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Eine lebensbedrohliche Sturzgeburt soll selten vorkommen. Selten soll es auch sein, dass Kinder mit vollständiger Fruchtblase zur Welt kommen. Es wird dann freudig von einer Glückshaube gesprochen. Vielleicht hatte mein Kind wirklich Glück. Glück, weil wir im größten Krankenhaus Brandenburgs waren. Glück, weil es durch die Haube nicht sofort mit den Toilettenkeimen in Berührung kam. Glück, weil es überlebte. Aber Fakt ist, dass ich in diesem Krankenhaus während der Geburt völlig allein war. Mein Kind raste viel zu früh und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf die Welt. Ich versuchte es noch zu halten, doch es rutschte mir mit samt seiner Glückshaube in die Toilette.
Für mich ist eine Geburt ein zutiefst intimes und großartiges Ereignis. Ich spreche aus Erfahrung, denn unser erstes Kind kam sanft und ohne Komplikationen zu Hause auf die Welt. Eine Hausgeburt im ruhigen und geschützten Rahmen wünschte ich mir auch für mein zweites Kind. Der wichtigste Mensch, mein Mann und Vater des Kindes, wollte wieder dabei sein. Ich stellte mir vor, wie ich mein Kind mit meinen eigenen Händen auffangen würde. In Ruhe und mit viel Zeit. Umgeben von Menschen, die meine Wünsche respektieren und meine Bedürfnisse ernst nehmen. Menschen, die eine Geburt als etwas Einmaliges betrachten und mein Kind mit mir zusammen liebevoll begrüßen. Ganz besonders freute ich mich auf die kuschelige Wochenbettzeit. Was für eine schöne Vorstellung.
Nur leider kam alles anders. An einem Sonntagabend fingen leichte Blutungen an. Ich spürte ein sanftes Kribbeln im Körper – wellenartig. Das konnte doch nicht sein, dachte ich. Oder? Waren das Wehen? Neun bis zehn Wochen zu früh? Ich legte mich hin und die Blutungen hörten auf. Am nächsten Morgen fing es wieder an und ich fuhr zu meiner Gynäkologin. Nach der Untersuchung sagte sie mir, dass der Muttermund 2,5 cm offen sei. Sofort musste ich in das nächstgelegene Krankenhaus. Der dortige Oberarzt begrüßte mich als erstes mit einer erneuten Muttermundsuntersuchung, um zu bestätigen, was ein paar Minuten vorher schon meine Ärztin sagte: Der Muttermund sei 2 bis 3 cm geöffnet. Ich wollte diese erneute Untersuchung nicht, nur wurde ich nicht gefragt. Er spritzte mir einen »Wehen-Hemmer« und anschließend wurde ich liegend mit dem Rettungswagen in das 30 Kilometer entfernte Krankenhaus nach Cottbus verlegt.
Ich verstand den Ernst der Lage und fing an zu meditieren. Für diese Art der Meditation hatte ich monatelang geübt. Mir war eines wichtig: Ruhig bleiben! Eine mir fremde Hebamme aus Forst begleitete den Transport nach Cottbus. Immer wieder fragte sie mich, ob ich Schmerzen hätte, was ich verneinte. Da ich meditieren und mich auf meine eigene Kraft fokussieren wollte, brauchte ich Ruhe. Ich bat sie darum, mich nicht mehr nach Schmerzen zu fragen, weil es meine Gedanken zum Schmerz lenkte, und dazu war ich nicht bereit. Nur verstand sie das nicht und fragte immer wieder. Im Rettungswagen war ich so genervt, dass ich nochmal energischer sagte, dass ich jetzt in Ruhe meditieren möchte und keine Schmerzen hätte. Dann drehte ich mich mit dem Rücken zu ihr und schaute in die freundlichen Augen einer Rettungssanitäterin. Ich schaute sie an und fragte, ob sie meine Hand halten könnte. Sie lächelte, nahm meine Hand und ich konnte endlich die Augen schließen und meditieren.
Im Kreißsaal angekommen fühlte ich mich gut aufgehoben. Es gab eine Ärztin und auch eine Hebamme, die zu diesem Zeitpunkt ein Geschenk waren. Die guten Gespräche mit ihnen haben mir sehr geholfen. Hilfreich war auch, dass immer jemand da war.
Ich musste zwar ausschließlich im Bett bleiben und es gab auch keine Dusche, aber zumindest hatte ich einen kleinen Raum mit einem Waschbecken und einer Toilette. Es handelte sich um eine extra umgebaute Toilette, die anders gekrümmt war, falls ein Kind reinfallen würde. Das fand ich befremdlich und ich fragte eine Hebamme, ob wirklich schon einmal ein Kind in die Toilette gefallen sei.
Ich habe fast nur meditiert und größtenteils konnte sich das Personal damit arrangieren. Ich wollte so gerne dieses kleine Kind in mir festhalten, mein gesamter Fokus war darauf gerichtet. Festhalten! Du darfst noch bleiben, kleines Kind! Ich liebe dich!
Nach zwei Tagen wurde mir mitgeteilt, dass ich auf die Frauenstation verlegt werden sollte. Das machte mir Sorgen, meine Blutungen hatten nicht wirklich aufgehört. Abgesehen davon ist der Betreuungsschlüssel auf einer normalen Station ein anderer. Im Kreißsaal brauchten sie jedoch das Bett für andere Gebärende. Auf der einen Seite war es wichtig, dass ich das Kind behielt, weil bei einem Frühgeborenen jeder Tag zählt. Auf der anderen Seite konnte ich nicht bleiben, weil die Geburt zu lange dauerte. Ich denke, dass ich als solcher »Notfall« nicht in das System »DRG-Fallpauschale« hineinpasste.
Sie schoben mich mit dem Bett davon. Bevor ich die Station verließ, winkten mir noch Hebammen zu. Sie hielten die Hände hoch und drückten die Daumen: »Halten Sie´s fest.« Ich rief zurück: »Ja, ich gebe mein Bestes.« Doch in mir kamen Zweifel, ich wollte lieber hierbleiben. Das war kein Luxuswunsch, sondern im Grunde genommen mein Recht! Ich gehörte hierher.
Bereits am nächsten Tag verstärkten sich – auf der anderen Station – meine Symptome. Nun kamen die Wehen alle zwei bis drei Minuten und die Blutungen wurden stärker. Dazu kam Durchfall, eigentlich keine ungewöhnliche Reaktion kurz vor einer Geburt. Zum Ende kamen neurologische Ausfallerscheinungen hinzu. Ich wusste, was ich sagen wollte, hatte jedoch Schwierigkeiten zu sprechen.
Ich klingelte mehrmals und machte darauf aufmerksam. Da ich mir sehr sicher war, dass die Geburt unmittelbar bevorstand, wollte ich, dass mein Mann angerufen wird. Immer wieder bestand ich darauf. Angerufen hat ihn auf dieser Station keiner. Eine Schwester wollte meine Blutungen sehen, um mir dann zu sagen, dass das normal sei. Ich sei ja auch wegen der Blutungen hier.
Ich wusste aber, dass mein Kind kommt! Ich wusste, dass diese Wehen ernstzunehmen waren! Eine junge Ärztin ließ daraufhin ein CTG schreiben und sagte mir, es seien keine Wehen zu erkennen. Sie war sehr freundlich, nur den Ernst der Lage hatten weder sie noch das Pflegepersonal verstanden. Das Gerät war für sie aussagekräftiger als die Mutter, die schon Geburtserfahrungen hatte.
Das Sprechen viel mir zunehmend schwerer und ich bekam starke Kopfschmerzen. Die Ärztin nahm meine Hand. Sie wollte gemeinsam mit mir überlegen, was das sein könnte. Wehen seien das ja laut CTG nicht. Ich bekam Paracetamol gegen die Kopfschmerzen und sollte nochmal auf die Toilette gehen, damit sie die Stuhlprobe untersuchen lassen konnten. Dagegen durfte ich vorher im Kreißsaal nicht allein auf die Toilette gehen. Nun waren sie aber der Meinung, dass ich vermutlich etwas Falsches gegessen hätte. Die Ärztin verließ das Zimmer.
Ich fühlte mich auf der Frauenstation nicht gut aufgehoben. Ganz im Gegenteil, ich bekam richtig Angst. Immer wieder versuchte ich per Selbsthypnose die Wehen zu veratmen und ruhig zu bleiben. Versuche keine Angst zu haben, dachte ich. Vielleicht sollte ich allein zum Kreißsaal laufen? Meine Angst wurde größer. Ich spürte einen enormen Druck und schleppte mich zur Toilette. Aber es war eine Fehleinschätzung. Ich hatte keinen Durchfall mehr, es war jetzt ein anderer Druck und plötzlich ging alles unglaublich schnell. Es war eine enorme Kraft und zuerst begriff ich nicht, was geschah. Mein Kind kam. Nein, es fiel einfach raus, es stürzte! Ich versuchte mein Baby zu halten, aber es rutschte mir zwischen den Händen in die Toilette. Völlig paralysiert schaute ich hinein, aber ich sah kein Baby. Ich sah nur Blut. Wo war mein Kind? Mein Kopf rauschte und ich bekam eine solche Panik, wie ich sie noch nie in meinem Leben verspürt hatte. Wo ist mein Kind? Tot? Es ist tot. Ich fing verzweifelt an zu schreien und kurz darauf stand das Personal neben mir und schaute verdutzt. Keiner rührte sich! Keiner machte etwas. Mein Kind lag immer noch in der Toilette. Es musste dort sein. In diesem blutigen Wasser sah ich eine Art roten Ball. Ich griff in die Toilette und holte die gesamte Fruchtblase heraus. Sie war noch vollständig erhalten und mein Kind war darin. Noch nie hatte ich so etwas gesehen.
Gleichzeitig verschwand meine Kraft, was ich jedoch nicht bemerkte. Mein Körper zitterte unkontrolliert. Ich sah, wie andere Hände mein Kind nahmen und wie die Fruchtblase aufging. Ich sah mein Baby – ein kleiner Junge. Seine Augen waren offen, unschuldig. Er hatte viele Harre, ganz wie der Papa, dachte ich. Mir war kalt. Der Oberarzt nabelte das Kind ab und legte es auf das Bett. Es war so weit weg von mir. Inzwischen hatte mich die Kälte unter Kontrolle und ich wurde extrem müde. Ich hatte atonische Blutungen und musste sofort in den OP.
Mir war immer noch kalt, als ich wach wurde. Eine sehr liebe Hebamme saß links neben mir und lächelte mich an. Sie fragte, ob ich noch eine Decke wollte. Sie war diejenige, die dann auch versucht hatte, meinen Mann anzurufen. Ich hatte nur einen Gedanken: Wo ist mein Kind? Es waren noch andere Personen im Raum und sie erklärten mir etwas. Es wirkte so fremd auf mich. Ich fragte sie, wo mein Kind sei? Sie sagten mir, dass es auf der Frühgeborenenstation sei. Ich wollte zu meinem Kind. Eine andere Hebamme erklärte mir, dass ich mich erst etwas ausruhen sollte. Energisch wiederholte ich, dass ich sofort zu meinem Kind wollte! Beide Hebammen schauten sich kurz an und schoben mein Bett in Richtung Frühgeborenenstation.
Und dann blieb die Zeit für mich kurz stehen. Dieser kleine, zarte, zerbrechliche Junge lag beatmet dort. Ich wollte nichts anderes als dieses Kind bei mir haben. Ich wollte es auf meine Brust legen. Es wärmen. Aber die Hebammen fuhren mich wieder zurück. Zurück zu dieser Station, ohne mein Kind. Es gab kein Familienzimmer. Für mich war aber genau das der wichtigste Punkt, um das Erlebte zu bewältigen. Mein Kind kam viel zu früh mit einem traumatischen Start ins Leben und gerade deshalb wollte ich bei ihm bleiben.
Ich empfinde es als pure Gewalt, mich in dieser Phase von meinem Kind zu trennen. Ich rede von meinem Recht, bei meinem Kind bleiben zu dürfen. Ich versuchte später mit dem Rollstuhl, so lange wie möglich bei meinem Jungen zu bleiben, doch mein Kreislauf brach zusammen. Also musste ich wieder zurück auf die Station, ohne mein Kind.
Ich versuchte, mich mit den Umständen zu arrangieren. Aus meiner Sicht fehlte es eindeutig an einer Schulung vieler Mitarbeiter:innen in wertschätzender Kommunikation. Mir wurde das Gespräch mit einem Psychologen angeboten. Teilweise hatte ich das Gefühl, dass Mütter auf der Frühgeborenenstation als Last statt als Hilfe empfunden wurden.
Die Klinik in Cottbus hatte vor langer Zeit das größte Förderprogramm Brandenburgs erhalten. Aber trotz vieler Millionen Euro war kein Euro für ein Familienzimmer übrig. Es wäre schön, wenn die Klinik von sich aus jeder Mutter die Möglichkeit anböte, bei ihrem Kind zu bleiben. Rund um die Uhr. Das ist für mich ein Menschenrecht.
Die Geburt war ein Notfall (das kann ich verarbeiten), aber die Trennung, das war Gewalt. Eine Klinik, die ernsthaft bemüht wäre, der Frau und dem Kind bei der Bewältigung einer traumatischen Geburt zu helfen, würde ihnen statt Besuchszeiten und »BabyCam« einen permanenten Kontakt ermöglichen. Frühgeburten sind immer Notfälle. Die Kinder haben einen sehr schweren Start. Sie haben die Nähe ihrer Mutter verdient. Auch die Familien haben es sich anders vorgestellt. Nicht wir Mütter sind das Problem. Das derzeitige System beschützt uns und unsere Kinder nicht vor Traumata, sondern verursacht sie.
Ich schrieb damals einen Beschwerdebrief und es kam zu einem Treffen mit dem Chefarzt und seiner Frau. Sie zeigten sich empört über die Umstände, aber geändert hat sich leider nichts. Die Ärztin, die meine Geburt nicht hatte kommen sehen, hat sehr viel Ärger bekommen. Aber genau das wollte ich nicht. Es muss einen Grund geben, wenn Ärzt:innen sich auf die Aussagekraft von Geräten mehr verlassen als auf eine werdende Mutter. Der Chefarzt sagte, dass diese Ärztin auch mal den Kopf einschalten müsse. Den Kopf anschalten kann man aber nur, wenn man keine Angst haben muss, etwas falsch zu machen. Stress kann auch daran hindern, den »Kopf einzuschalten«. Ein optimaler Betreuungsschlüssel von eins zu eins ist schon im Kreißsaal nicht gegeben. Ich wurde jedoch während der Geburt auf eine Schwangerenstation verlegt.
Diese junge Ärztin ist nicht das Problem, sondern das System. Mother Hood, eine Bundeselterninitiative, engagiert sich für die Rechte von Mutter und Kind während der Schwangerschaft, Geburt und dem 1. Lebensjahr. Allein ihr 10-Punkte-Plan ist ein sehr guter Ansatz. Ich empfehle allen Eltern Mother Hood. Eltern, die Hilfe brauchen, sich informieren möchten oder sich selbst engagieren wollen.
Man muss im Umgang mit Menschen kein Empathie-Wunder sein. Ein einfaches Überlegen, wie ich mich in dieser Situation fühlen würde, reicht völlig aus.