Der letzte Verhandlungstag im Jahr 2013 endet am 16. Dezember schon nach 35 Minuten. »Ein Gerichtsmitglied ist aus gesundheitlichen Gründen lediglich in der Lage kurz an der Verhandlung teilzunehmen«, erklärt der Vorsitzende Richter Wolfgang Meyer die kurzfristige Änderung: »Alle Beteiligten, die weite Wege zurückzulegen haben, sind von mir mündlich abgeladen worden. Für die Presse und die Zuhörer ist das selbstverständlich nicht möglich. Wer hierher kommt, tut das mit dem Risiko, dass nur kurz verhandelt wird.« An der Seite der angeklagten Hebamme und Ärztin vertritt Rechtsanwalt Norbert Hufelschulte aus dem 40 Kilometer entfernten Hamm heute Pflichtverteidiger Hans Böhme, der aus Heidelberg hätte anreisen müssen. »Ich bin dankbar, dass Sie so kurzfristig einspringen konnten!«, begrüßt ihn Meyer. »Gibt es medizinische Gründe, hier im Gerichtssaal zu trinken?«, fragt er unvermittelt mit Blick zu den Zuschauerbänken . »Das hatte ich vergessen, tut mir leid!«, entschuldigt sich die Angesprochene.
Für einige Dokumente, die heute verlesen werden sollten, wird nun das Selbstleseverfahren angeordnet. Lediglich der Geburtsbericht einer Mutter, die von der Angeklagten betreut und von ihr in eine Klinik verlegt worden war, wird von Meyer verlesen, ebenso wie ein Brief der Geschäftsführer in der Gesellschaft für Qualität in der Außerklinischen Geburtshilfe (QUAG), Anke Wiemer. Sie nimmt zu einer Anfrage des Vorsitzenden Richters vom 28. November Stellung: Die Perinatalerhebung, die von QUAG e.V. ausgewertet würde, sei ein freiwilliges Verfahren , das von Hebammen für Hebammen – nicht für Ärzte – für außerklinisch begonnene Geburten entwickelt worden sei. Im Jahr 2008 habe der Erfassungsgrad bei 81,8 % gelegen. Für Nordrhein-Westfalen seien damals 1.440 außerklinische Geburten gemeldet worden, 533 Hausgeburten sowie 907 Geburten in von Hebammen geleiteten Einrichtungen. Davon seien 238 Gebärende, also 16,5 %, in die Klinik verlegt worden. 1.202 Frauen hätten ihre Kinder zu Hause oder in einem Geburtshaus zur Welt gebracht. Zur perinatalen Mortalität im Jahr 2008 heißt es: 682.514 Kinder seien in Deutschland lebend geboren worden. Von 3.632 verstorbenen Kindern, 0,53 %, seien 2.412 tot geboren und 1.220 in den ersten sieben Tagen nach der Geburt verstorben. Für bundesweit 9.736 außer klinisch begonnene Geburten seien 18 Kinder, das sind 0,18 %, der perinatalen Mortalität zugerechnet worden, drei davon in Nordrhein-Westfalen. Die beiden Todesfälle, die vom Gericht angefragt worden waren, seien nach Abgleich der Daten nicht unter den von QUAG e.V. erfassten Geburten .
Rechtsanwalt Hufelschulte übergibt dem Vorsitzenden in Vertretung des Leipziger Kollegen Sendowski den Entwurf »eines möglicherweise noch zu stellenden Beweisantrags«, wonach Gewebe des verstorbenen Mädchens auf eine Benzalkoniumchlorid-Vergiftung hin nachuntersucht werden soll. Diese Substanz war bei der Obduktion in der Leber gefunden worden. Wenige Minuten später beendet der Vorsitzende die Verhandlung: »Ja, das war es für heute.«
Weitere Beweisanträge
An den drei folgenden Verhandlungstagen im Januar, am 7., 15. und 29., werden vier weitere Zeuginnen vernommen, die als Gebärende von der Angeklagten betreut und bei geburtshilflichen Schwierigkeiten verlegt worden waren. Auch ein Frauenarzt und eine freiberufliche Hebamme werden zu Schwangerschaftsverläufen und Geburten von Müttern befragt, in deren Betreuung auch die angeklagte Geburtshelferin involviert gewesen war.
Außerdem stellt die Verteidigung am 7. Januar zwei Beweisanträge, um Fragen zum Einsatz von Notarzt und Babynotarzt zu klären. Letzterer war damals in der Notsituation von der Geburthelferin angefordert worden. »Wir überlegen, dass wir noch eine Erklärung abgeben – eine Einlassung«, kündigt Prof. Dr. Lilie, einer der beiden Strafverteidiger aus Leipzig an, die neben Pflichtverteidiger Böhme seit April vergangenen Jahres im Einsatz sind. »Nach 38 Verhandlungstagen wäre es gut, wenn das dann mal passiert!«, fordert Oberstaatsanwältin Susanne Ruland gereizt. »Jawohl, Frau Oberstaatsanwältin!«, entgegnet Lilie knapp. Der Versitzende Richter fragt die Verteidiger nach einer laufenden Spendenaktion zugunsten der Angeklagten. Die Oberstaatsanwältin bringt währenddessen ihre Empörung darüber nonverbal zum Ausdruck. »Ich habe davon erfahren, kann so etwas auch nicht verbieten«, stellt Lilie klar. Anschließend verliest er die bei den angekündigten Beweisanträge: Die zehnminütige Reanimation des Neugeborenen durch den Notarzt Dr. Tervooren sei zu kurz gewesen. Bei einer adäquaten länger andauernden Reanimation mit Intubation durch einen Spezialisten hätte das Kind überleben können. Es wird beantragt, den Namen des Babynotarztes, der damals von der Angeklagten angefordert worden war, zu ermitteln, um ihn zu vernehmen. Es sei medizinisch nicht nachvollziehbar, warum Dr. Tervooren, der selbst kein Spezialist für Kinderreanimation sei, seine Reanimationsbemühungen eigenmächtig abgebrochen habe, obwohl bekannt gewesen sei, dass der Babynotarzt in Kürze eintreffen würde. Die Aussage des Babynotarztes sei außerdem erforderlich, um zu erfahren, warum Tervooren ihn nach seinem Eintreffen weggeschickt habe. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Speicherchip des EKG-Monitors damals verloren gegangen sei. Selbst nach erfolgloser Reanimation sei der Babynotarzt notwendig gewesen, beispielsweise um den pH-Wert des Nabelvenenblutes zu ermitteln, womit man die in Frage stehende Azidose hätte aufklären können. »Ich kann mich nicht erinnern, dass gesagt worden ist, dass der Babynotarzt weggeschickt wurde, sondern dass er selbst entschieden hat, nicht tätig zu werden«, merkt der Vorsitzende an: »Und zur Kompetenz des Notarztes: Er hat mehrere Jahre in einem Haus mit geburtshilflicher Abteilung gearbeitet und dabei mindestens fünf bis zehn Neugeborene reanimiert.«
Spontane Vorladung einer Zeugin
Zum nächsten Termin am 15.1. ist nur Rechtsanwalt Böhme auf der Verteidigerseite vertreten. Er stellt weitere sieben Beweisanträge, die teilweise schon vorgelegen und vorab bearbeitet worden waren, beispielsweise einen Antrag zur Vernehmung zahlreicher Zeuginnen hinsichtlich der Klinikeinweisungen durch die Geburtshelferin in Risikofällen. »Soweit sie sich auf die Zeuginnenbefragung beziehen, wollen Sie die Anträge vielleicht gar nicht mehr stellen?«, erkundigt sich der Vorsitzende. »Ich möchte sie dennoch verlesen und dann für erledigt erklären«, kündigt Böhme sein Vorgehen an.
Eine der Zeuginnen, deren Vernehmung beantragt wird, sichtet der Vorsitzende im Zuschauerraum. Die Hebamme hat regelmäßig an den Verhandlungen teilgenommen. Spontan wird sie direkt in den Zeugenstand gebeten. Sie bezeugt, dass sie mehrmals erlebt habe, dass ein Kind nach einer Terminüberschreitung von mehr als 21 Tagen gesund geboren sei, was der gerichtlich bestellte Gutachter Prof. Dr. Feige kategorisch in Abrede gestellt hatte: Nach einer Terminüberschreitung von mehr als drei Wochen würden die Kinder tot geboren. Die Hebamme schildert drei Fälle im Detail – in zwei weiteren Fällen hätten die Mütter sie nicht von der Schweigepflicht entbunden. Eines der Kinder sei ihr 21-jähriger Sohn gewesen, der sowohl rechnerisch wie per Ultraschall dokumentiert 22 Tage nach dem errechneten Termin zu Hause unkompliziert geboren sei. Bei einem Kind habe die Konzeption festgestanden und sei per Ultraschall bestätigt worden. Dieses Kind sei 23 Tage nach dem errechneten Termin gesund zur Welt gekommen. Nachdem das geklärt ist, liest der Vorsitzende Auszüge kritischer Schilderungen des Gerichtsprozesses aus einem Internetforum für Hebammen vor, die mit einem Spendenaufruf zugunsten der Angeklagten verbunden sind. Ob sie das geschrieben habe, fragt er die Zeugin streng. »Ja!« bestätigt die Hebamme.
Zu Drillingsgeburt hinzugezogen?
»Um es vorweg zu schicken: Wir haben nicht nur den Babynotarzt namentlich ermittelt – darauf ist ja Wert gelegt worden. Er wird seinen Bericht faxen, in dem steht, was er erfahren hat und warum er von einem weiteren Tätigwerden abgesehen hat. Herr Dr. Hofmann wird zu einem weiteren Termin geladen werden«, beginnt der Vorsitzende Richter den 38. Verhandlungstag am 29. Januar. Oberstaatsanwältin Susanne Ruland informiert, dass Behandlungsunterlagen der Frauenärztin aus Riga eingetroffen sind, die die Mutter des verstorbenen Mädchens in der Schwangerschaft betreut hatte. Außerdem berichtet der Vorsitzende: »Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss durchgeführt in Freiburg im Zusammenhang mit einer Rechnung zu einer Drillingsgeburt, bei der ein Kind abgestorben sei, jedenfalls nicht lebend geboren wurde.« Zwei der Kinder seien lebend zur Welt gekommen. »Bei der Mutter der Drillinge war die Polizei gestern«, berichtet Meyer. Sie habe ihn telefonisch zurückgerufen und erklärt, dass sie sich zur außerklinischen Geburt entschlossen habe, da einer der Drillinge fünf Wochen vor der Geburt gestorben sei. Ärztlicherseits sei in der Schwangerschaft ein Lasereingriff an der Plazenta vorgenommen worden. Den Tod eines der Kinder habe sie nicht zum Anlass genommen, sich ins Krankenhaus zu begeben. Sie habe stattdessen entschieden, ihre Kinder außerhalb der Klinik auf Borkum zur Welt zu bringen, was am 21. Januar 2008 statt gefunden habe, schildert er. Offenbar habe die betreuende Hebamme die angeklagte Geburtshelferin dabei hinzugezogen. »Die Beteiligung sieht danach aus, weil wir ja auch eine Rechnung der Angeklagten haben«, vermutet der Vorsitzende.
Ein Rechtsanwalt als Zeuge
Der für diesen Verhandlungstag geladene Zeuge sitzt schon im Zeugenstand, ein niedergelassener Rechtsanwalt, der mit der Angeklagten bekannt ist. Auch seine Vernehmung betrifft einen der Beweisanträge der Verteidigung. »Ich bekam morgens einen Anruf und habe das als nachbarschaftlichen Dienst aufgefasst. Sicherheitshalber bitte ich um eine Entbindung von der Verschwiegenheitsverpflichtung«, sagt er mit Blick zur Angeklagten, die zustimmend nickt. Er war am Morgen nach der tragischen Geburt von der Angeklagten dazugerufen worden, als die Kriminalpolizei bei ihr vor der Tür stand. Er sei in zehn Minuten drüben im Haus der Geburtshelferin gewesen. »Ich sprach mit einem Kripobeamten, er hat mir seinen Durchsuchungsbeschluss gezeigt.« Er habe dann mit der Angeklagten draußen kurz gesprochen. An Einzelheiten könne er sich nicht erinnern. Sie habe ihm gesagt, im Hotel Gut Höing sei nachts ein Kind tot geboren worden. Keine weitere Aussage zu machen, habe er ihr geraten. Sie könne aber nichts dagegen tun, wenn die Kripo Unterlagen von der Geburt mitnehme. Die Kripobeamten hätten sich etwas später auf der Straße mit einem Paar unterhalten. »Das sind die Eltern«, habe ihm die Geburtshelferin erklärt. Sie sollten am Nachmittag für ihre Aussage zur Polizei kommen. Das Elternpaar sei dann herein gekommen, man habe sich an den Tisch gesetzt. Die Angeklagte sei aufgelöst und völlig fertig gewesen: »Äußerlich hat man ihr das nicht angesehen, aber sie war völlig durch den Wind.« Die Eltern hätten auf ihn einen eher abgeklärten Eindruck gemacht, sie hätten sich unterhalten. »Jeder geht mit Trauer anders um«, setzt er hinzu.
Etwa zweieinhalb Stunden habe das Gespräch gedauert. »Sie sagten, sie hätten von Lettland aus in ganz Deutschland gesucht, weil sie eine außerklinische Geburt machen wollten.« Ob und welche Risiken die Eltern kannten, möchte der Vorsitzende wissen. »Das ist fünf Jahre her. Ich habe mir keine Notizen gemacht, es war ja kein Mandatsverhältnis«, erklärt er: »Ich kann Ihnen meinen Eindruck schildern – es waren sehr gebildete Menschen, denen das Risiko bewusst war.« Ob Papiere auf dem Tisch gelegen hätten, möchte der Vorsitzende wissen. Die Kindeseltern hätten ausgesagt, er habe ihnen eine Erklärung vorgeschlagen, worin sie bestätigen sollten, dass sie 20 Artikel aus dem Internet gelesen und sich geweigert hätten, ins Krankenhaus zu gehen. Er werde sicher nichts vorbereitet haben, das könne er sich nicht vorstellen, entgegnet der Anwalt. »Es geht nicht darum, was Sie sich heute vorstellen können, sondern was Sie erinnern«, insistiert der Vorsitzende. Die Eltern hätten eine umfangreiche Internetrecherche über Beckenendlagen angestellt und Fachbücher gelesen. Es könne sein, dass überlegt worden sei, wenn sie für ihre Geburtshelferin etwas tun wollten, könnten sie bei der Polizei eine Aussage machen, dass ihnen die Risiken bewusst gewesen seien, versucht sich der Anwalt zu erinnern: »Ich kann nicht ausschließen, dass ich sowas geäußert habe, dass das hilfreich wäre.« Ob er die Eltern dazu aufgefordert habe, schriftlich niederzulegen und zu unterschreiben, dass eine Verlegung abgelehnt wurde, ja oder nein, wird der Vorsitzende nun gereizter. Der Zeuge sagt nichts. Oberstaatsanwältin Ruland schüttelt den Kopf. Meyer setzt nach einer Weile wieder an: »Haben Sie die Frage beantwortet, habe ich was überhört?«, und zur Protokollantin gewandt: »Dann nehmen wir auf, der Zeuge erklärte unter anderem: Es ist möglich, dass ich angesprochen habe, dass die Kindseltern …« Er diktiert den Wortlaut der Aussage des Zeugen, der lässt sie sich noch einmal vorlesen und bestätigt sie. Anschließend verkündet der Vorsitzende Richter eine Viertelstunde Pause zur Beratung.
Strafvereitelung?
Nachdem das Gericht wieder eingetreten ist, beginnt die Oberstaatsanwältin an den Zeugen gewandt: »Im Moment steht im Raum der Versuch einer Strafvereitelung.« Ein längerer Disput beginnt, woran der Zeuge sich bezüglich der angeblichen Erklärung erinnern kann und woran nicht und welche Bedeutung sein Verhalten in dieser Situation für ihn selbst habe. Seine Erinnerung wird auch so nicht aktiviert. Er schweigt häufig zu den an ihn beharrlich gestellten Fragen. »Natürlich ist mir klar, dass eine solche Erklärung wichtig gewesen wäre«, sagt er schließlich ratlos: »Ich hätte jedenfalls nicht etwas bestätigt haben wollen, was nicht richtig war!« »Ist das Ihre Aussage?«, versichert sich Meyer. »Ja!«, bestätigt der Zeuge. Es geht noch eine Zeit lang weiter um dieses Thema, auch was er darüber wisse, dass den Eltern ein Dokument von einer Hebamme auf Borkum zur Unterschrift vorgelegt worden sei. Das Paar hatte sie unmittelbar nach der Geburt besucht. Er weiß nichts Genaues. »Wissen Sie, was mich wundert?«, wendet sich die Oberstaatsanwältin an den Zeugen: »Dass Sie wegen einer Falschaussage Riesenprobleme kriegen werden.« Warum er sich so verhalte und woher er denn von der Erklärung auf Borkum erfahren habe. Von einer der Beteiligten, er vermute von der Geburtshelferin selbst, man habe weiterhin über den Fall gesprochen. »Die Erklärung ist nicht von mir!«, erklärt er kategorisch. Er habe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil ihm gesagt worden sei, es sei eine Haftungsfreizeichnung darin enthalten gewesen. »Das ist mir schon klar, wie das im Nachhinein ankam!«, versichert er.
Babynotarzt sieben Minuten vor Ort
Am Donnerstag, dem 13. Februar, ist der Babynotarzt Dr. Hofmann zur Vernehmung geladen, den die Geburtshelferin in der Nacht vom 30. Juni 2008 zur Hilfe angefordert hatte. Am besagten Tag habe er Schichtdienst in der Kinderklinik am Klinikum Dortmund geleistet. Der Baby-NAW, der Baby-Notarztwagen aus Dortmund, unterstütze den Rettungsdienst und leiste überörtlich auch Hilfe im Kreis Unna. Um 22.31 auf Signal des Notfallmelders seien der reguläre Notarztwagen in Unna und der Baby-NAW zeitgleich ausgerückt. Der Baby-NAW mit längerer Fahrzeit sei 22.53 Uhr in Unna im Hotel Gut Höing ein getroffen. Als das Notfallteam im Begriff gewesen sei, das Hotelzimmer zu betreten, sei ihnen der Notarzt Dr. Tervooren entgegen gekommen. Der habe ihn zur Seite genommen und erklärt, dass er wenige Minuten vorher seine Reanimationsmaßnahmen beendet habe. Er habe das leblose Neugeborene von der Ärztin und Hebamme übernommen, die es bis dahin erfolglos reanimiert habe, und habe seine Bemühungen dann nach zehn Minuten eingestellt. Nach dem relativ kurzen Gespräch sei das Baby-NAW-Team sieben Minuten später wieder auf dem Weg gewesen. »Erschien Ihnen das plausibel?«, erkundigt sich der Vorsitzende. »Man ist auf die Information angewiesen, die man geschildert bekommt«, entgegnet der Neonatologe: ,,Das Kind war 40 Minuten zuvor zur Welt gekommen, leblos gewesen, so dass die frustrane Reanimation dann beendet worden ist – da hat es keinen Sinn, wenn man noch einmal neu starten würde.« »Haben Sie das Kind gesehen?«, fragt der Vorsitzende. »Nur aus dem Augenwinkel, nicht aus nächster Nähe«, schildert Dr. Hofmann: »Die Eltern waren mit dem Säugling zusammen.« »Uns ist unterbreitet worden, der Notarzt habe den Babynotarzt weggeschickt«, fragt Meyer nach. »Der Notarzt hat mich ja nicht weggeschickt – wenn der Kindernotarzt nicht mehr nötig ist … «, erklärt dieser. »Es erschien Ihnen so plausibel, Sie hätten sonst Maßnahmen entfaltet?«, schließt Meyer daraus. »Mir ist im Nachhinein nicht klar, ob suffizient oder insuffizient durch die Hebamme reanimiert wurde – gleiches gilt für den Notarzt. Man kann nach so einer langen Zeit den Kreislauf kaum wieder herstellen, das Gehirn ist auch unter Reanimationsmaßnahmen nie optimal versorgt – ein Hirnödem und eine Schocklunge sind dann wahrscheinlich.« Ob er eigene Reanimationsmaßnahmen für nicht erforderlich gehalten und damit gerechnete habe, dass Schäden bereits eingetreten seien, fragt ihn der Vorsitzende. »Genau, als Kinderarzt weiß man: überleben um jeden Preis ist nicht immer sinnvoll. Schäden bedeuten auch Schmerzen und nie eigenständig leben zu können. Man muss von bleibenden Hirnschäden ausgehen nach einem so langen Zeitraum.« »Es war also hoffnungslos?«, fragt Meyer. »Ja!«, stimmt ihm Hofmann zu. Nach den Leitlinien zur Neugeborenenreanimation sei seit 2010 eine 30-minütige Reanimationszeit einzuhalten, 2008 habe das noch nicht gegolten. Ob Hofmann Hinweise sähe, dass nicht legeartis vorgegangen worden sei, fragt der Vorsitzende den Neonatologen, der die Frage klar verneint.
Nun werden die Fragen der anderen Prozessteilnehmer zugelassen. Rechtsanwalt Böhme möchte wissen: »Was hätten Sie gemacht, wenn Sie vor dem Notarzt gekommen wären und die Angeklagte das Kind noch reanimiert hätte?« »Ich mache mir als erstes ein Bild«, beschreibt der Babynotarzt: »Wenn gute, suffiziente Reanimationsmaßnahmen stattfinden, muss man sich als Team da einfinden. Man versucht sich dann Stück für Stück in die Reanimation einzuführen. Man übernimmt da, wo Unterstützung am notwendigsten ist.
Anders ist es, wenn Laien vor Ort sind. Zunächst geht es um die Basismaßnah men Thoraxkompression und Beatmung im Rhythmus drei zu eins. Wenn möglich ein sicherer Zugang zu den Atemwegen durch Intubation, dabei weiter Herzdruckmaßnahmen, Zugang zum Gefäßsystem und Medikamentengabe wie Adrenalin.« Ob mit Maske oder durch Intubation beatmet werden solle, erkundigt sich Böhme.
»Wenn die Ventilation über die Maske gut gelingt – wie in vielen Fällen – dann kann man später in Ruhe intubieren.« »Passiert es ab und zu, dass die Reanimation nicht möglich ist?«, fragt der Rechtsanwalt nach. »Es ist manchmal schwierig, Neugeborene zu intubieren – es ist wenig Platz, der Kehldeckel ist noch schlecht durchknorpelt, man benötigt einen geraden Spatel für eine freie Sicht«, erläutert der Neonatologe. »Geschieht das immer mal, dass Sie nicht intubieren?«, möchte Böhme von ihm wissen. Der Babynotarzt erklärt: »Ich habe eine gute Expertise – allenfalls bei Fehlbildungen gibt es manchmal Grenzen. Mit dem Larygoskop, das ja aus Edelstahl besteht, hat man nur einen Versuch, weil man mit den eigenen Maßnahmen die sensiblen Strukturen im Bereich des Kehlkopfes zum Anschwellen bringt. Ich bin so erfahren, dass ich bevorzuge, nasal zu intubieren. Da lässt sich der Beatmungsschlauch in der Luftröhre besser befestigen und ich sauge gleich unter Sicht den Schleim aus der Luftröhre ab. Nur im Notfall intubiert man oral.« »Kommt dann noch etwas, beispielsweise ein EKG?«, erkundigt sich Böhme. »Wichtig sind erstmal die Basismaßnahmen! Die weiteren Maßnahmen kommen dann als nächste Schritte. Da gibt es keine genauen Vorgaben.«
EKG wenig hilfreich
»Würden Sie mit der Reanimation aufhören, wenn das EKG noch ausschlägt?«, fragt Böhme. »Das EKG ist wenig hilfreich. Der Rhythmus, den man darauf sieht, kann einem etwas vorgaukeln: Es ist zwar Ak tivität sichtbar, aber der Herzmuskel zieht sich trotzdem nicht zusammen. Selbst EKG-Zacken können bedeuten, dass das Herz nicht schlägt, und das heißt dann nicht, dass man nicht aufhören darf, denn diese elektrische Aktivität erhöht die Überlebenschance nicht.« Böhme fragt weiter: »Was passiert in der Klinik nach einer frustranen Reanimation?« »Wenn wir den Tod des Säuglings festgestellt haben, entfernen wir je nach Wunsch der Eltern das Fremdmaterial und geben den Eltern ihr Kind in den Arm, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu verabschieden«, beschreibt der Kinderarzt: »Nach den sicheren Todeszeichen sehen wir in zeitlichem Abstand bei der Leichenschau. Wenn wir, wie hier, dazukommen und es ist nicht geklärt, ob eine natürliche oder unnatürliche Todesursache vorliegt, nehme ich das auf, was mir erzählt wurde. Im Totenschein wird ›unklare Todesursache‹ angegeben. Dann werden Maßnamen getroffen, um das zu klären. Ich kann dazu wenig leisten als Notarzt, das ist auch nicht meine Aufgabe.« Böhme will wissen, was im Krankenhaus bei unklarer Todesursache geschieht: Ob dann die Polizei zu informieren sei und ob Material gesichert würde, wie Schleim oder Blut, beispielsweise für eine Blutgasanalyse zur Bestimmung des Blutzuckers oder der Elektrolyte? Hofmann erläutert: »Es ist nicht Aufgabe des Arztes, Material zu aservieren. Das veranlasst erst die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Obduktion. Wenn es darum geht, dass eine Maßnahme nicht richtig durchgeführt wurde, schreiben wir in der Klinik alle Dinge genau auf, die bei der frustranen Maßnahme passiert sind, bis die Kriminalpolizei da war.«
Warum eine Blutgasanalyse während der Reanimation sinnvoll sei, möchte Böhme wissen. »Man kann dann in der Situation überlegen, ob man eine Pufferung mit Natriumbicarbonat durchführt oder noch einen Versuch mit Adrenalin.« »Wie schnell stehen Ihnen die Werte zur Verfügung?«, fragt der Strafverteidiger weiter. »Innerhalb von 90 Sekunden bei unseren mobilen Geräten, im Krankenhaus nach 60 Sekunden. Damals hatten wir diese Geräte allerdings noch nicht.« Böhme: »Hätte es demnach am 30.Juni 2008 keine Möglichkeit gegeben, den pH-Wert zu ermitteln?« Dr. Hofmann verneint: »Die Blutgasanalyse sollte zeitnah erfolgen. Je länger das Blut liegt, umso eher verfälschen sich die Werte – so nach einer halben bis einer Stunde – je zeitnäher umso aussagekräftiger.«
Intubation braucht Erfahrung
»lntubieren Sie immer bei einem hypoxischen Kind?«, erkundigt sich Böhme weiter. »Eine Intubation kann einem viele Sorgen nehmen«, antwortet der Babynotarzt: »Jemand, der keine Erfahrung hat, sollte vorsichtig sein. Jemand wie ich, der zweimal die Woche eine Intubation durchführt, würde immer intubieren. Man sollte es nicht erzwingen – die Frage ist: Kann ich mit Maskenbeatmung die Ventilation sicherstellen?« Böhme fragt weiter: »Wenn durch die Reanimation ein Pneumothorax erzeugt wird, welche Auswirkung kann das haben?« Hofmann: »Das kann durch die Herzdruckmassage schnell passieren. Mich schreckt das nicht: Mit einer Kanüle mache ich eine Thoraxdrainage und lasse die Luft wieder ab.« Böhme: »Bei der Verdachtsdiagnose, es ging keine Luft in die Lunge, denkt man dann nur an einen Pneumothorax oder kann auch zu wenig Surfactant-Faktor vorhanden gewesen sein?« »Dass zu wenig Surfactant vorhanden ist, betrifft eigentlich nur Frühgeborene. Bei Reifgeborenen ist das eher ungewöhnlich. Bei Mekoniumaspiration können die Atemwege verstopft sein«, nennt er einen weiteren Grund für Probleme bei der Beatmung.
Der Vorsitzende möchte gleich das Einsatzprotokoll des Notarztes Dr. Tervooren verlesen und wendet sich an den Kinderarzt: »Sie haben dann Gelegenheit uns zu erklären, ob Sie auch so gehandelt hätten.«
»Maskenbeatmung ist legitim, wenn man keine Chance hat, zu intubieren«, kommen tiert der Babynotarzt das Protokoll. »Dort ist von zähem Sekret die Rede«, bemerkt Meyer. »Wenn es Mekonium war, hat man keine realistische Chance, es zu entfernen. Die Maßnahmen wurden von dem Kollegen adäquat durchgeführt«, erscheint es Hofmann nach diesem Bericht. Böhme hat noch eine Frage zum von Tervooren erwähnten zähen, dunklen Sekret, das den gesamten Rachenraum verlegt haben soll: »Wenn das zähe Sekret Mekonium gewesen wäre, hätte man das bei der Obduktion feststellen müssen. Hat man aber nicht. Was sonst hätte es sein können?« Hofmann hat keine Idee – die Beschreibung passe zu Mekonium – sonst vielleicht zähes Blut? Im Obduktionsbefund hatte gestanden: »in der einsehbaren Mundhöhle kein ortsfremder Inhalt« und: »keine tiefe Aspiration von Mekonium«. Die Angeklagte fragt, ob es normal gewesen sei, dass die Thoraxexkursion nur bis zur 3. bis 4. Rippe gereicht hätte. Das sei zu weit oben, urteilt Hofmann, wenn Luft reingehe, hebe sich der ganze Brustkorb. Die Geburtshelferin fragt weiter, ob man sich irren könne, wenn Luft in den Magen gelange und die Exkursion hervorrufe. Es sei gut möglich, das zu verwechseln – es sei kaum möglich, dass der Magen sich nicht aufblähe, stimmt ihr der Neonatologe zu und schließt: »Jemand der erfahren ist, sollte das unterscheiden können.« Fortsetzung folgt.