Die eigene Praxis in der Heimat
Unsere Hebammenkollegin Yusra ist 50 Jahre alt. Vor ihrer Flucht 2015 hat sie in Aleppo gewohnt und gearbeitet. Aleppo hatte vor dem Krieg 2,5 Millionen Einwohner und war eine wirtschaftlich blühende, pulsierende Stadt. Syrien ist ungefähr halb so groß wie Deutschland. Vor dem Bürgerkrieg 2011 hatte Syrien 21 Millionen Einwohner, davon befanden sich 2015 rund 11,6 Millionen innerhalb oder außerhalb des Landes auf der Flucht, ist bei Wikipedia zu lesen.
Yusra hat nach dem Abitur an der Medizinischen Universität ein dreijähriges Krankenpflegestudium absolviert und anschließend in zwei Jahren die Hebammenausbildung gemacht. Andere syrische Hebammen, die kein Abitur haben, besuchen ab 15 Jahren eine Gesundheits- und Krankenpflegeschule, um dann eine Hebammenausbildung anzuschließen. Die Ausbildungsbedingungen sind in Syrien sehr unterschiedlich.
Yusra erzählt, dass es in Syrien viele Privatspitäler gebe. Die Sectiorate betrage dort 80 bis 90 %. Frauen, die nicht viel Geld haben, könnten kostenlos in den großen Unikliniken oder in öffentlichen Krankenhäusern gebären. Die Sectiorate liege dort bei etwa 40 %. Die Frauen würden mit ihren Neugeborenen üblicherweise zwei bis drei Stunden nach der Geburt das Krankenhaus verlassen. Die Wöchnerin werde dann von ihrer Familie und von Nachbarinnen versorgt.
Hebammen betreuten Schwangere in einem dem Krankenhaus angeschlossenen Gesundheitszentrum, einer Ambulanz oder in einer eigenen Hebammenpraxis, so wie Yusra. Bei medizinischen Problemen werde eine Gynäkologin zugezogen.
Yusra erzählt, dass in ihrem Wohnhaus in Aleppo im Erdgeschoss ihre Praxis mit einem eigenen Eingang untergebracht war. Sie hatte drei Geburtszimmer, ein Badezimmer, einen kleinen Untersuchungsraum und ein Büro. Drei Pflegeassistentinnen halfen ihr bei der Arbeit. Im ersten Stock wohnte die Schwiegermutter, die Yusras zwei Söhne Mohammed und Wasim bei sich hatte, während sie beschäftigt war. Ganz oben im zweiten Stock war die Wohnung der Familie. Yusra erzählt mit leuchtenden Augen, dass sie von 1994 bis zu ihrer Flucht ganz viele Familien betreut habe. Bei genauerem Nachfragen glaube ich meinen Ohren nicht zu trauen, als sie mir sagt, dass es meist 30 bis 40 Geburten im Monat waren. Ich höre aus Yusras Erzählungen, dass die Frauen die kompetente und warme Art »ihrer« Hebamme so geschätzt haben, dass sie diese persönliche Geburtsbegleitung dem großen öffentlichen Krankenhaus vorgezogen haben. Wenn eine Verlegung notwendig war, brachte sie die Frauen in das nächste Privatkrankenhaus, das fünf Minuten mit dem Auto entfernt lag. Auf meine Frage, wer denn dann die Kosten übernommen hat, meint sie knapp: »Ganz oft ich.«
Die Bezahlung für Hausgeburten lag zwischen einer Mindestabgeltung und einem Höchstbetrag, je nach finanziellen Möglichkeiten der Eltern, vom Hebammenverband vorgeschrieben.
Die Frauen wurden, wenn alles in Ordnung war, zwei bis drei Stunden nach der Geburt abgeholt. Wenn im Wochenbett alles normal verlief, gab es keinen Hebammenbesuch zu Hause. Yusra bestand allerdings darauf, dass die Frauen mit ihrem Neugeborenen nach etwa einer Woche zu ihr in die Praxis kamen.
Auf dem Land machten Hausgeburten in Syrien nach Yusras Einschätzung 90 bis 100 % aus. Sechs bis zwölf Kinder zu gebären, galt in ihrer Heimat als normal. Trotz eigener Kinder übte eine Hebamme ihren Beruf in der Regel voll aus. Yusra gab ihre beiden Söhne zu ihrer Schwester mit eigenen Kindern oder zur Großmutter, um arbeiten zu können. Ab einem Alter von sechs Jahren waren die Kinder viel mit dem Vater zusammen, den sie kurz darauf im Krieg verloren haben.