Mira Becker: „Wir halten mit diesem Konzept in unserem Team die Waage zwischen einer anspruchsvollen, aber auch sehr befriedigenden Arbeit und aus­reichend Freizeit.“ Foto: © Silke Zander

Mira Becker arbeitet im Hamburger Marienkrankenhaus als Beleghebamme in der Eins-zu-eins-Betreuung. Gemeinsam mit drei Kolleginnen hat sie dafür eine gut strukturierte Hebammenkooperation aufgebaut. Sie erlebt die Arbeit als sinnvoll und befriedigend, weil sie den Frauen und Familien guttut und ihr selbst noch Freiräume bleiben. Ein Modell der Zukunft?

Es ist 00.55 Uhr: Mein Rufdiensttelefon klingelt leise neben dem Bett. Ich schrecke hoch und bin sofort wach. Ich schnappe mir das Telefon, verschwinde leise im Wohnzimmer und nehme ab. „Hallo, hier ist Mira!” Es ist Anna, sie hat einen Blasensprung. Ich schmunzle wegen der typischen Uhrzeit. Anna berichtet vom Abgang von klarem Fruchtwasser mit beginnender Wehentätigkeit und guten Kindsbewegungen. Ich frage sie: „Wie kommst du zurecht? Wo spürst du die Wehen? Fühlst du dich gut zu Hause? Möchtest du, dass ich vorbeikomme?”

Anna erwartet ihr erstes Kind und ist vier Tage über dem errechneten Geburtstermin. Die Wehen sind noch unregelmäßig. Es geht ihr gut und sie freut sich sehr auf ihr Baby. Anna hat sich gewünscht, möglichst lange zu Hause zu bleiben. Deshalb will sie sich wieder melden, wenn die Wehen stärker und regelmäßiger werden. Ich lege mich wieder ins Bett und es dauert eine Weile, bis ich wieder einschlafen kann.

Abholen zu Hause

Um 2.30 Uhr klingelt es erneut: Anna hat eine Frage zur Farbe des Fruchtwassers. Ich erkläre ihr die unterschiedlichen Farben und deren Bedeutungen und kann sie beruhigen. Meine persönliche Betreuung wünscht sie noch nicht. Daher schlafe ich nochmal, bis sich Anna um 4.20 Uhr wieder meldet. Die Wehen kommen bei ihr nun alle drei bis vier Minuten und Anna hat angefangen mitzupusten. Daher fahre ich zu ihr nach Hause.

Aufgeregt öffnet ihr Mann Carsten mir die Tür. Ich husche zuerst ins Bad und wasche mir die Hände. Anna steht mit geschlossenen Augen im Wohnzimmer und atmet sich einen Atemzug nach dem anderen durch die Wehe, bevor sie hochschaut. Ich sehe die Erleichterung in ihren Augen, dass ich da bin. Ich nehme sie in den Arm: „Heute bekommen wir euer Baby!” Wir veratmen ein paar Wehen gemeinsam, während ich die Herztöne abhöre. Alles ist wunderbar. Nach einer Untersuchung entscheiden wir, in die Klinik zu fahren. Das Fruchtwasser ist weiterhin klar, dem Baby geht es gut und der Muttermund hat sich auf fünf Zentimeter geöffnet. Ich bin stolz auf die beiden.

Ich fahre voraus zur Klinik, wir treffen uns dort wieder. Die Akte habe ich schon besorgt und die Anmeldung erledigt, so dass wir direkt in den Kreißsaal gehen können. Anna pustet mittlerweile sehr stark mit. Die diensthabende Ärztin verzichtet auf einen Ultraschall, da Anna kurz vor der Geburt steht. Alles verläuft sehr schnell und problemlos. Um 7.52 Uhr wird der kleine Mattis geboren. Anna und Carsten sind gerührt, knien über ihrem kleinen Bündel und begrüßen ihren Sohn mit wunderschönen Worten. Wir fallen uns alle glücklich in die Arme. Wir waren ein super Team! Um 12.30 Uhr geht die frische Familie den Gang entlang zur Tür hinaus. Dies ist einer meiner Lieblingsmomente. Sie gehen nach Hause, glücklich und voller Stolz. Wieder ist ein Baby ruhig und sicher geboren worden und wieder hat ein Paar mit unserem Team in der Klinik eine schöne und selbstbestimmte Geburt erlebt. Für mich stehen nun noch zwei wichtige Hausbesuche an und dann geht es ab ins Bett. Am Abend fahre ich zum ersten Hausbesuch zu Anna, Carsten und Mattis. Wir sind alle noch auf Wolke Sieben.

Das Konzept

Seit Juni 2014 arbeiten zwei Kolleginnen und ich im Hamburger Marienkrankenhaus als Kooperationshebammen im Belegsystem, neben einem Klinikteam aus angestellten Hebammen. Das Konzept haben wir zu dritt neu aufgebaut und dort eingeführt. Nach kurzer Zeit haben wir eine vierte Kollegin aufgenommen und arbeiten nun in dem für uns idealen Team.

Pro Monat betreuen wir neun bis zwölf Frauen. Die Schwangeren melden sich telefonisch oder per E-Mail bei uns, oft schon kurz nach dem positiven Schwangerschaftstest. Hierfür stehen unsere jeweiligen Telefonnummern sowie eine gemeinsame E-Mail-Adresse auf unserer Homepage. Mit dem ersten Telefonat erklären wir den Frauen unser Betreuungsmodell und das Belegkonzept. Bei Interesse vereinbaren wir ein Vorgespräch mit dem Paar. Dies folgt in der 12. bis 14. Schwangerschaftswoche.

Hausbesuche fürs Kennenlernen

Wir achten darauf, dass die Frauen alle Hebammen des Teams in der Schwangerschaft kennenlernen. Die Termine finden bei den Familien zu Hause statt. In der 16. Schwangerschaftswoche beginnen wir mit der ersten Hebammenvorsorge. Ab jetzt finden alle Vorsorgeuntersuchungen im Wechsel zwischen dem Gynäkologen oder der Gynäkologin und uns statt. Die Herztöne werden mit dem Pinard-Rohr und einem Dopton gehört. Ab der 35. Schwangerschaftswoche schreiben wir auch ein CTG zu Hause. Oft ist es den Männern möglich, dabei zu sein. Sie lernen von uns die Leopoldschen Handgriffe und hören zum ersten Mal die Herztöne mit dem Pinard.

Neben dem Geburtsvorbereitungskurs verabreden wir weitere Termine, in denen wir zum Beispiel über die Erstausstattung beraten oder über das Stillen aufklären. Wir planen rechtzeitig ein Geburtsgespräch, um Wünsche, Vorstellungen und Abläufe zur Geburt zu besprechen. Dies dient ebenfalls der Aufklärung über möglicherweise akut notwendige Medikamentengaben oder eventuelle Notfälle im Kreißsaal. Auch diese Termine teilen wir untereinander auf. Bei Beschwerden bieten wir Akupunktur oder Taping an. So sieht jede Frau die verschiedenen Hebammen des Teams mindestens dreimal und die Familien und die Hebammen können sich in Ruhe kennenlernen.

Austausch im Team

Wir treffen uns einmal pro Woche zu einer Teamsitzung. Diese zelebrieren wir immer mit einem Frühstück bei einer von uns zu Hause. Hier besprechen wir die Organisation von Kursen, Kapazitäten für Geburtstermine, Abrechnung der Geburten, Dienstpläne, Homepagepflege und Qualitätssicherung. Auch aktuelle Themen der betreuten Frauen, wie vorzeitige Wehen, Verhaltensauffälligkeiten oder Befunde aus den Vorsorgeuntersuchungen, werden hier bedacht. Insbesondere ab der 34. Schwangerschaftswoche gehen wir alle aktuellen Frauen gemeinsam durch und klären vor allem folgende Fragen: Wie geht es ihr? Welche Hebamme sieht sie wann? Welche Informationen hat die Schwangere von ihrem Gynäkologen bekommen und wie groß oder klein schätzen wir nach dem Tasten das Kind? So diskutieren wir unsere Einschätzung zu jeder einzelnen Frau und ihrem Wohlbefinden.

Mira Becker, Dominique Stonner, Birte Jarden, Annike Trabert und Saskia Thiel (v.l.). Die fünf Freiberuflerinnen arbeiten als Kooperations- beziehungsweise Beleghebammen mit dem Marienkrankenhaus Hamburg zusammen.

Beispiel für einen Dienstplan im Kooperationsteam

Ein Tag – vier Dienste

Zum ersten Termin erhalten die Familien unsere Rufdienst-Telefonnummer. Diese können sie bei allen Notfällen in der Schwangerschaft und bei Geburtsbeginn anrufen. Nun sind wir Tag und Nacht für sie erreichbar. Das Rufdienst-Telefon ist ein gemeinsames Handy, das entsprechend unseres Dienstplans alle paar Tage im Team von einer Kollegin zur nächsten wechselt. Den Dienstplan schreiben wir gemeinsam. Ein Tag ist in vier Dienste aufgeteilt. Der erste ist der Rufdienst. Dieser dauert in der Regel zwei bis vier aufeinanderfolgende Tage. Die Hebamme mit dem Rufdiensttelefon steht in erster Linie für die Geburtshilfe bereit. Wenn in der Nacht eine Schwangere mit Wehen oder einem Blasensprung anruft, hat sie daher immer die Hebamme aus dem ersten Dienst direkt am Telefon. Dann werden akute Fragen am Telefon geklärt und bei Geburtsbeginn die weiteren Schritte besprochen.

Im zweiten Dienst betreuen wir die Einleitungen in der Klinik, tagsüber werden CTGs geschrieben und bei Bedarf Medikamente verabreicht. Dazu kommt die Betreuung der Frauen, die noch nicht unter der Geburt sind, wie zum Beispiel Frauen mit leichten Wehen und noch unreifem Muttermundsbefund. Außerdem bildet der zweite Dienst den sogenannten „Hintergrund” für den ersten Dienst. Sollten zwei Frauen gleichzeitig gebären, sind der erste und der zweite Dienst im Kreißsaal. Es ist nicht unüblich, dass wir nach acht bis neun Stunden Hausbesuchsmarathon noch zu einer Geburt in den Kreißsaal fahren. Wenn die Hebamme aus dem ersten Dienst länger als zwölf Stunden arbeitet oder früher ausgelöst werden möchte, übernimmt dies der zweite Dienst.

Im dritten Dienst betreuen wir unsere Schwangerenvorsorgen und Wochenbettbesuche. Sobald eine Kollegin im Kreißsaal ist, werden ihre wichtigen Hausbesuche auf den zweiten und dritten Dienst verteilt. Ebenso führt der dritte Dienst unsere Kurse durch. Wir haben einen laufenden Rückbildungskurs und an einem Wochenende pro Monat einen Geburtsvorbereitungskurs. An den Tagen des vierten „Dienstes” haben wir komplett frei. Im Schnitt kommt so jede im Team auf eine freie Woche im Monat. Erfreulicherweise lohnt sich dieses Arbeitsmodell auch finanziell, so dass wir uns und unsere Familien damit gut absichern können.

Was uns anspornt

Wir betreuen unsere Paare etwa ein Jahr lang. Während dieser Zeit haben wir eine wichtige Rolle im Leben der Frauen und ihrer Familien. Zum Teil entstehen enge Beziehungen, die die Zeit als Beleghebamme besonders werden lassen. Wir dürfen eintauchen in viele bunte Familien und in deren aufregenden Weg zum Elternwerden. Oft lernen wir auch die Großeltern kennen, treffen Paare auf der Straße oder werden zu ersten Geburtstagen eingeladen. Unsere Hebammenarbeit wird von den Frauen sehr geschätzt. Für viele ist eine Hebamme an ihrer Seite eine wichtige Begleitung geworden. Oft verunsichern Hinweise aus dem Internet die Frauen. Sie brauchen Hilfe, ihr Bauchgefühl richtig zu deuten, und versichern sich bei uns zu vielen Fragen.

Es ist uns wichtig, eine Eins-zu-eins-Betreuung zu ermöglichen und ein „Rundum-Paket” anzubieten. Wir wollen die Frauen und Paare gut kennenlernen, um sie dann in der Klinik so persönlich und individuell wie möglich betreuen zu können. Wir stehen hinter der selbstbestimmten Geburt. Deshalb sehen wir die Eins-zu-eins-Betreuung und das Kennenlernen als wichtigen Bestandteil unserer Arbeit. Die Erfahrungen mit werdenden Eltern, die unsicher, ängstlich oder selbstbewusst, manchmal neugierig oder sehr sicherheitsorientiert sind, empfinden wir als Geschenk und Herausforderung zugleich.

In Balance

Wir halten mit diesem Konzept in unserem Team die Waage zwischen einer anspruchsvollen, aber auch sehr befriedigenden Arbeit und ausreichend Freizeit. Das Modell bietet einen abwechslungsreichen Berufsalltag mit Schwangerenbetreuung, Kursprogramm, Geburtshilfe und Wochenbettbesuchen. Mit unserem Konzept haben wir einen Weg gefunden, unseren Traumberuf so auszuüben, wie wir es für unsere Frauen und uns als ideal empfinden.

Nachgefragt

Elisabeth Niederstucke: Wie kommt es, dass das System nicht nur wirksam, sondern auch lukrativ ist? Warum trägt es sich so gut?

Mira Becker: Die Rufbereitschaftspauschale der Paare ist ein essenzieller Anteil dabei. Hierdurch lassen sich bereits einige Kosten decken. Trotzdem bleibt aber ein Großteil der Rufbereitschaft unbezahlt.

Doch was es so effizient macht: Im Team wird sehr viel zwischendurch kommuniziert. Das ist oft notwendig, um akute Informationen an die Kolleginnen weiterzugeben und individuell betreuen zu können. Und das ist es, was eins zu eins bei den Frauen ankommt!

Zitiervorlage
Becker M: Beleghebammen im Team: Eins zu eins – Geht doch! DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (4): 32–36
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