf. Dass auch das Stillen bei »getragenen« Babys besser klappt, zeigt eine Studie aus Italien (Pisacane et al., 2012).

Die Rolle des Tragens bei der Förderung von Feinfühligkeit scheint heute immer wichtiger zu werden. Immer weniger Mütter können nämlich nach der Geburt des eigenen Kindes auf Vorerfahrungen im Umgang mit Babys zurückgreifen. Sie haben es damit beim Aufbau der intuitiven Kommunikation mit ihrem Säugling schwerer. Die mit dem Tragen verbundene Nähe scheint eine geeignete Lernplattform zu bieten, um diesen emotionalen Kaltstart zu erleichtern.

Sensomotorische Förderung

Tragen ist mit einer multisensorischen Stimulation verbunden: Das Kind nimmt seine Mutter über mehrere Sinneskanäle wahr – über die Ohren, die Augen, den Geruch sowie über Berührungs- beziehungsweise Bewegungsreize. Außerdem ist das Getragenwerden keine passive Erfahrung für den Säugling, sondern regt auch seine motorische Reaktionen an, da schon der Säugling seine bevorzugte Position durch Ausgleichsbewegungen unterstützt.

Die Regulierung des Wach-Schlaf-Rhythmus ist dabei eigengesteuert: Je nach Bedarf kann sich das Kind den Umweltreizen im Tragetuch entziehen oder zuwenden.

Vieles spricht damit dafür, dass das Getragenwerden Säuglingen eine bedürfnis- und entwicklungsgerechte Umwelt bietet, in der sie automatisch und kontinuierlich eine motorische und sensorische Förderung erfahren. So wird die Tatsache, dass in kleinräumigen traditionellen Kulturen Asiens und Afrikas aufwachsende Säuglinge die motorischen Meilensteine rascher durchlaufen als nach dem westlichen Pflegemodell aufwachsenden Kinder, auch auf das dort weit verbreitete Tragen zurückgeführt (Super, 1976).

Medizinische Bedenken?

Bei dem durch Hebammen und Trageschulen sicherzustellenden richtigen »Gebrauch« bestehen gegen das Tragen und die Verwendung von Tragehilfen keine medizinischen Bedenken. Eine Studie der Atem- und Kreislaufregulation bei in einem Tragetuch getragenen Säuglingen ergab keine Auffälligkeiten (Stening et al., 2002). Auch aus kinderorthopädischer Sicht stellt das Getragenwerden keinen Nachteil dar, im Gegenteil: Nach den vorliegenden Studien ist bei den getragenen Kindern mit einem geringeren Risiko für eine Hüftdysplasie zu rechnen (Hoaglund et al., 1981).

Fazit

Eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen weist darauf hin, dass das Tragen die Entwicklung des Kindes fördern und die Eltern-Kind-Kommunikation unterstützen kann. Für diejenigen Eltern, die ihre Kinder tragen wollen, sollten deshalb qualifizierte Angebote bestehen, mit Hilfe derer das Tragen erlernt und im Alltag umgesetzt werden kann.


Hinweis:

Hinweis und Dank

Dieser Beitrag beruht auf dem Buch des Autors »Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt«. Es beschreibt die Entwicklung der Kinder aus dem Blickwinkel der evolutionären Verhaltensforschung. Der Artikel wurde für die Zwecke der DHZ redaktionell überarbeitet. Wir danken Dr. Herbert Renz-Polster für die freundliche Abdruckgenehmigung und Aktualisierung.


Zitiervorlage
Renz-Polster, H. (2023). Tragen aus kinderärztlicher Sicht: Sicher gebunden. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (9), 81–85
Literatur
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