Die Entwicklungshelferin Stella Deetjen (Mitte) im Kreise nepalesischer Frauen und Kinder: In den neuen Geburtshäusern verstarben bis heute weder Mütter noch Neugeborene. Fotos: © Back to Life

Während wir in Mitteleuropa Geburtsprobleme der gehobenen Art diskutieren, müssen viele Frauen in Westnepal ihre Kinder im Kuhstall gebären, weil Blut im eigenen Haus die Götter erzürnen würde. Die Hilfsorganisation „Back to Life“ hilft Frauen in der abgelegenen Bergregion Mugu mit dem Bau von Geburtshäusern zu einer menschenwürdigen Geburt.

Die Gebirgsregion Mugu in Nepal ist nur schwer erreichbar. Die nächste, etwas größere Stadt ist mehrere Tagesmärsche durch das Gebirge entfernt. Es gibt keine Straßen, die zu den Dörfern führen. Nur ein karges Leben ohne Strom und fließendes Wasser ist im Gebirge möglich. Abgeschnitten von jeglicher neuzeitlichen Zivilisation und Entwicklung, leben hier 55.000 Menschen noch fast wie im Mittelalter. Die Analphabeten-Quote ist hoch, die Lebenserwartung niedrig: Das Überleben unter den extremen Bedingungen in den Bergen fordert die Menschen täglich heraus. Die Ernte fällt nur dürftig aus – kaum ausreichend, um die Menschen angemessen zu versorgen. Die Folgen sind Mangelerscheinungen bei Erwachsenen und Kindern. Einhergehend mit den unzureichenden hygienischen Verhältnissen in den Dörfern leiden die Menschen unter vielen Krankheiten. Oft ist jedoch kein Arzt in erreichbarer Nähe – auch das nächste Krankenhaus ist mehrere Tage Fußmarsch entfernt – was zur Folge hat, dass beispielsweise eine Lungenentzündung nicht selten tödlich endet.

Auch die Lage der Frauen ist kritisch. Denn der vorherrschende Glaube besagt, dass kein Blut in den eigenen vier Wänden vergossen werden darf. Dies würde die Götter erzürnen und großes Unheil über die eigene Familie bringen. Die Folge: Alle menstruierenden Mädchen und Frauen sowie alle Schwangeren müssen ihre Häuser während dieser Zeit verlassen und im Kuhstall unter dem Haus ausharren – eine unbarmherzige Prozedur. Bei einer Geburt bedeutet dies, bis zu 20 Tage unter schlimmsten unhygienischen Bedingungen zu hausen, zwischen den stinkenden Exkrementen der Rinder, umschwirrt von unzähligen Bakterien transportierender Schmeißfliegen. Infektionen, Blutungen, Abszesse, Lungenentzündungen oder schwerer Durchfall lassen sich deshalb kaum verhindern – jede Mutter, jedes Baby befindet sich zwangsläufig in akuter Lebensgefahr.

Nicht von ungefähr, dass die Mütter- und Säuglingssterblichkeitsrate in Mugu eine der höchsten der Welt ist: Viele der Mütter haben schon einmal ein Kind verloren, das an den Folgen der Geburt starb. Will eine Frau nicht im Kuhstall gebären, so bleibt ihr nur ein Ausweichen in die freie Wildbahn – zum Beispiel in ein Erdloch im Wald. Doch auch hier sind die Gefahren groß: Eine unerbittliche Witterung, steiniger Boden, an dem sich die Säuglinge schwer verletzen können und nicht zuletzt Schakale, die die Neugeborenen den Müttern entreißen könnten. Schwanger werden in Mugu ist kein Glücksfall, auf den die Frauen sich freuen. Sie wissen, dass das Risiko hoch ist, dabei zu sterben oder ihr Kind zu verlieren.

Geburtshäuser für Mugu

Als Stella Deetjen von der Hilfsorganisation Back to Life von dem Schicksal der Frauen hörte, beschloss sie zu helfen und reiste schnellstmöglich in das Gebiet. Die Lebensbedingungen, die sie dort vorfand, schockierten sie zutiefst. Doch es ließ sich nicht sofort eine Lösung finden, denn zur Philosophie von Back to Life gehört es, dass die Arbeit der Hilfsorganisation nicht massiv in die vorherrschende Kultur und den Glauben der Menschen eingreift. Es bedurfte einer neutralen Lösung, die niemanden in seinem Denken und Handeln verletzte. Am Anfang standen deshalb monatelange Erhebungen unter den Menschen Mugus. Unzählige Gespräche mit den Dorfvorstehern und Schamanen folgten. Nach und nach entstand schließlich die Idee eines Geburtshauses für alle Frauen der Umgebung, das nicht durch eine Götterstatur gesegnet würde wie sonst alle Häuser der Dorfbewohner, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ein „neutraler Boden“ ist – im Grunde so wie der Kuhstall oder das Erdloch.

Das erste von mittlerweile sechs Geburtshäusern des Vereins wurde 2012 im Dorf Loharbada eingeweiht. Als Bauleiter wurde damals der Dorfschamane, spiritueller Kopf der Dorfgesellschaft, eingesetzt. So war gleich zu Beginn sichergestellt, dass alle Glaubensfragen und diesbezüglich möglicherweise auftretenden Probleme direkt geklärt werden konnten. Ein Schamane ist ein elementares Bindeglied zur Bevölkerung, da sein Wort enormes Gewicht im Dorf hat. In dieser Kombination fiel es leicht, alle Bewohner für das Projekt zu begeistern.

So packte schließlich das ganze Dorf mit an, schleppte Baumaterial, bearbeitete Steine oder hob den Boden aus für das Fundament. Das zweistöckige Gebäude wurde in einjähriger Gemeinschafts- und Handarbeit errichtet und umfasst diverse Räume für Geburten und Rekonvaleszenz, ein Spielzimmer, einen Leseraum, einen Gemeinschaftsraum für Schulungen und Versammlungen sowie einen kleinen Spielplatz vor dem Haus. Viele Materialien, wie medizinische Instrumente oder Solarmodule, mussten eingeflogen und per Hand über das Gebirge ins Dorf getragen werden. Aber die Mühe hat sich gelohnt: Allein von diesem Geburtshaus profitieren nun über 700 Familien in und um Loharbada. Denn auch die BewohnerInnen der umliegenden Dörfer nutzen die Möglichkeit, ihr Kind dort zur Welt zu bringen.

Früher mussten die Frauen ihre Kinder im Kuhstall gebären, denn dem Volksglauben nach würde Blut in den eigenen vier Wänden Unheil bringen. Fotos: © Back to Life

Das erste Baby

Nur zwei Tage nach der Eröffnung erblickte damals ein gesunder Junge mit einem Gewicht von drei Kilogramm das Licht der Welt. Ein kräftiger Junge bedeutet in Nepal ein besonders gutes Omen für die Zukunft. Zum ersten Mal erlebte eine Frau in dieser Bergregion eine menschenwürdige Geburt – unter Fürsorge, Schutz und fachkundiger Unterstützung durch eine Hebamme, eine Krankenschwester und AssistentInnen. Allein in diesem ersten Geburtshaus werden nun pro Jahr etwa 30 Babys geboren. Die Dorfgemeinschaft ist stolz auf diese Innovation. Die Frauen sind dankbar und erleichtert, denn für sie ist es nicht weniger als eine Revolution. Oft bekommen sie ihr erstes Kind mit 16 bis 17 Jahren, manchmal früher. Am Ende sechsfache Mutter zu sein, ist keine Seltenheit in Mugu.

Das harte Leben in den Bergen fordert dabei seinen Tribut: Junge Frauen wirken oft viel älter. Die harschen Bedingungen, die mangelhafte Versorgung und die vielen Geburten haben ihre Körper gezeichnet. Durchschnittlich liegt die Lebenserwartung nach den letzten Erhebungen bei nur 44 Jahren. Back to Life arbeitet unentwegt daran, dass diese steigt.

Mittlerweile sind die Geburtshäuser zu einer echten Erfolgsgeschichte geworden: Über 390 „Back to Life-Babys“ wurden dort mittlerweile sicher und unter kontrollierten Bedingungen geboren. Durch die Eröffnung von zwei weiteren Geburtshäusern im Dezember 2016 kam diese Entwicklung sich nun noch beschleunigen. Es ist abzusehen, dass noch in diesem Jahr das 500. Baby geboren wird. Die Teams der Häuser behandeln jede Frau und die Babys mit größter Sorgfalt. Treten nicht allzu schlimme Geburtsverletzungen auf, wird bisher auf eine natürliche Heilung gesetzt und keine spezielle Behandlung durchgeführt. Bis heute verstarb weder eine Mutter, noch ein einziges Kind in einem Geburtshaus.

Alles scheint unter einem guten Stern zu stehen. Kommt es aber doch einmal zu unvorhersehbaren Komplikationen, die das Team nicht behandeln kann, werden die Patientinnen umgehend in ein Krankenhaus ausgeflogen. So geschehen im Dezember 2015: Eine 18-Jährige hatte eine Placenta praevia. Nach rechtzeitiger Überführung in das Krankenhaus konnte das Kind sieben Wochen später per Kaiserschnitt gesund geboren werden.

Das medizinische Personal hat rund um die Uhr vielfältige Aufgaben zu bewältigen. Schon lange vor der eigentlichen Geburt beginnt die Arbeit mit den zukünftigen Müttern: Zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt werden die Schwangerschaftsuntersuchungen durchgeführt. Anschließend wird die Geburt vorbereitet und begleitet, um einen sicheren Ablauf zu gewährleisten. Aber auch die Aufklärungsarbeit gehört zu den vielen Aufgaben des Teams: Familienplanung, Verhütung, Geschlechtskrankheiten und HIV sind Themen, die immer wieder vermittelt werden. Dazu kommen Workshops zum Thema Kinderehen sowie diverse Trainings für Hygiene und Gesundheitsvorsorge – wie zum Beispiel das Erlernen, wie ein Baby richtig zu baden ist oder welche Ernährung für eine gesunde Entwicklung des Kindes Voraussetzung ist.

Indigene Hebammen

Weitere Geburtshäuser werden die Mütter- und Kindersterblichkeitsrate in Mugu merklich senken. Deshalb wird die Idee mit großem Erfolg von Back to Life in weitere Dörfer getragen. Grundsätzlich heißt es dabei: Hilfe zur Selbsthilfe. Um die Verantwortung langfristig an die BewohnerInnen zu übergeben, ermöglicht die Hilfsorganisation jungen Frauen aus den Dörfern die zweijährige Ausbildung zur Hebamme oder die viermonatige Ausbildung zur Krankenpflegerin mit Schwerpunkt Geburtshilfe.

Um den Betrieb starten zu können, fand man nach sorgfältiger Suche in den Dörfern und der Umgebung gelerntes Personal – mit entsprechender Berufserfahrung im lokalen Krankenhaus oder einem Health Post („Erste-Hilfe-Station“). Wenn aber die jungen Frauen ausgebildet sind, kehren sie in ihre Dörfer zurück und werden die Geburtshäuser weiterführen. Dafür sorgt indirekt auch das nepalesische Gesundheitsministerium, das die Geburtshäuser von Back to Life bezüglich aller nötigen Standards abnimmt und sie zu offiziellen Health Posts macht: Frauen, die ihre Kinder hier bekommen, erhalten eine kleine Prämie.

In weiterer Zukunft könnten diese Prämien genutzt werden, um den fortlaufenden Betrieb sogar ohne die Hilfe von Back to Life fortzusetzen. Ein Konzept, das auf Nachhaltigkeit setzt und jegliche Form von Abhängigkeit vermeiden will. Stella Deetjen plant, in ein paar Jahren alle abgelegenen Bereiche von Mugu mit Geburtshäusern ausgestattet zu haben. Das ist noch ein weiter Weg, auch weil die schweren Erdbeben von 2015 für viele neue Aufgaben in Nepal gesorgt haben.

Vorgestellt
Die Ursprünge der deutschen Hilfsorganisation Back to Life mit Sitz in Bad Homburg v.d.H., liegen eigentlich nicht in Nepal, sondern in Indien. In den frühen 1990er Jahren reiste die junge Stella Deetjen, spätere Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins, als Rucksack-Touristen durch Asien. Sie traf in Benares (dem heutigen Varanasi) auf Leprakranke und ihre Angehörigen, denen sie ihre Hilfe anbot. Daraus wuchs zunächst ein Hilfsprogramm für rund 100 Leprabetroffene. Bis heute entstanden darüber hinaus drei Heime für die Kinder jener Leprakranken sowie weitere Straßenkinder. Regelmäßige Health Camps, soziale Hilfen für Bedürftige sowie 13 Slumschulen in Benares ergänzen die Projektvielfalt von Back to Life vor Ort.

Seit 2009 betreut die Hilfsorganisation in mittlerweile drei Gebieten auch umfangreiche Projekte in Nepal – unter anderem in der nur schwer erreichbaren Gebirgsregion Mugu, wo sie Schulen und Geburtshäuser baut sowie medizinische und soziale Hilfen für die Bevölkerung bereitstellt.

Weitere Informationen: http://www.back-to-life.org

Spendenaufruf
Neben Spenden für „Back to Life“ auf das Nepal-Konto unter der IBAN DE94 5008 0000 0729 9990 02, BIC DRESDEFFXXX kann man auch eine „Geburtshauspatenschaft“ übernehmen. Alle wichtigen Informationen dazu finden sich auf der Website der Hilfsorganisation: www.back-to-life.org oder über E-Mail info@backto-life.org.

Zitiervorlage
Becker S: Geburtshäuser für die nepalesische Gebirgsregion: Damit der erste Schrei nicht der letzte ist…. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (3): 74–76
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