Mit zunehmender Verzweiflung gewinnen die Suizidgedanken an Gewicht, aus dem Gedankenspiel werden konkrete Ideen. Foto: © Andrea Waschkowski

Suizid ist in Industrieländern die häufigste Todesursache bei Müttern in der Wochenbettzeit. Depressionen und Suizidgedanken sind daher sehr ernst zu nehmen. Nichts kann einer Frau in dieser Situation helfen, außer ihre Probleme offen anzusprechen und ihr möglichst schnell professionelle psychiatrische Hilfe zu bieten.

Nach aktuellen Schätzungen leiden etwa 10 bis 15 % aller Frauen nach einer Geburt unter einer Depression. Diese postpartalen Depressionen oder auch Depressionen mit postpartalem Beginn treten unabhängig vom sozioökonomischen Status der Betroffenen auf. Für Deutschland bedeutet das, dass jährlich rund 70.000 Frauen, ihre Kinder und Familien davon betroffen sind, wenn man etwa die Anzahl von 737.575 Geburten im Jahr 2015 zugrunde legt (DESTATIS 2017).

In den Industrieländern ist Suizid die häufigste Todesursache von Müttern in der Perinatalzeit (2 bis 3,7 Suizide auf 100.000 Lebendgeburten in USA und Europa). Am Fallbeispiel von Anja Kaiser (Name geändert) wird so eine suizidale Entwicklung nach der Geburt eines Kindes exemplarisch dargestellt (siehe Kasten Seite 56).

Betreuung rund um die Uhr genügt nicht

Der Fall zeigt, dass selbst bei Frauen, die bisher nie mit Depressionen oder psychischen Erkrankungen zu tun hatten, im Rahmen einer psychischen Störung nach der Geburt eines Kindes auch Suizidgedanken auftreten können. Meist erschrecken die Betroffenen zunächst selbst davor und versuchen, die Gedanken wegzuschieben. Mit zunehmender Verzweiflung gewinnen die Suizidgedanken dann an Gewicht, aus dem Gedankenspiel werden konkrete Ideen, wie sie »es« machen könnten. Irgendwann wird es als der einzige Ausweg aus einer vermeintlich ausweglosen Situation gesehen, sich selbst das Leben zu nehmen. Nicht selten sind die betroffenen Frauen davon überzeugt, dass ihre Familie und auch ihr Kind ohne sie besser dran wären.

Bei Suizidgedanken muss immer ein Facharzt, am besten direkt ein Psychiater oder eine Psychiaterin, hinzugezogen werden, um die Umsetzung eines Suizids zu verhindern. Wenn der Facharzt für Psychiatrie eine ernstzunehmende Suizidgefahr feststellt und eine stationäre Behandlung empfiehlt, sollte dieser Empfehlung unbedingt gefolgt werden! Es reicht nicht aus, dass Angehörige und Freunde in guter Absicht versuchen, eine »Rund-um-die-Uhr-Betreuung« zu organisieren. Oft steht dahinter der Gedanke, der Mutter eine stationäre psychiatrische Behandlung zu »ersparen«.

Der Wunsch, sich das Leben zu nehmen, ist aber aus medizinischer Sicht ein sehr ernstzunehmendes Symptom, das nicht unterschätzt werden darf. Ein Suizidversuch kann bei quasi jeder psychischen Erkrankung auftreten. Manchmal ist die Verzweiflung der Frauen so stark, dass ein erweiterter Suizid vorkommt, bei dem die Mutter ihr Neugeborenes nicht alleine zurücklassen will, zuerst das Kind tötet und dann sich selbst. Besondere Vorsicht ist geboten bei postpartaler Depression und bei jeder Art von Psychose (vorbekannte Schizophrenie, Drogenpsychose, Psychose im Wochenbett). Selbsttötungsversuche, wie im Fall von Anja Kaiser mit der Umsetzung von einer Sekunde auf die andere, sind nie auszuschließen. Auch Versprechungen oder Abmachungen mit suizidalen Menschen sind meist nicht ausreichend. Wenn sie die Situation schon als so hoffnungslos empfinden, dass der Tod der einzig sinnvolle Ausweg ist, oder auch im Fall von psychotischen Symptomen wie bei einer Psychose oder psychotischen Depression, können sie solche Absprachen manchmal nicht mehr einhalten.

Oft wirkt es auf Angehörige und FreundInnen kurz vor einem Suizidversuch so, als ob es der betroffenen Person plötzlich besser gehe. Das kann aber ein fataler Irrtum sein und darauf hindeuten, dass die betroffene Person tatsächlich gelöster ist, weil sie nach langem Ringen die Entscheidung für den Suizid getroffen hat. Diese Entwicklung ist auch für Menschen, die in der Psychiatrie erfahren sind, nicht leicht zu erkennen. Der österreichische Psychiater Walter Pöldinger hat sie 1968 als die »Stadien der suizidalen Entwicklung« beschrieben (siehe Kasten).

Stadien der suizidalen Entwicklung

1. Stadium: Erwägung

  • Suizid wird als mögliche Lösung aller Probleme und Schwierigkeiten in Betracht gezogen.

2. Stadium: Ambivalenz

  • Hin- und Hergerissensein zwischen Wünschen zu Leben und dem Gefühl, keine andere Möglichkeit zu haben, als sich das Leben zu nehmen.
  • Selbsterhaltende und selbstzerstörerische Kräfte stehen miteinander in Konflikt.
  • Häufig kommt es zu direkten Suizidankündigungen.

3. Stadium: Entschluss

  • Die Betroffene hat sich für eine Lösung entschieden (Suizid) und wirkt auf seine Umgebung meistens ruhiger und entspannter = »Ruhe vor dem Sturm«.
  • Suizidgedanken werden eher indirekt formuliert.

Quelle: Pöldinger 1968

Suizidgedanken oder geäußerte Suizidabsichten sind immer eine Indikation dafür, fachpsychiatrische Behandlung in Anspruch zu nehmen! Wenn Hebammen oder andere Begleitende unsicher sind, wohin sie sich wenden können: Rettungsdienst oder Feuerwehr wissen, welche Klinik zuständig ist. Nach dem Sektorprinzip steht überall in Deutschland rund um die Uhr und auch am Wochenende eine psychiatrische Klinik zur Verfügung, um eine Frau mit Suizidgedanken zu behandeln. Davor zurückzuschrecken wäre falsch!

Im Falle von schweren Bauchschmerzen, die auf eine akute Blinddarmentzündung hindeuten, würde man eine Frau auch nicht zu Hause betreuen, nur weil sie noch »im Wochenbett« ist. Genauso stellt auch Suizidalität ein schwerwiegendes psychiatrisches Symptom dar, das ebenfalls eine fachärztliche Notfallbehandlung erfordert. Oft ist dann eine stationäre Aufnahme nötig, um die Betroffene vor der akuten Eigengefährdung zu schützen und medikamentös zu behandeln.

Mutter-Kind-Behandlung folgt später

Inzwischen gibt es Krankenhäuser, die eine sogenannte Mutter-Kind-Behandlung anbieten. Das ist grundsätzlich eine erfreuliche Entwicklung, kommt bei akuter Suizidalität der Mutter aber zunächst nicht in Frage.

Oft ist aber schon nach wenigen Tagen eine deutliche Entlastung der Patientin zu erleben, wenn sie Hilfe bekommt, darüber informiert wird, dass es sich um eine postpartale Depression handelt, die jede zehnte Frau nach der Geburt eines Kindes betrifft – und bei der eben auch häufig Suizidgedanken auftreten. Im weiteren Verlauf kann die Behandlung in einer Mutter-Kind-Einheit einer psychiatrischen Klinik dann durchaus sinnvoll sein.

Ansprechen entlastet betroffene Frauen

Suizidalität tritt häufig im Rahmen von Depressionen auf. Der überwiegende Teil von Menschen, die schon einmal eine depressive Episode erlebt haben, hat auch zu irgendeinem Zeitpunkt Suizidgedanken gehabt. Es ist für betroffene Frauen daher entlastend, wenn das Thema ohne Scheu angesprochen wird. Zum Beispiel: »Andere Mütter in Ihrer Situation haben schon den Gedanken gehabt, sich selbst etwas anzutun. Ist Ihnen das auch schon in den Sinn gekommen?« Man kann dabei nichts falsch machen. Nur dazu zu schweigen, wäre ein Fehler. Oft besteht die Angst, dass man eine Frau durch das Ansprechen von Suizidgedanken erst auf die Idee bringen würde. Dies ist aber nicht so.

Wichtig ist auch abzugrenzen, im Rahmen welcher psychischen Störung die Suizidalität nach der Geburt aufgetreten ist. Ob sich dahinter eine postpartale Depression oder eine Psychose verbirgt, ob der Wunsch, sich das Leben zu nehmen, Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung ist oder auf eine zurückliegende Traumatisierung, wie beispielsweise sexuellen Missbrauch, hindeutet, die durch die Geburt reaktiviert wurde, kann nur eine Psychiaterin oder ein Psychiater erkennen und entsprechend darauf reagieren.

Mut zum offenen Umgang

Wie ist es mit Anja Kaiser und ihrer Tochter weitergegangen? Sie hat den Suizidversuch überlebt, aber sie hat lange mit ihren schweren Verletzungen zu kämpfen gehabt. Sie hat einige Operationen hinter sich, viele Monate in Kliniken verbracht und eine dauerhafte Gehbehinderung zurückbehalten. Nach der Notfallversorgung wurde sie in eine psychiatrische Klinik verlegt. Dort zeigte sich, dass ihre Depression gut auf Antidepressiva ansprach und die Symp­tome rasch abklangen.

Die Beziehung zu ihrer Tochter ist heute gut. Hätte man im Krankenhaus oder in der Familie den Mut zu einem offenen Umgang mit der psychischen Störung gezeigt und eine psychiatrische Behandlung direkt begonnen, hätte man Anja Kaiser und ihrer Tochter viel mehr ersparen können als den Kontakt zum Psychiater.

Fallbeispiel: Anja Kaiser*
Wenn die Schuldgefühle zu stark werden

Die 29 Jahre alte Anja Kaiser freute sich auf die Geburt ihres ersten Kindes. Sie lebte in einer glücklichen Ehe und war mit ihrem Wunschkind rasch schwanger geworden. Ihre Schwangerschaft erlebte sie sehr positiv. Auch die Spontangeburt verlief ohne Komplikationen. Deswegen verstand sie die Welt nicht mehr, als sie bereits wenige Stunden nach der Geburt starke innere Unruhe und Stimmungsschwankungen an sich bemerkte. Obwohl das Stillen gut klappte, war sie selbst appetitlos, schlief nachts nicht und fand keine Ruhe mehr. Ihr ständiges Weinen hielt ihre Familie für einen »typischen Babyblues«. Im Krankenhaus tat man ihren Zustand damit ab, dass es vielen Müttern so gehe und dass sie sich zusammenreißen müsse, damit sie ihr Kind stillen könne und damit ihr der Mann nicht weglaufe.

A. Kaiser erkannte sich selbst nicht wieder. Je mehr die Familie sie aufzumuntern versuchte, umso schlechter fühlte sie sich. Sie hatte überhaupt keine Freude an ihrem Kind. Massive Angst macht ihr der Gedanke, ihre Tochter in wenigen Wochen alleine versorgen zu müssen, wenn die Familie abgereist und ihr Mann wieder arbeiten ginge. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie konnte fast nicht mehr atmen. Ihre Gliedmaßen fühlten sich wie Blei an. Gleichzeitig fühlte sie sich innerlich getrieben, konnte keinen klaren Gedanken fassen und hatte das Gefühl, einfach nur wegrennen zu müssen. Sie fühlte sich von allem überfordert.

Anja Kaiser war sich sicher, ihr Kind nicht genug lieben zu können. Sie beobachtete die anderen Mütter auf der Wochenstation, denen die Versorgung des Kindes so leicht zu fallen schien. Während die ein Lächeln auf dem Gesicht hatten, liefen bei ihr die Tränen. Zu den starken Versagensängsten kamen daher schnell Schuldgefühle. War sie nicht nutzlos für ihre Familie, wertlos als Mutter? »Wenn ich mich bei jedem von euch Kindern so angestellt hätte …«, hörte sie ihre Mutter sagen. Oder: »Du hast das Kind doch gewollt.«

Bald formte sich der Gedanke in ihrem Kopf, dass ihre Familie ohne sie besser dran wäre. Ihr Mann könnte wieder heiraten und die Tochter bei einer richtigen Mutter aufwachsen. Gegenüber ihrem Bruder äußerte sie einmal weinend: »Wenn ich nicht so feige wäre, dann würde ich aus dem Fenster springen.« Ihre Familie reagierte mit Bestürzung: – »Sag doch sowas nicht …« – und entschied, sie zu Hause erstmal nicht alleine zu lassen.

Eigentlich sollte sie das beruhigen, aber sie schämte sich dafür bloß noch mehr. Sie wollte doch so gerne die perfekte Mutter sein, wie sie es sich in der Schwangerschaft ausgemalt hatte. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte riss sie sich zusammen, auch wegen der enormen Schuldgefühle ihrer Tochter und ihrer Familie gegenüber. Eine Woche nach der Entlassung aus dem Krankenhaus passierte es dann: In wenigen unbeaufsichtigten Sekunden sprang Anja Kaiser aus dem Fenster ihrer Wohnung im ersten Stock. Bei diesem unbeaufsichtigten Moment handelte es sich um die Zeit, die ihre Mutter brauchte, um dem Postboten die Tür zu öffnen.

*Der Name wurde geändert.


Hinweis: 

Resümee für die Praxis

  • Suizid ist die häufigste Todesursache von Müttern in der Perinatalzeit in Industrieländern.
  • Ein Suizidversuch kann bei quasi jeder psychischen Erkrankung auftreten.
  • Besondere Vorsicht ist geboten bei postpartaler Depression und bei jeder Art von Psychose (vorbekannte Schizophrenie, Drogenpsychose, Psychose im Wochenbett).
  • Auch der sogenannte erweiterte Suizid kann vorkommen, bei dem die Mutter ihr Neugeborenes nicht alleine zurücklassen will, zuerst das Kind tötet und dann sich selbst.
  • Bei Suizidalität gilt es zu handeln und nicht unter dem Gedanken, einer Frau vermeintlich eine psychiatrische Behandlung zu ersparen, Mutter und Kind einem Risiko auszusetzen.
  • Sprechen Sie das Thema offen an, wenn Sie einen Verdacht haben – die betroffenen Frauen sind entlastet, wenn ihnen professionell und ohne Wertung (»Du müsstest doch jetzt glücklich sein…«) Hilfe angeboten wird.
  • Suizidgedanken oder geäußerte Suizidabsichten sind immer eine Indikation dafür, fachpsychiatrische Behandlung in Anspruch zu nehmen!
  • Nach dem Sektorprinzip steht überall in Deutschland eine psychiatrische Klinik rund um die Uhr und am Wochenende zur Verfügung, um eine Frau mit Suizidgedanken zu behandeln. Rettungsdienst oder Feuerwehr wissen, welche Klinik zuständig ist.

Zitiervorlage
Dorsch V: Suizidalität im Wochenbett: Ansprechen rettet Leben! DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (11): 54–57
Literatur

DESTATIS 2017: Zahl der Lebendgeborenen in Deutschland 2015. www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Geburten/Geburten.html (letzter Zugriff: 17.9.2017)

Gressier F, Guillard V, Cazas O et al.: Risk factors for suicide attempt in pregnancy and the post-partum period in women with serious mental illnesses. J Psychiatr Res 2017. 84: 284–291

Orsolini L, Valchera A, Vecchiotti R et al.: Suicide during Perinatal Period: Epidemiology, Risk Factors, and Clinical Correlates. Front Psychiatry 2016. 12: 7:138

Pöldinger W: Die Abschätzung der Suizidalität. Verlag Hans Huber 1968

Rohde A, Dorsch V, Schäfer Ch: Psychisch krank und schwanger – geht das? Kohlhammer Verlag 2014

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