Eine aktuelle Leitlinie stellt zahlreiche Maßnahmen zur Lösung einer Schulterdystokie vor und zeigt, dass in der Praxis immer verschiedene Lösungsoptionen existieren. Dabei ist die Diagnose herausfordernd und der Risiko-Vermeidungs-Ansatz komplex, da eine Schulterdystokie auch durch Ungeduld während der Geburt provoziert werden kann.
Eine Schulterdystokie zählt zu den seltenen und schweren geburtshilflichen Notfällen. In der Leitlinie wird davon ausgegangen, dass sie in 0,2 bis 3,0 % aller vaginalen Geburtsverläufe auftritt. Bei einer Schulterdystokie kommt es nach der Geburt des kindlichen Köpfchens zu einem Stillstand der Geburt, weil die Geburt der kindlichen Schultern erschwert, verzögert oder gar nicht erfolgt. Da es zu einer Asphyxie des Kindes kommen kann, handelt es sich um eine lebensbedrohliche Situation für das Kind und eine Situation mit schwerem Verletzungsrisiko für die Mutter.
Geburtsmechanisch können zwei Varianten auftreten: Der hohe Schultergeradstand, bei dem die Schultern nicht in den querovalen mütterlichen Beckeneingang eintreten, und der tiefe Schulterquerstand, bei dem die Schultern nicht in den längsovalen Beckenausgang eintreten.
Definition und Diagnose
»Eine Schulterdystokie ist ein seltener, unvorhersehbarer und bei einer vaginalen Geburt nicht vollständig vermeidbarer geburtshilflicher Notfall. Es handelt sich um einen akut auftretenden Geburtsstillstand nach Austritt des kindlichen Kopfes. Die nachfolgende Geburt des Rumpfes verzögert sich.« (S2k-Leitlinie Schulterdystokie, AWMF, 2024, S. 39)
Die Schulterdystokie gilt trotz bestmöglicher Betreuung nicht als vollständig vermeidbar und erfordert in der Praxis ein sofortiges Handeln, um die Gesundheit des Kindes und der Mutter zu erhalten. Hintergründe und Management zur Schulterdystokie wurden kürzlich im Rahmen einer S2k-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich medizinischen Fachgesellschaften zusammengestellt (AWMF, 2024).
Leitlinie Schulterdystokie
Die S2k-Leitlinie Schulterdystokie wurde am 1. Oktober 2024 veröffentlicht. Sie wurde herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG) sowie der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG). Die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaften (DGHWi) und der Deutsche Hebammenverband (DHV) haben mit beteiligten Leitlinienautorinnen mitgewirkt sowie Vertreter:innen für die Konsensuskonferenz benannt.
In der S2k-Leitlinie Schulterdystokie werden Management, First-Line-, Second-Line- und Last-Resort-Manöver aufgezeigt, um mögliche Komplikationen einer Schulterdystokie zu vermeiden. Diese können vielfältig sein und umfassen unter anderem neonatale und maternale Morbidität und Mortalität, kindliche Asphyxie, mütterliche und kindliche Frakturen sowie kindliche Plexus-brachialis Paresen.
Risikofaktoren und Prävention
»Da eine Schulterdystokie unabhängig von bekannten Risikofaktoren auftreten kann, sollte bei einer vaginalen Geburt immer mit dem Auftreten gerechnet werden« (Statement 3.S3, Konsensusstärke +++)
In der S2k-Leitlinie wird darauf hingewiesen, dass die Hälfte aller Schulterdystokien ohne bekannte Risikofaktoren auftreten. Wichtig sind daher gute Vorbereitung und Logistik, gute Kommunikation, ausreichende personelle Ressourcen sowie gute räumliche Ausstattung.
»Schwangeren im Zustand nach Schulterdystokie bzw. mit erheblichen Risiken für eine Schulterdystokie soll im Hinblick auf eine angestrebte vaginale Geburt (…) eine Geburt in einem geburtshilflichen Zentrum mit angeschlossener Kinderklinik empfohlen werden.« (Empfehlung 3.E2, Konsensusstärke +++)
Bei der Beratung zum Geburtsmodus aufgrund des kindlichen Schätzgewichts wird empfohlen zu differenzieren, ob ein mütterlicher Diabetes vorliegt oder nicht.
»Eine Sectio Caesarea soll bei Schwangeren ohne Diabetes ab einem Schätzgewicht von 5.000 g, bei Schwangeren mit einem Diabetes ab einem Schätzgewicht von 4.500 g angeboten werden.« (Empfehlung 3.E7, Konsensusstärke +++)
Erkennen einer Schulterdystokie
In der S2k-Leitlinie wird darauf hingewiesen, dass die Diagnosestellung einer Schulterdystokie retrospektiv einfach erscheinen mag, dies im Geburtsverlauf selbst jedoch nicht ist. Ein herausfordernder Aspekt bei der Diagnose einer Schulterdystokie besteht darin, dass es bei vaginalen Geburten nach der Geburt des kindlichen Köpfchens zu einer physiologischen Wehenpause kommt. Das kindliche Köpfchen verbleibt während dieser Pause häufig in unrotiertem Zustand und dreht sich erst mit der nächsten Wehe. Dies kann zur Fehldiagnose einer Schulterdystokie bei physiologischem Geburtsverlauf führen. Das kindliche Köpfchen kann zu diesem Zeitpunkt aus physiologischen Gründen heraus gar nicht rotieren. In der S2k-Leitlinie wird dies durch Literatur untermauert, wonach bei physiologischen Geburtsverläufen dabei meist ein Intervall von 60 Sekunden überschritten wird.
In diesem Zusammenhang wird auf Evidenzen verwiesen, dass gerade ein abwartendes Vorgehen während dieser sensiblen Phase der Geburt das Risiko einer Schulterdystokie senkt. Die Leitlinie gibt Hinweise darauf, dass die Entwicklung des kindlichen Rumpfes direkt nach der Geburt des kindlichen Köpfchens erhebliche Verletzungen bei Mutter und Kind bewirken kann. Greift man während dieser Phase zu früh ein, kann dadurch eine Schulterdystokie verursacht werden. Das Abwarten während dieser Phase wird in der Leitlinie protektiv bewertet.
»Nach dem Austritt des kindlichen Kopfes sollte die physiologische Rotation der Schultern bis zur nächsten Wehe abgewartet werden, um nicht durch eine forcierte Kindsentwicklung eine Schulterdystokie zu provozieren.« (Empfehlung 1.E1, Konsensusstärke +++)
Tritt eine Schulterdystokie auf, gelten als Leitsymptome das »Turtle-Sign« (Schildkrötenzeichen) und eine fehlende externe Rotation des bereits geborenen kindlichen Köpfchens. Beide Symptome stehen in direktem Zusammenhang zur vorliegenden Problematik der kindlichen Schultern: Da die kindlichen Schultern bei einem hohen Schultergeradstand nicht regelrecht in den mütterlichen Beckeneingang oder bei einem tiefen Schulterquerstand nicht regelrecht in den längsovalen mütterlichen Beckenausgang eintreten, bleibt die externe Rotation des kindlichen Köpfchens aus. Der kindliche Kopf zieht sich nach seiner Geburt leicht in den Geburtskanal zurück. Er erscheint wie aufgepresst auf den Scheidenausgang und kann an den eingezogenen Kopf einer Schildkröte erinnern. Empfohlen wird zunächst ein abwartendes Vorgehen unter Berücksichtigung von vier Prädiktoren bei der Diagnose einer Schulterdystokie:
- Schwierigkeit bei der Geburt des Gesichts und des Kinns
- Schildkrötenzeichen
- Ausbleiben der äußeren Rotation des kindlichen Kopfes
- Ausbleiben der kindlichen Schulterrotation.
Management und Handlungsalgorithmus
Tritt eine Schulterdystokie auf, soll einem Handlungsalgorithmus gefolgt, jedoch gleichzeitig individuell gehandelt werden.
Gute Kommunikation
Eine gute Kommunikation innerhalb des Teams sowie mit den Eltern wird empfohlen.
»Mit dem Erkennen soll die Diagnose Schulterdystokie allen an der Geburt beteiligten Personen klar kommuniziert werden.«(Empfehlung 4.E15, Konsensusstärke +++)
Klärung Leitung und Dokumentation
Die erfahrenste anwesende Fachperson soll die Leitung der Geburt übernehmen. Eine weitere Person soll im Idealfall mit der Dokumentation beauftragt werden.
»Die Gebärende soll bei einer Schulterdystokie über die eingetretene Notfallsituation und die dadurch erforderlichen Manöver situationsgerecht informiert werden.« (Empfehlung 5.E18, Konsensusstärke +++). Bei der Dokumentation soll der exakte »inhaltliche und zeitliche Ablauf aller involvierten Beteiligten, deren Diagnosen, Befunde, Maßnahmen bzw. Manöver und Folgen lückenlos beschrieben werden.«
»Bei Geburten mit Schulterdystokie soll minutengenau, exakt handlungsgetreu und für fachkundige Dritte nachvollziehbar dokumentiert werden.«(Empfehlung 7.E31, Konsensstärke +++)
Analgesie
Eine ausreichende Analgesie der Gebärenden soll gewährleistet sein.
»Eine ausreichende Analgesie der Mutter ist ein grundlegender Baustein für die Kindsentwicklung bei einer Schulterdystokie – insbesondere bei den Second-Line und Last-Resort-Manövern.« (Statement 5.S13, Konsensusstärke +++)
Debriefing
»Nach einer Schulterdystokie sollte den involvierten Teammitgliedern eine Nachbesprechung (Debriefing) angeboten werden.« (Empfehlung 7.E32)