Abbildung 1: Beiderseitige Kommunikation zwischen dem Immunsystem und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse. Pro-inflammatorische Zytokine stimulieren die Freisetzung von Cortisol durch Aktivierung aller drei Ebenen dieser Achse (schwarze Pfeile). Im Gegenzug hemmen Glucocorticoide via negativem Feedbackmechanismus die weitere Bildung und Freisetzung proinflammatorischer Zytokine (roter Pfeil nach unten). Zusätzlich hemmen Glucocorticoide ihre eigene Bildung durch negative Feedbackregulation des Corticotropin-releasing Hormone (CRH) im paraventrikulären Nukleus (PVN) des Hypothalamus und des Adrenocorticotropen Hormons (ACTH) im Hypophysenvorderlappen (rote Pfeile nach oben). Zeichnung: © Birgit Heimbach, modifiziert nach Silverman & Sternberg 2012

Einige groß angelegte Studienprojekte zeigten, dass schwere psychische Belastungen im frühen Leben mit Entzündungserkrankungen im Erwachsenenalter und geringerer Lebenserwartung verbunden sind. Die Psychoneuroimmunologie (PNI), ein neuer Forschungszweig der Psychosomatik, untersucht die Wirkmechanismen, wie es zu diesen langfristigen Effekten auf die Gesundheit kommen kann.

Unzweifelhaft kommt dem pränatalen Gesundheitsverhalten der Mutter für den Gesundheits- und Entwicklungsstand des Kindes bei der Geburt besondere Bedeutung zu. Dabei zeigt sich auch, dass Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung insbesondere in sozial benachteiligten Familien vorliegen (Bitzer et al. 2009). Daher wurden in den vergangenen Jahren politische Anstrengungen unternommen, mit Unterstützung von sogenannten Frühen Hilfen, also professionellen Hilfskräften wie beispielsweise Familienhebammen, das Gesundheitsverhalten von Müttern während und nach der Schwangerschaft zu verbessern und damit die Chance für ein gesünderes Leben der Neugeborenen zu erhöhen (NZFH 2008). Nun zeigen großangelegte epidemiologische Forschungsprojekte sowie die Psychoneuroimmunologie (PNI), dass die Lage der unter widrigen Umständen zur Welt gekommenen Kinder noch dramatischer ist als bisher angenommen. Es wurde klar, dass schwere perinatale psychische Belastungen nicht nur unmittelbare Schäden am Neugeborenen hinterlassen, sondern das Risiko des Kindes erhöhen, noch im Erwachsenenalter an schweren Entzündungserkrankungen zu leiden und frühzeitig zu sterben.

Späte Entzündungsreaktionen

Die Adverse Childhood Experiences (ACE)-Studie des Mediziners Vincent Felitti, Leiter der Abteilung für Präventivmedizin der Kaiser Permanente-Krankenversicherung im kalifornischen San Diego, und seiner KollegInnen stellt die Pionierarbeit zu frühkindlicher Belastung als möglicher Ursache für schwere Erkrankungen im Erwachsenenalter dar. In zwei Umfragen wurden insgesamt 26.824 Personen jeweils zwei Wochen nach einer ausführlichen körperlichen Untersuchung aufgefordert, Fragen zu ihren Kindheitserfahrungen und gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen der ersten 18 Lebensjahre zu beantworten (Felitti et al. 1998). Für jedes Individuum wurde ein ACE-Score durch einfaches Zusammenzählen der erlebten widrigen Kindheitserfahrungen entwickelt, wobei nicht die Anzahl der Vorfälle in einer Kategorie zählte, sondern die erreichte Menge an unterschiedlichen Kategorien.

Bei Rücklaufquoten von 70 Prozent beziehungsweise 67,5 Prozent konnte eindrücklich eine lineare Abhängigkeit zwischen dem Ausmaß frühkindlicher Traumatisierungen und einer Vielzahl von Entzündungserkrankungen im Erwachsenenalter, wie zum Beispiel koronare Herzkrankheit (KHK), Krebs, chronische Lungenerkrankung, Frakturen und Lebererkrankung, gezeigt werden (Dong et al. 2004; Felitti et al. 1998). Zusätzlich konnten Felitti und KollegInnen belegen, dass Gesundheitsrisiken für Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Depression und Suizidversuche mit zunehmendem ACE-Score anstiegen. Wenn traumatisierende Kindheitserfahrungen und Gesundheitsrisiken in einer Kausalkette gesehen wurden, verdeutlichten die Ergebnisse der ACE-Studie auch, dass weiter zurückliegende Einflussfaktoren, wie schwierige Kindheitsverhältnisse, eine höhere Vorhersagekraft für ein späteres Auftreten von Entzündungskrankheiten hatten, als später wirksame, traditionelle Risikofaktoren, beispielsweise gesundheitsschädliches Verhalten (Dong et al. 2004). Dies lässt sich als klares Zeichen verstehen, dass eine möglichst frühe soziale Unterstützung gefährdeter Familien im Sinne einer Primärprävention erfolgen muss, um langfristigen Belastungen des Gesundheitssystems durch Entzündungserkrankungen effektiv zu begegnen.

Psychoneuroimmunologie

Entzündung ist eine Abwehrreaktion des Organismus und seiner Gewebe gegen verschiedenartige (schädigende) Reize; Ziel der Entzündung ist es in der Regel, das schädigende Agens und seine Folgen zu beseitigen. Entzündung ist also im Grunde ein Übergangszustand, der eine erfolgreiche Abwehr ermöglichen soll (Murphy et al. 2008). Was aber, wenn es sich beim schädigenden Reiz um eine Belastung handelt, die Jahre oder Jahrzehnte andauert und vom Immunsystem nicht beseitigt werden kann?

Die Psychoneuroimmunologie (PNI) als moderner Forschungszweig der Psychosomatik versucht diese Frage zu klären und untersucht die stressbedingten Entwicklungsstörungen des Immunsystems, die zwischen frühen Traumatisierungen und Entzündungserkrankungen im Erwachsenenalter vermitteln (Schubert 2013). Dabei ist insbesondere das Stresssystem in das Visier der Untersuchungen geraten und es deutet heute alles darauf hin, dass früher Stress die Entwicklung des Immunsystems tiefgreifend stört. Als Stresssystem werden die anatomisch und funktionell verknüpften Bereiche des Gehirns, wie unter anderem Hippokampus, Amygdala, frontaler Cortex und Hypothalamus, und bestimmte periphere Strukturen verstanden, die bei Stress, also bei Anpassung des Organismus an Innen- und Außenreize, aktiviert werden. Aufgrund der starken Vernetzung mit der Nerventätigkeit und den daraus resultierenden wechselseitigen Beeinflussungen lassen sich auch Teile des Hormon- und Immunsystems dem Stresssystem zurechnen (Tsigos & Chrousos 2002) (siehe Abbildung 1).

Wird der menschliche Organismus gestresst – dies kann durch einen somatisch-materiellen Stressor wie eine Virusinfektion oder Verwundung geschehen, aber ebenso durch einen psychologisch-immateriellen Stressor erfolgen – kommt es zunächst zu einer vor allem durch das sympathische Nervensystem (SNS) vermittelten physiologischen Aktivierung (unter anderem zur Energiemobilisierung), die auch das angeborene Immunsystem betrifft. Dabei schütten Makrophagen Entzündungsproteine aus, die sogenannten T-Helfer Typ 1 (TH1)-Zytokine. Dazu gehören unter anderem Interleukin (IL)-1, IL-2, IL-12, Interferon-Gamma (IFN-g) und Tumor-Nekrose-Faktor-Alpha (TNF-a). Diese Entzündungsstoffe fördern die Organisation eines Abwehrwalls, falls im Rahmen von Verwundungen oder Infektionen des Organismus rasch erste Hilfe durch das zelluläre Immunsystem nötig werden sollte. Die Aktivierung von Makrophagen und die nachfolgenden entzündlichen TH1-Zytokinanstiege sind jedoch nur für kurze Zeit im Sinne der Heilung von Wunden, Abwehr von Fremdantigenen und Überwachung von Krebszellen physiologisch sinnvoll. Längerfristige Erhöhungen dieser Immunmediatoren müssen vermieden werden, da die Entzündungsstoffe dann eigene Zellen und Gewebe schädigen, zur malignen Entartung von Zellen führen und die Immunabwehr hemmen (Dragos & Tanasescu 2010; Sapolsky et al. 2000; Tsigos & Chrousos 2002).

Um solcherart physiologisch unnötigen und schädlichen Erhöhungen von Entzündungsaktivität entgegenzuwirken, besitzt der Organismus eine Art Schutzsystem, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden (HPA)-Achse, die bei Entzündung durch pro-inflammatorische Zytokine sehr effizient aktiviert wird und daraufhin Cortisol freisetzt (Besedovsky & del Rey 2007). Cortisol wiederum verringert unter anderem die TH1-Immunaktivität und reduziert damit die Entzündung (Sapolsky et al. 2000). Im Gegenzug steigt unter Cortisoleinfluss des Immunsystems die T-Helfer Typ 2 (TH2)-Immunaktivität, messbar an der Freisetzung von TH2-Zytokinen IL-4, IL-5, IL-6 und IL-10, die ihrerseits antiinflammatorisch wirksam sind und die proinflammatorischen TH1-Zytokine herunterregulieren. Während die TH1-Immunität vornehmlich gegen intrazelluläre Infektionen gerichtet ist und Wunden heilt, besteht die Aufgabe des TH2-Systems in der Abwehr von extrazellulären Erregern wie Bakterien und Parasiten. TH2-Zytokine fördern aber auch Wachstum und Aktivitätszustand von Basophilen, Mastzellen und Eosinophilen sowie die Differenzierung des humoralen B-Zellsystems und sind damit wesentlich bei der Entwicklung einer Allergie beteiligt. Stressbedingte Cortisolanstiege reduzieren also die TH1-Immunaktivität (entzündungshemmend) und steigern die TH2-Immunaktivität (proallergen). Dies wird als TH1/TH2-Shift bezeichnet (Elenkov & Chrousos 2002).

Entzündungsstress und Risiko einer Fehlgeburt

Entzündung ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist sie lebenswichtig, wenn der Organismus in direkter Auseinandersetzung mit einem schädigenden Agens steht, andererseits gefährlich, wenn eine Entzündung unangemessen stark oder lange im Organismus aktiv ist. Dies gilt ebenso für die Mutter-Kind-Einheit während der Schwangerschaft. Wiederholt auftretende Fehlgeburten im ersten Trimester der Schwangerschaft lassen sich in der Hälfte der Fälle auf Antiphospholipid-Antikörper, Chromosomenfehler, das Alter der Mutter oder die Anzahl vorheriger Fehlgeburten zurückführen. Die restlichen 50 Prozent dürften pathogenetisch auf TH1/TH2-Imbalancen an der feto-maternalen Schnittstelle basieren (Sugiura-Ogasawara et al. 2002) (siehe auch Seite 26ff.).

Im Tierversuch und am Menschen wurde gezeigt, dass eine TH1-Immunverschiebung (unter anderem IL-2, IFN-g, TNF-a) bei akutem Stress mit einem Schwangerschaftsabbruch verbunden ist (Arck et al. 2001). Der wahrscheinlichste Pathomechanismus dürfte hierbei in einem TH1-getriggerten Koagulationsanstieg mit nachfolgender Gefäßbettentzündung liegen, der die Sauerstoffzufuhr von der Mutter zum Kind unterbricht und damit zu einer Art ischämischer Autoamputation führt (Clark et al. 1999). Umgekehrt wurde nachgewiesen, dass eine erfolgreiche Schwangerschaft mit einem TH2-Immunphänotyp sowie mit einer Progesteron-getriggerten Erhöhung von Faktoren (unter anderem TGF-b2, IL-4, IL-10) einhergeht, die die TH1-Immunität senken (Arck et al. 2001).

Aus dem bisher Gezeigten lässt sich folgern, dass nicht nur Stress, Angst (beispielsweise vor einer erneuten Fehlgeburt) und Depression mit einem erhöhten Risiko von Schwangerschaftskomplikationen und Fehlgeburten einhergehen, sondern dass umgekehrt psychologische Betreuung zu einer Reduktion von derartigen Problemen in der Schwangerschaft führt. In der Tat gelten heute nicht Medikamente, die sich als wirkungslos erwiesen haben, sondern die professionelle liebevolle Begleitung der Schwangeren („Tender Loving Care”, siehe auch Seite 26ff.) als die einzige verlässliche Möglichkeit, die Erfolgsrate bei zuvor unerklärlichen wiederholten Fehlgeburten zu steigern (Musters et al. 2011). Im Rahmen einer qualitativ-phänomenologischen Befragung meinten betroffene Frauen, dass sie sich bei ihrer nächsten Schwangerschaft eine Reihe von Faktoren wünschen würden, die mehr Beruhigung, Komfort, Sicherheit, Vertrauen und das Gefühl verstanden und unterstützt zu werden, implizierten. Komplementär- und alternativmedizinische Interventionen sowie eine Hospitalisierung lehnten sie dagegen eher ab (Musters et al. 2011).

Vernetzung von Störungen

Wie ist es nun möglich, dass früher Stress auch noch nach der Geburt des Kindes zu schweren Erkrankungen führen kann, die bis in das Erwachsenenalter hineinreichen? Die Antwort auf diese Frage dürfte in belastungsbedingten Entwicklungsstörungen des kindlichen Stresssystems liegen. Studien am Tier und Mensch zeigten, dass das Gehirn in der frühen Kindheit sehr anfällig auf Stress reagiert, möglicherweise weil es in dieser Zeit wesentliche Veränderungen durchmacht. Dabei spielen Glucocorticoide eine besondere Rolle (Lupien et al. 2009). Wird Cortisol intrauterin sowie nach der Geburt zu viel oder zu wenig freigesetzt, so stört das die Entwicklung des Gehirns, und aufgrund der starken Vernetzung von Gehirn- und Immunaktivität auch die Entwicklung des Immunsystems.

Mütterliches Cortisol ist plazentagängig. Bereits intrauterin schützt der mütterliche Organismus durch verstärkte Freisetzung von Cortisol den Fetus vor dem Einfluss erhöhter TH1-Immunität. Dies ist besonders im letzten Trimester der Schwangerschaft der Fall, wo entzündliche Aktivität leicht zu Frühgeburten führen kann (Bielas & Arck 2008). Der Preis für diese cortisolbedingte TH1-Verminderung im fetalen Organismus ist eine Verschiebung der fetalen Immunlage in Richtung TH2 (TH1/TH2-Shift) (Mastorakos & Ilias 2003). Dieser natürliche TH2-Anstieg im kindlichen Organismus verstärkt sich dann noch einmal bei der Geburt, da das Kind physiologisch mit einer sehr stresssensitiven und damit leicht aktivierbaren HPA-Achse auf die Welt kommt und somit selbst geringfügiger Stress des Kindes bereits ausreicht, um Cortisol und damit die TH2-Immunität ansteigen zu lassen.

Im ersten Lebensjahr nimmt diese gesteigerte Reagibilität der HPA-Achse wieder ab und bis zur Pubertät des Kindes folgt dann eine Phase der geringeren Stimulierbarkeit der HPA-Achse, die sogenannte stress hyporesponsive period (SHRP) (Gunnar 2003). Während dieser Phase lässt sich das Stresssystem des Kindes nur schwer aktivieren und es wird vermutet, dass die Eltern bei sicherer Bindung quasi schützend Stressoren, die das Kind betreffen, wegpuffern und damit das Risiko kindlicher Cortisolerhöhungen verringern (Nachmias et al. 1996). Immunologisch gesehen macht die SHRP Sinn, da sich während dieser Phase durch Nachreifung des TH1-Systems eine gesunde TH1/TH2-Balance einstellen kann, die sogenannte Hygiene-Hypothese (Strachan 1989). Denn wird in der SHRP weniger Cortisol ausgeschüttet, bedeutet dies auch weniger TH1-Verringerung und weniger TH2-Erhöhung für das Kind.

Bei unsicher gebundenen Kindern ist der eben angesprochene elterliche Schutz vor Stressoren nicht gleichermaßen wirksam wie bei sicher gebundenen Kindern, die SHRP ist weniger ausgeprägt (Spangler & Grossmann 1993). Dies bedeutet, dass genau in jener Phase der Immunentwicklung, die zur gesunden TH1/TH2-Balance führen soll, stressbedingt vermehrt Cortisol ausgeschüttet wird (Hypercortisolismus). Immunologisch gesehen ist die Folge der vermehrten Cortisolfreisetzung nicht nur, dass sich bei früh gestressten Kindern TH1 nicht ausreichend entwickeln kann (unter anderem Gefahr von viralen Infektionskrankheiten), sondern dass auch TH2 weiterhin überwiegt – mit der Gefahr von allergischen Erkrankungen (Coe & Lubach 2003). Dauert der Stress der Kinder an, beispielsweise aufgrund des Verbleibens von traumatisierten Kindern in widrigen Familienverhältnissen, dann erschöpft das Stresssystem zunehmend. Die Folge dieses „Crashs des Stresssystems” (van Houdenhove et al. 2009) ist, dass die dauernden stressbedingten TH1-Entzündungsanstiege wegen mangelhafter Cortisolausschüttung (Hypocortisolismus) und/oder zu geringer entzündungshemmender Aktivität von Cortisol (Glucocorticoidresistenz) nicht mehr angemessen zurückreguliert werden können und persistieren. Hier schließt sich der Kreis zu den eingangs dargestellten Ergebnissen der ACE-Studie. Denn nun dürfte es in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten über das Zusammenwirken von psychischer Störung, neuroendokriner Dysregulation und immunologischer Fehlprogrammierung zu einer chronischen Erhöhung von Entzündungsmarkern und zur langfristigen Entwicklung von Entzündungserkrankungen mit entsprechender Verringerung der Lebenserwartung kommen (Dong et al. 2004, Danese et al. 2009).

Früh genug intervenieren

Erste Studien der PNI zeigen, dass die durch frühe psychische Belastung bedingte chronische Unterfunktion des Stresssystems nicht permanent sein dürfte und durch soziale Interventionen zumindest vorübergehend reversibel ist. Eine Untersuchung etwa wies nach, dass einfühlsame und unterstützende Fürsorge von Adoptivkindern die basalen Glucocorticoidlevels nach bereits zehn Tagen normalisierte (Gunnar & Quevedo 2008). Weiter zeigte sich in einer Studie an drei- bis fünfjährigen Pflegekindern, die vor Beginn einer Intervention zur Verbesserung der elterlichen Fähigkeiten niedrige Morgen-Cortisollevel aufwiesen, acht bis neun Monate danach ein signifikanter Anstieg der Morgen-Cortisolkonzentrationen. Eine frühe soziale Intervention bei kindlicher Traumatisierung könnte also einen deutlichen Einfluss hinsichtlich der Prävention von stressbedingten Entwicklungsstörungen des Gehirns haben (Lupien et al. 2009).

Dies sollte auch für die Tätigkeit von Familienhebammen gelten. Leider zeigen Reviews und Metaanalysen von internationalen Studien (Hodnett et al. 2010; Gomby 2005) und bisherige Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum (Jungmann et al. 2010), dass Interventionen dieser Art nur zu wenig Verbesserung im mütterlichen Gesundheitsverhalten und in der kindlichen Gesundheit führen. Hieraus jedoch zu schließen, dass solch ein Hilfskonzept für sozial benachteiligte Schwangere und deren schon früh belastete Kinder nutzlos ist, muss nicht nur aufgrund von studienspezifischen methodischen und praktischen Aspekten als verfrüht gelten (Jungmann et al. 2010). Denn nimmt man eine biopsychosoziale Perspektive in der klinischen Forschung ein, so müsste man vor der wissenschaftlichen Untersuchung der Hebammentätigkeit zunächst metamethodologische Fragen stellen, etwa nach der Komplexität der Untersuchungsfrage und den Mitteln, wie Komplexes in der klinischen Hebammenforschung zu untersuchen ist (Enkin 2006).

Abbildung 2: Zeitreihe des Urin-Cortisols einer gesunden Probandin. Cortisol wurde mittels ELISA-Technik in 126 konsekutiv gesammelten Harnproben einer 25-jährigen gesunden Probandin gemessen (durchgezogene Linie). Deutlich erkennbar der für Cortisol typische Tag-Nacht-Rhythmus: hohe Tageswerte, niedrige Nachtwerte (aus Schubert et al. 2012). Abbildung: © Prof. Dr. Dr. Christian Schubert. Medizinische Universität Innsbruck

Das Forschungsdesign verbessern

Klinische Hebammenforschung beschäftigt sich mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen der betreuenden Person, den Betroffenen und dem Kontext, in welchem die Intervention stattfindet (Enkin 2006). Und das unter nicht zu kontrollierenden Alltagsbedingungen, in denen, wenn Hebammentätigkeit valide beforscht werden soll, nicht einfach nur rein mechanische, sondern auch psychosoziale und spirituelle Einflussfaktoren auf die Gesundheit der untersuchten Person zu berücksichtigen sind (Duesmann 2012). Dynamische Komplexität und Bedeutungskomplexität lassen sich aber mit den simplen Forschungsdesigns einer mechanistisch-reduktionistischen Biomedizin, wie beispielsweise dem Prä-Post-Design oder der randomisierten kontrollierten Studie, nicht untersuchen, da diese auf wenigen Messzeitpunkten und der Mittelwertbildung über mehrere Personen hinweg beruhen (Enkin 2006; Schubert 2011).

In Innsbruck entwickeln wir daher ein sogenanntes integratives Einzelfalldesign, mit dem versucht wird, Komplexitätskriterien psychosomatischer Forschung wie Zeitverzögerungen, Reaktionsmuster und Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zwischen psychosozialen, psychischen und Stresssystemvariablen im Lebensalltag („life as it is lived”) valide zu analysieren (Schubert et al. 2012). Dabei sammeln Personen über einen Zeitraum von mindestens 50 12-Stundeneinheiten ihren gesamten Harn, füllen Fragebögen in 12-Stundenabständen aus und werden einmal pro Woche ausführlich zu ihren Alltagserlebnissen befragt (siehe Abbildung 2).

Abbildung 3: Kreuzkorrelogramm zwischen emotional positiven Alltagsereignissen und Urin-Cortisol. Das Auftreten von emotional positiven Alltagsereignissen, beispielsweise eine Chorprobe, zieht eine zyklische Reaktion des Urin-Cortisols nach sich (rote geschwungene Linie). Nach einem solchen Ereignis steigt das Cortisol zunächst innerhalb von 12 Stunden an und sinkt dann nach insgesamt 60 bis 72 Stunden ab (Signifikanzniveau bei p < 0,05). 1 Lag entspricht in der Abbildung 12 Stunden. Abbildung: © Prof. Dr. Dr. Christian Schubert. Medizinische Universität Innsbruck

Zeitreihenanalysen ermöglichen daraufhin, individuell bedeutsame Alltagsereignisse mit Stresssystemvariablen über die Zeit zu korrelieren. Mit diesem Ansatz konnten erste Hinweise dahingehend gefunden werden, dass Stresssystemveränderungen in Reaktion auf emotional bedeutsame Alltagsereignisse zyklischer Natur sind und interindividuell unterschiedliche Verzögerungszeiten aufweisen, die deutlich länger sind als das, was herkömmliche Gruppenstudien bis dato imstande waren zu zeigen (siehe Abbildung 3).

Herkömmliche Gruppenforschungsdesigns und die damit verbundene Idee der vorschnellen Verallgemeinerung von Ergebnissen sind nicht für die Erforschung des Menschen in seiner Alltagwelt konzipiert, sondern für leblose Maschinen (Schubert 2011). Entsprechend einfach und realitätsfern sind deren wenige wirklich verallgemeinerbaren Ergebnisse. Und entsprechend inkonsistent sind Ergebnisse der Gruppenforschung darüber hinaus dort, wo komplexe und praxisrelevante Fragen in der Medizin gestellt werden. Die unreflektierte Anwendung von Gruppenforschungsdesigns dürfte damit letztlich nicht nur ambitionierte politische Projekte zur Arbeit von Hebammen scheitern lassen, sondern auch der zunehmenden Industrialisierung und Kapitalisierung der Medizin weiteres Wasser auf die Mühlen spülen.

Zitiervorlage
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