Hebammen erleben sich anders, wenn sie selbstverantwortlich und eigenständig Entscheidungen treffen und sich jeder Frau individuell zuwenden können. Foto: © SimpleFoto/depositphotos.com
Die Arbeit im Kreißsaal einer Klinik ist das Haupttätigkeitsfeld von Hebammen. Wie Untersuchungen der letzten Jahren zeigen, steht es mit der Zufriedenheit der Hebammen in der klinischen Tätigkeit jedoch nicht zum Besten. Das ist unter anderem daran zu erkennen, dass es für viele Kliniken zunehmend schwieriger ist, Hebammen als Mitarbeiterinnen zu finden. 2020 hatten 48 % der Kliniken Probleme, freie Stellen im Kreißsaal oder auf der Wochenbettstation zu besetzen (DKI 2020). Daraus entsteht nicht nur eine Belastung des Kreißsaalteams, es können sogar zeitweise Schließungen auf Grund von Personalmangel folgen. 2020 waren bereits 5 % der Kliniken von solchen Schließungen betroffen (ebd.).
Ein Grund für die Unzufriedenheit von Hebammen ist eine hohe Arbeitslast mit immer wieder auftretender Betreuung von zwei bis drei Gebärenden gleichzeitig (IGES 2019, siehe auch Seite 14ff.). Dazu kommt, dass Hebammen das Gefühl haben, in der Begleitung von Schwangeren und Gebärenden nicht das tun zu können, was sie eigentlich müssten und möchten (ebd.). Nur 46 % der Hebammen stimmen zu, die eigene Arbeit im Kreißsaal selbstbestimmt als Hebamme leisten zu können (ebd.). Doch was ist mit den anderen 54 %?
Ein Forschungsprojekt zur interprofessionellen Zusammenarbeit von Hebammen mit anderen Berufsgruppen in der Klinik identifizierte das berufliche Selbstverständnis von Hebammen als zentralen Aspekt der Zusammenarbeit mit Ärzt:innen und Pflegenden (Kraienhemke 2020). Hebammen vertreten jedoch kein einheitliches berufliches Selbstverständnis, sondern formen ihre berufliche Identität nach ihren realen Arbeitsbedingungen. So ist es möglich, die eigene Tätigkeit sinnvoll zu erleben. Dies kann als Identitätskonstruktion betrachtet werden (Keupp et al. 2013). Deren Ursachen bilden nicht direkt sichtbare Strukturen der Kreißsaalarbeit. Hier spielen vor allem die formale Autorität der Medizin und die hierarchische Sozialisation der Gesundheitsberufe eine Rolle. Daneben beeinflussen auch fachliche Unsicherheit und der Umgang damit die Arbeitssituation in der Klinik (Kraienhemke 2020).
Dass die Medizin eine zentrale Position im Krankenhaus einnimmt, überrascht nicht. Was diese besondere Position jedoch beinhaltet, soll genauer betrachtet werden. Die formale Autorität von Ärzt:innen zeigt sich darin, dass sie über ihre Anwesenheit in Situationen selbst entscheiden, fachliche Entscheidungen treffen und auch den Handlungsspielraum für andere Berufsgruppen bestimmen (ebd.). Dabei ist die formale Autorität nicht an die fachliche Expertise als Mediziner:in gebunden, sondern besteht allein aus der Berufszugehörigkeit. Natürlich unterscheiden sich die Arbeitsweisen in Kliniken, es gilt jedoch zu anzuerkennen, dass eine Ärztin meist einen Geburtsraum betreten kann, egal, ob ihre medizinische Expertise benötigt wird oder nicht. Und ebenso kann sie entscheiden, nicht zu kommen – und ihre Aufgaben zu delegieren, zum Beispiel in der Nacht. Was uns erst mal sehr selbstverständlich erscheint, ist jedoch Ausdruck der formalen Autorität. Denn könnten wir Hebammen das auch? Eher nicht. Ebenso gilt es zu reflektieren, ob eigenständige Entscheidungen von Hebammen im Kreißsaal aus ihrer Berufsexpertise möglich sind oder ob eigenständige Arbeit eher zugestanden wird, wenn die Hebamme eine längere Zeit der Berufserfahrung aufweisen kann oder sich in sonstiger Weise ›bewährt‹ hat. Der entscheidende Punkt ist: Haben Hebammen einen eigenständigen Handlungsspielraum aus ihrer Berufszugehörigkeit oder kann ihr Handlungsspielraum von jeder Ärztin, in jeder Klinik anders definiert werden? Die fachliche Entscheidungskompetenz von Ärzt:innen soll nicht in Frage gestellt werden, andererseits können sie auch gegen die Fachexpertise von Hebammen entscheiden – denn sie verstehen sich in der Klinik als Gesamtverantwortliche für die (normale) Geburt und der Hebamme gegenüber weisungsbefugt (DGGG 2012). Hier steht jedoch das Organisationsstatut einer Klinik im Vordergrund und nicht eine überlegene Fachexpertise für die Geburt. Denn die Hebamme ist nach dem Hebammengesetz in der Lage, eine Geburt ohne medizinische Hilfe zu begleiten und hat die »Ausgangskompetenz« für die physiologische Geburt (§ 1 HebG; Knehe 2016).
Ein anderer Aspekt kommt noch hinzu: Alle Gesundheitsberufe in der Klinik werden hierarchisch sozialisiert (Kraienhemke 2020). Egal ob als Hebammen, Ärzt:innen oder Pflegende, wir alle erleben und lernen vom ersten Tag an im klinischen Setting, welche Position der eigene Berufsstand im hierarchischen Gefüge der Klinik innehat. In vielen Kliniken wird das bedeuten, dass der Hebammenberuf nicht mit der Medizin auf einer Stufe steht. Hebammen werden jedoch seit Jahrzehnten durch die Ausbildung in der Klinik sozialisiert und so ist keine Hebamme dieser Sozialisation entgangen – egal, ob ihr Tätigkeitsfeld später im außerklinischen Bereich liegt oder nicht.
Es gibt auch noch andere Einflussfaktoren für die Arbeit im Kreißsaal, die nicht so offensichtlich sind. Sie liegen auf der Ebene der Person und betreffen die fachliche Unsicherheit und den Umgang mit dieser (ebd.). Es ist zu beobachten, dass Hebammen und Ärzt:innen nicht immer fachlich sicher sind. Das bezieht sich auf die Befunderhebung und insbesondere auf die Abgrenzung zur Pathologie. Beides gehört aber zu den wesentlichen Kompetenzen einer Hebamme. Woher stammt diese Unsicherheit? Ist sie allein in der einzelnen Person begründet? Oder ist es schon länger nicht mehr möglich, während Ausbildung oder Studium eine Fachexpertise als Hebamme und eigenständiges Entscheiden zu lernen? Fachliche Unsicherheit bekommt eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem Umgang mit Unsicherheit. Hebammen greifen bei Unsicherheit eher auf die Erfahrung anderer Personen zurück als eigene Lösungsstrategien zu nutzen (ebd.). Natürlich ist es sinnvoll, bei Unsicherheit Unterstützung einzufordern und erfahrenere Hebammenkolleginnen einzubeziehen. Liegt die Hilfe bei Unsicherheit jedoch zuerst in der Einbeziehung von Ärzt:innen, wird die bestehende Hierarchie unterstützt und verfestigt.
Die hier vorgestellten Strukturen der Kreißsaalarbeit konnten in einem Forschungsprojekt als Ursachen für die Konstruktion des beruflichen Selbstverständnisses von Hebammen analysiert werden. In der klinischen Arbeit war keine klare und eindeutig auf die rechtlichen Grundsätze bezogene Hebammenidentität zu erkennen. Es wurden dagegen verschiedene Selbstverständnisse deutlich. Dabei ist wichtig, dass nicht unterschiedliche Hebammen ein anderes Verständnis ihrer Arbeit hatten. Sondern Hebammen hatten insgesamt unterschiedliche Anteile von beruflicher Identität. Die Theorie der Hebammenidentitäts-Konstruktion (ebd.) bietet einen Erklärungsansatz für dieses Phänomen und die beruflichen Handlungsweisen von Hebammen im klinischen Alltag.
Hebammen tragen demnach drei unterschiedliche Vorstellungen zu ihrer Arbeit in sich: je eine Teil-Identität als »selbständige Expertin«, als »Teil eines Teams« und als »Medizin-orientierte Begleiterin der Frau«. Die drei Teile unterscheiden sich insbesondere in den Leitgedanken der Arbeit und dem Verständnis der eigenen Kompetenz (siehe Tabelle).
Die soziologische Vorstellung der Identitäts-Konstruktion geht davon aus, dass sich das Selbstverständnis daraus entwickelt, in welchen Situationen wir jeden Tag agieren und wie wir uns selbst darin erleben (Keupp et al. 2013). Wir erleben uns als Hebammen also anders, wenn wir selbstverantwortlich und eigenständig Entscheidungen treffen und uns jeder Frau individuell zuwenden können, als in einer selbstverständlichen Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen – auch bei physiologischen Geburten oder in Betreuungssituationen, die von einer medizinischen Deutung geprägt sind. Um alle diese unterschiedlichen Situationen sinnvoll erleben zu können, konstruieren Hebammen unterschiedliche Teile von Identität. Dadurch ist es möglich, den klinischen Arbeitsalltag sinnvoll zu erleben und nicht frustriert darüber zu sein, nicht (immer) eigenständig handeln zu können. Dies kann auch als Überlebensstrategie angesehen werden. In einer realen Alltagssituation bedeutet es, dass Hebammen in der Lage sind, im Kreißsaal 1 eine Geburt geduldig und abwartend zu betreuen, weil sie der Überzeugung sind, dass Geburt ein individueller Prozess ist, der seine Zeit braucht. Im Kreißsaal 2 dagegen, auch in einer Situation ohne Besonderheiten, beansprucht eine Ärztin die Führung in der Begleitung und Hebammen arbeiten der Ärztin zu und akzeptieren Interventionen. Hier beschränkt sich die Hebamme auf die Betreuung der Patientin und verzichtet auf eine eigenständige Einschätzung der Situation. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass eine Hebammen-Identität als selbstständige Expertin im Krankenhaus nicht immer Grundlage der Arbeit ist. Wenn ich meine Überzeugungen als Hebamme passend konstruiere, kann ich zufriedener arbeiten. Wie sonst könnte eine Gebärende oder Wöchnerin zur »Patientin« werden, wenn nicht aus der Perspektive der Medizin.
Was werden die nun kommenden Hebammenstudierenden im Alltag in den Geburtskliniken erleben? Lernen sie an der Seite von Hebammen selbstständiges Entscheiden und die geduldige Begleitung von Geburten? Welche Strategien lernen sie, um mit Unsicherheit umzugehen? Es wird auch von der beruflichen Identität der Hebammen abhängen, wie Hebammenstudierende alltägliche Situationen erleben.
Wir können die Strukturen der Arbeit im Kreißsaal nicht so leicht verändern, aber ein erster Schritt ist, die Situation realistisch zu betrachten. Die selbstverständliche Zusammenarbeit auch in physiologischen Situationen verändert unseren Blick auf unseren Beruf und lässt es vielleicht eines Tages unmöglich erscheinen, eine Geburt allein als Hebamme zu begleiten. Das könnte das Ende unseres Berufes einläuten.
Deutsches Krankenhaus Institut (DKI): Krankenhaus- Barometer. Umfrage 2020. Düsseldorf 2020. www.dki.de/sites/default/files/anylink/Krankenhaus%20Barometer%202020%20-%20final_0.pdf
HebG – Hebammengesetz: Gesetz über das Studium und den Beruf von Hebammen. Hebammengesetz vom 22. November 2019 (BGBl. I S. 1759)
Institut für Gesundheit und Sozialforschung (IGES): Stationäre Hebammenversorgung. Gutachten für das Bundesministerium für Gesundheit. Berlin 2019. www.iges.com/sites/igesgroup/iges.de/myzms/content/e6/e1621/e10211/ e24893/e24894/e24895/e24897/attr_objs24976/IGES_stationaere_Hebammenversorgung_092019_ger.pdf
Keupp H, Ahbe T, Gmür W, Höfer R, Mitzscherlich B, Kraus W, Straus F: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 5. Auflage. rororo. Reinbek 2013
Knehe HM: Die Haftung der Hebamme. Springerverlag. Berlin 2016
Kraienhemke M: Die Theorie der Hebammenidentitäts-Konstruktion im Kontext von interprofessioneller Zusammenarbeit und Medikalisierung der Geburt. Dissertation. Universität Bremen 2020. https://media.suub.uni-bremen.de/bitstream/elib/1727/1/00108532-1.pdf