Die 29 Jahre alte Anja Kaiser freute sich auf die Geburt ihres ersten Kindes. Sie lebte in einer glücklichen Ehe und war mit ihrem Wunschkind rasch schwanger geworden. Ihre Schwangerschaft erlebte sie sehr positiv. Auch die Spontangeburt verlief ohne Komplikationen. Deswegen verstand sie die Welt nicht mehr, als sie bereits wenige Stunden nach der Geburt starke innere Unruhe und Stimmungsschwankungen an sich bemerkte. Obwohl das Stillen gut klappte, war sie selbst appetitlos, schlief nachts nicht und fand keine Ruhe mehr. Ihr ständiges Weinen hielt ihre Familie für einen »typischen Babyblues«. Im Krankenhaus tat man ihren Zustand damit ab, dass es vielen Müttern so gehe und dass sie sich zusammenreißen müsse, damit sie ihr Kind stillen könne und damit ihr der Mann nicht weglaufe.
A. Kaiser erkannte sich selbst nicht wieder. Je mehr die Familie sie aufzumuntern versuchte, umso schlechter fühlte sie sich. Sie hatte überhaupt keine Freude an ihrem Kind. Massive Angst macht ihr der Gedanke, ihre Tochter in wenigen Wochen alleine versorgen zu müssen, wenn die Familie abgereist und ihr Mann wieder arbeiten ginge. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie konnte fast nicht mehr atmen. Ihre Gliedmaßen fühlten sich wie Blei an. Gleichzeitig fühlte sie sich innerlich getrieben, konnte keinen klaren Gedanken fassen und hatte das Gefühl, einfach nur wegrennen zu müssen. Sie fühlte sich von allem überfordert.
Anja Kaiser war sich sicher, ihr Kind nicht genug lieben zu können. Sie beobachtete die anderen Mütter auf der Wochenstation, denen die Versorgung des Kindes so leicht zu fallen schien. Während die ein Lächeln auf dem Gesicht hatten, liefen bei ihr die Tränen. Zu den starken Versagensängsten kamen daher schnell Schuldgefühle. War sie nicht nutzlos für ihre Familie, wertlos als Mutter? »Wenn ich mich bei jedem von euch Kindern so angestellt hätte …«, hörte sie ihre Mutter sagen. Oder: »Du hast das Kind doch gewollt.«
Bald formte sich der Gedanke in ihrem Kopf, dass ihre Familie ohne sie besser dran wäre. Ihr Mann könnte wieder heiraten und die Tochter bei einer richtigen Mutter aufwachsen. Gegenüber ihrem Bruder äußerte sie einmal weinend: »Wenn ich nicht so feige wäre, dann würde ich aus dem Fenster springen.« Ihre Familie reagierte mit Bestürzung: – »Sag doch sowas nicht …« – und entschied, sie zu Hause erstmal nicht alleine zu lassen.
Eigentlich sollte sie das beruhigen, aber sie schämte sich dafür bloß noch mehr. Sie wollte doch so gerne die perfekte Mutter sein, wie sie es sich in der Schwangerschaft ausgemalt hatte. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte riss sie sich zusammen, auch wegen der enormen Schuldgefühle ihrer Tochter und ihrer Familie gegenüber. Eine Woche nach der Entlassung aus dem Krankenhaus passierte es dann: In wenigen unbeaufsichtigten Sekunden sprang Anja Kaiser aus dem Fenster ihrer Wohnung im ersten Stock. Bei diesem unbeaufsichtigten Moment handelte es sich um die Zeit, die ihre Mutter brauchte, um dem Postboten die Tür zu öffnen.
*Der Name wurde geändert.