Illustration: © Birgit Heimbach

Eine Hebamme hat schlaflose Nächte, seit ein Mensch zu Schaden gekommen ist – nach einer Geburt, die sie geleitet hat. Ihr steht ein Strafverfahren bevor.

Es ist 4 Uhr morgens und ich werde wach – unvermittelt und ohne einen direkt erkennbaren Grund. Eigentlich bin ich immer eine gute Schläferin gewesen. Dieser gute Schlaf war ausgesprochen wichtig für mein Leben als Hausgeburtshebamme in Rufbereitschaft.

Seit ungefähr acht Wochen weiß ich, dass das Ermittlungsverfahren mit dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung gegen mich nicht, wie erwartet, eingestellt wird. Es wird ein Strafverfahren geben – logischerweise mit ungewissem Ausgang.

Jede, die in der außerklinischen Geburtshilfe arbeitet, weiß, dass so eine Situation auf sie zukommen könnte. Und trotzdem macht sie diese so aufreibende Arbeit mit großer Leidenschaft. Natürlich gilt das auch für die Kolleginnen, die in den Kliniken – unter oft alles andere als guten Bedingungen – Frauen und Familien in dieser so besonderen Situation begleiten. Einen Unterschied macht es für eine Geburt im Kreißsaal, dass dort mehrere Fachmenschen als »Zeug:innen« zur Verfügung stehen – und die Geburt in einer Klinik allgemein als »sicher« gilt.

Die Schlaflosigkeit beginnt schon von dem Tag an, an dem eine Geburt nicht wie erwartet damit zu Ende geht, dass ein glückliches Paar ein ebenso glückliches Baby im Arm hält. Stirbt während oder nach einer Geburt ein Mensch, verlässt uns die Erinnerung daran nie wieder. So ist es auch bei mir. Dieses Erlebnis führt zu eben diesen unruhigen Nächten. Aber auch tagsüber läuft das Geschehene wie ein immer wiederkehrender Film vor meinem geistigen Auge wieder und wieder ab.

Was die Klageschrift auslöst

Seit ein paar Tagen halte ich die Klageschrift in den Händen. Seitdem geht es mir noch einmal deutlich schlechter. Denn da steht es Schwarz auf Weiß: »…die Hebamme (…) wird angeklagt, durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht zu haben…«

Bis hierhin war es irgendwie abstrakt gewesen. Natürlich schwebte diese Möglichkeit wie ein Damoklesschwert seit nunmehr gut zwei Jahren über mir, aber jetzt ist es unumstößlich: Ich werde demnächst vor einer sogenannten Strafkammer stehen beziehungsweise sitzen und erklären und vielleicht sogar beweisen müssen, dass das, was passiert ist, von mir nicht zu ändern und damit nicht in meiner »Schuld« war.

Erinnerungen an ein Verfahren vor vielen Jahren gegen eine Kollegin werden wach: Da gab es Sachverständige, die Zweifel an der »Schuld« der Kollegin hatten. Beweismittel, die die Angeklagte möglicherweise entlastet hätten, waren verloren gegangen. Anerkannte geburtshilfliche Regeln der Schulmedizin wurden vom Hauptgutachter falsch dargestellt.

Die Würdigung der Beweismittel obliegt in einem Strafverfahren den Richter:innen. Und wenn diejenigen dies schlüssig finden, dann zählt es einfach.

Alles Mögliche schießt mir in solchen Stunden, in denen ich nicht schlafen kann, durch den Kopf: Wie wird dieses Gericht besetzt sein? Werden dort Menschen sein, die eine Hausgeburt nicht per se für eine unverantwortliche Angelegenheit halten? Wird es eine Würdigung der Tatsache geben, dass ich seit mehr als einem Vierteljahrhundert professionelle und gute Arbeit leiste? Was passiert danach? Werde ich noch arbeiten können? Werden mich andere Familien ansprechen, weil sie davon in der Zeitung gelesen haben? Was wird in Kolleginnenkreisen über mich geredet? Wie kommen meine (erwachsenen) Kinder damit zurecht? Werde ich mein Haus verlieren, für das ich so viele Jahre gearbeitet habe? Was passiert mit meinen Hunden, wenn ich eine Haftstrafe absitzen muss?

Es ist so verrückt, was da alles in meinem Kopf herumrast. Als ob die Unterbringung meiner Hunde mein größtes Problem wäre. Aber es ist wirklich so allumfassend für mein weiteres Leben, dass ich nicht aufhören kann, regelrecht »am Rad zu drehen«. Ich bin den Kolleginnen dankbar, die mich immer wieder aus diesem Kopfkino herausholen, wenn ich mich an sie wende.

Mit dem Druck umgehen

So wie ich immer eine gute Schläferin war, so war ich auch eine sehr klar strukturierte Frau – Ärmel hochkrempeln und los geht’s – zupackend und sich nicht hinter Ängsten versteckend. Probleme werden nicht gelöst, indem sie ignoriert werden. Aktiv sein oder bleiben war für mich immer wesentlich für mein Verständnis von Problemlösung!

Ein kleiner Teil von dem, wie damals die angeklagte Kollegin mit diesem Druck umgegangen ist, war mir deshalb seinerzeit total unverständlich: Sie machte zeitweise auf mich den Eindruck, wie gelähmt zu sein. Heute leiste ich an der Stelle Abbitte: Nachdem diese Geburt mit dem tödlichen Ausgang passiert ist, war ich wie paralysiert – für einfachste Sachen, wie das Abtippen des handschriftlichen Geburtsprotokolls, brauchte ich Unterstützung. Ich erkenne mich nicht wieder. Das hätte ich niemals für möglich gehalten, dass es etwas geben könnte, was mich derart lähmt, und ich ahne heute, wie es der Kollegin damals gegangen sein mag.

Auf der anderen Seite ist das Bedürfnis groß, nach allem zu suchen, was erklären kann, warum das passiert ist, was passiert ist – und dass es keine Fahrlässigkeit war, die dazu geführt hat, dass ein Mensch gestorben ist. Und so sitze ich nachts stundenlang im Bett mit dem aufgeklappten Laptop und wühle mich durch alle möglichen Studien in den medizinischen Datenbanken.

In dubio pro reo?

In unserer Gesellschaft ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass bei einer Geburt nicht gestorben werden darf. Und wenn doch, muss es eine:n Schuldige:n geben, der oder die dafür verantwortlich ist – denn die allgegenwärtige Technik in der Geburtsmedizin scheint ja eine Garantie dafür zu sein, dass niemand zu Schaden kommen kann. Dass es aber immer – auch noch in tausend Jahren – Situationen geben wird, die wir nicht »in der Hand« haben, davon ist nirgends die Rede. Obwohl alle wissen, dass es so ist.

Und wenn wir ganz ehrlich sind: Haben wir nicht auch schnell den Gedanken bei der Hand, wenn etwas »passiert«, dass da jemand falsch gehandelt haben muss? Ich zumindest kann mich davon auch nicht freisprechen.

Wenn ich das Verfahren gegen die Kollegin seinerzeit nicht sehr nah verfolgt hätte, würde ich vielleicht ein bisschen ruhiger schlafen. Denn es gilt ja in einem Rechtsstaat »In Dubio pro reo«: im Zweifel für den oder die Angeklagte:n. Aber diese Wahrnehmung ist mir abhanden gekommen. Und wenn mir in der aktuellen Situation jemand sagen würde, »Na, wenn du nichts falsch gemacht hast, dann hast du ja nichts zu befürchten« – ich glaube, dann müsste ich sehr tief durchatmen, um nicht außer Kontrolle zu geraten.

Und so wird es bis zum Tag der Urteilsverkündung sein: Ich werde schlecht schlafen und mich fürchten…


Hinweis: Die Autorin möchte anonym bleiben. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.


Zitiervorlage
Anonym (2023). Angst. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (5), 24–25.
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